Das deutsche Jahr - Einblicke in die Wiedervereinigung 1989/1990. Claus J. Duisberg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Claus J. Duisberg
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9788726264821
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noch anderswo vorbereitet worden sei.

      Minister Seiters erwiderte darauf in gleicher Weise wie ich am Vortage und fragte, wem denn gedient worden wäre, wenn Bilder von einer Massenansammlung vor unserer Botschaft in Prag und von Zusammenstößen mit der Polizei um die Welt gegangen wären. Die DDR müsse zur Kenntnis nehmen, daß nicht wir das Problem geschaffen hätten. Es liege nicht an uns, daß die Menschen in großen Scharen die DDR verlassen wollten; auch uns bedrücke diese Situation, wir hätten sie aber nicht heraufbeschworen. Alle Welt wisse, wo die wahren Ursachen lägen. Andererseits könne auch die DDR kein Interesse daran haben, daß sich die Lage wieder so zuspitze wie in der vorhergehenden Woche. Seiters bat daher dringlich, die Möglichkeit einer Anschlußregelung zu prüfen. Neubauer erklärte dazu, es gäbe die jetzige Situation nicht, wenn jede Seite sich an die Absprache gehalten hätte. Die DDR habe ihre Verpflichtungen erfüllt; wir dagegen hätten das nicht getan. Die Aktion vom Wochenende sei ein einmaliger humanitärer Akt gewesen, der nicht wiederholt werden könne 30 .

      Diese Position konnte die DDR freilich nicht durchhalten. Inzwischen wurde sie nämlich auch von der tschechoslowakischen Regierung unter Druck gesetzt, für die der anhaltende Zustrom von Flüchtlingen aus der DDR und Menschenansammlungen vor und in unserer Botschaft auch ein eigenes Problem wurden. Am Nachmittag des 3. Oktober bat Neubauer kurzfristig und dringlich um einen Termin bei Minister Seiters und erklärte auf Weisung seiner Regierung, die Haltung der Bundesrepublik Deutschland und die Nichtbeachtung von getroffenen Absprachen hätten dazu geführt, daß erneut eine große Zahl von DDR-Bürgern sich widerrechtlich in der Botschaft in Prag aufhalte. Da darunter zahlreiche Kinder und Kleinstkinder seien, habe die Regierung der DDR aus humanitären Gründen beschlossen, diese Personen in die Bundesrepublik Deutschland auszuweisen. Sie würden in Zügen der Deutschen Reichsbahn in gleicher Weise wie am 1. Oktober in die Bundesrepublik gebracht. Der erste Zug werde noch am selben Abend um 20.00 Uhr in Prag bereitstehen.

      Etwa gleichzeitig telefonierte der Bundeskanzler mit dem tschechoslowakischen Ministerpräsidenten Adamec, der ihm sagte, daß sich an diesem Tag nachmittags 6000 Flüchtlinge aus der DDR in unserer Botschaft aufhielten, weitere 2000 in der Umgebung. Außerdem seien 3000 bis 4000 DDR-Bürger auf dem Weg nach Prag. Zusammen handele es sich um 10 000 bis 11 000 Menschen. Mit der DDR sei vereinbart, daß sie am Abend oder in der Nacht in gleicher Weise wie am voraufgegangenen Wochenende in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen könnten. Die tschechoslowakische Regierung wolle das am Abend auch bekanntgeben 31 .

      Auch die Bundesregierung gab daraufhin eine entsprechende Mitteilung an die Presse. Am Abend zeigte sich jedoch, daß in Prag weder Züge noch Busse für die Fahrt zum Bahnhof bereitstanden. Damit begann eine Nacht nahezu pausenloser Telefonate mit unserer Botschaft in Prag, der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn, unserer Ständigen Vertretung in Berlin und der tschechoslowakischen Botschaft in Bonn. Angeblich gab es technische Probleme. Von tschechischer Seite hieß es, die DDR lasse bereitstehende Züge nicht durchfahren.

      Bis zum nächsten Morgen war noch kein Transport abgegangen. Da Neubauer sich verleugnen ließ, bestellte ich in aller Frühe seinen Vertreter Glienke ein und verlangte unter Hinweis auf die akuten Gefahren für Gesundheit und Sicherheit der betroffenen Menschen, nun unverzüglich die Voraussetzungen für die Ausreiseaktion zu schaffen und uns mitzuteilen, wann der erste Zug fahren könne. Bis zum Mittag war die Ständige Vertretung der DDR jedoch zu einer Antwort nicht in der Lage. Auch Bertele, der sich bereits in der Nacht über den Bereitschaftsdienst an das Außenministerium der DDR gewandt hatte, erhielt keine Auskunft.

      Minister Seiters telefonierte am 4. Oktober um 9.00 Uhr mit dem Leiter der Außenabteilung beim Präsidium der Tschechoslowakei, Soukop, der ihm erklärte, die am Vortag mit der DDR vereinbarte Regelung gelte nach seiner Kenntnis weiter. Die DDR habe bereits gestern eine feste Zusage gegeben, noch am selben Tag Züge bereitzustellen. Die tschechoslowakische Regierung werde jetzt DDR-Ministerpräsident Stoph noch einmal um eine Stellungnahme bitten. Mittags teilte Soukop dann mit, daß der erste Zug in Kürze in die Tschechoslowakei einfahren und um 17.00 Uhr wieder abfahren könne. Eine Stunde später wurde mir das von Neubauer bestätigt. Er forderte zugleich, daß die Bundesregierung endlich Maßnahmen treffe, um Botschaftsbesetzungen zu verhindern. Um 15.00 Uhr kam er noch einmal zu Minister Seiters und teilte mit, daß insgesamt zehn Züge vorgesehen seien, die voraussichtlich im Stundentakt fahren könnten. Neubauer wiederholte seine Forderung nach Schließung unserer Botschaften, wozu Seiters auf unsere mehrfach erklärte Position verwies. Auf unsere Frage, was mit den Menschen in der Botschaft Warschau geschehen sollte, konnte Neubauer nichts sagen, unterrichtete mich aber am folgenden Tag telefonisch, daß die DDR entschieden habe, diese Leute in gleicher Weise über das Territorium der DDR auszuweisen. Am 4. und 5. Oktober reisten dann rund 10 000 Flüchtlinge aus Prag und am 5. Oktober noch einmal etwa 600 Flüchtlinge aus Warschau über die DDR in die Bundesrepublik Deutschland 32 .

      Schon am Vormittag des 4. Oktober hatten wir erfahren, was der wahre Grund für die angeblich technisch bedingte Verzögerung war: In Hof ankommende Reisende hatten berichtet, daß sich entlang der Strecke große Menschenmengen angesammelt hätten. Überall müßten Sicherheitskräfte eingesetzt werden, um Gleise und Bahnhöfe von Menschen zu räumen, die für Ausreisefreiheit demonstrierten oder auch unmittelbar auf die Züge aufspringen wollten. Vor dem Dresdner Hauptbahnhof sammelten sich mehr als 3000 Menschen, bis sie von Polizei und Staatssicherheit rücksichtslos zusammengeschlagen wurden. Auch in Magdeburg wurde eine Demonstration mit brutaler Gewalt aufgelöst; zahlreiche Demonstranten wurden festgenommen.

      Daß es zu solchen Demonstrationen kommen würde, hätte die DDR-Regierung leicht voraussehen und möglicherweise auch vermeiden können, wenn sie der Ausreise der Botschaftsflüchtlinge aus Prag unmittelbar in das Bundesgebiet zugestimmt hätte. Die von Honecker persönlich getroffene Entscheidung, die Transporte über DDR-Gebiet zu leiten, war nur durch das krankhafte, aus dem Bewußtsein der Minderwertigkeit gespeiste Souveränitätsbedürfnis zu erklären: Die DDR konnte es mit ihrem Selbstverständnis nicht vereinbaren, daß ihre Bürger auf eigenen Wegen und ohne behördliche Zustimmung dem Land den Rücken kehrten; wenn sie schon ihren Staat verließen, so sollte dies aufgrund einer souveränen Entscheidung der DDR selbst geschehen. Dementsprechend wurde die Aktion in offiziellen Verlautbarungen der DDR-Regierung auch stets als »Ausweisung« bezeichnet.

      In den folgenden Wochen, besonders während der Herbstferien, kamen erneut zahlreiche Flüchtlinge über Ungarn in den Westen. Obwohl die DDR den sichtvermerksfreien Reiseverkehr in die Tschechoslowakei zeitweise suspendierte, sammelten sich Flüchtlinge auch wieder in der Botschaft Prag, außerdem in Warschau. Die Fälle wurden teils aufgrund der weiter geltenden Zusage von Rechtsanwalt Vogel gelöst, teils erhielten die Flüchtlinge nun auch von den DDR-Vertretungen Ausreisepapiere. Als sich Anfang November in der Botschaft Prag mit dem Andrang von über 2000 Flüchtlingen erneut eine kritische Situation ergab, stimmte die DDR schließlich auch zu, daß die Flüchtlinge unmittelbar über die deutsch-tschechische Grenze in den Westen reisten. Zu spektakulären Aktionen kam es nicht mehr. Der Schwerpunkt der Entwicklung verlagerte sich von der Peripherie ins Zentrum.

      3.KAPITEL

       DIE WENDE

      Die Opposition formiert sich

      Eine wachsende Zahl von Menschen wollte die DDR nicht verlassen, sondern sie von innen verändern. Es ging ihnen um Freiheits- und Bürgerrechte, um Mitbestimmung und einen Staat mit menschlichen Zügen. Die oppositionellen Kräfte, die bisher verstreut und im verborgenen oder unter dem Dach der Kirche agiert hatten, formierten sich und traten aus dem Schatten hinaus an die Öffentlichkeit.

      Auf Initiative der Malerin Bärbel Bohley und des Biologen Jens Reich sowie anderer Oppositioneller traf sich am 9. September in Grünheide bei Berlin eine Gruppe zur Unterzeichnung eines Gründungsaufrufs für ein »Neues Forum«, der mit dem Satz begann: »In unserem Lande ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört«, und ohne konkrete, im engeren Sinne politische Aussagen den Wunsch nach Gerechtigkeit, Demokratie, Frieden sowie Bewahrung der Natur artikulierte. Angestrebt wurde eine Gesellschaft »freier, selbstbewußter Menschen, die doch gemeinschaftsbewußt handeln«. Bärbel Bohley und Jutta Speidel beantragten in aller Form beim Innenministerium der DDR die Zulassung des