Das deutsche Jahr - Einblicke in die Wiedervereinigung 1989/1990. Claus J. Duisberg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Claus J. Duisberg
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9788726264821
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bestimmte Personen hergestellt, Begegnungen auch gegenüber sonstigen Vertretern der DDR abgeschirmt werden. Als ich ihn einmal 1988 zum Abschluß von Verhandlungen aufsuchen mußte, erhielt ich kurz vorher die Beschreibung eines Wagens (es war ein BMW der Luxusklasse), der zu einer bestimmten Zeit vor meinem West-Berliner Hotel wenige Minuten auf mich warten würde und der mich dann auch ohne Anhalten und Kontrollen durch die sich wie von Geisterhänden öffnenden Schranken des Übergangs an der Invalidenstraße nach Ost-Berlin und später ebenso wieder zurückbrachte.

      Am Flughafen Köln-Bonn hatten wir mit einiger Mühe ein besonderes Verfahren entwickelt, bei dem einer meiner Mitarbeiter Schalck unmittelbar an der Maschine in Empfang nahm und unter Umgehung aller Kontrollen ins Bundeskanzleramt brachte. Am 24. Oktober holte ich Schalck allerdings selbst ab und fuhr mit ihm ins Innenministerium. Auf der Fahrt und später auch auf dem Rückweg schilderte er mir bereits in aller Breite die sich dramatisch verschlechternde wirtschaftliche Lage der DDR. Im Gespräch mit Schäuble und Seiters wurde er noch deutlicher: Ohne eine Liquiditätshilfe von 8 bis 10 Mrd. DM in Form ungebundener Finanzkredite und einer massiven Beteiligung an den Kosten für die Westreisen würde die DDR in Kürze das Ende ihrer Möglichkeiten erreichen.

      Schalck stellte andererseits die Freigabe der Reisen, zusätzliche Leitungen im Telefonverkehr und die Entwicklung einer umfassenden Zusammenarbeit auf sämtlichen Ebenen in Aussicht. Im übrigen warb er um Vertrauen für Krenz, der jetzt dem Kurs von Gorbatschow folgen wolle, sich allerdings nicht an den Modellen Ungarns und Polens orientieren werde. Beabsichtigt seien zunächst – neben der Einführung völliger Reisefreiheit – eine Amnestie für Republikflüchtige sowie der Abbau der Privilegien für die Nomenklatura. Insgesamt brauchten die Reformen jedoch Zeit und sollten jedenfalls nicht den Sozialismus und die führende Rolle der SED in Frage stellen; eine pluralistische Entwicklung mit Zulassung von Oppositionsparteien, wie SDP und Neues Forum, komme nicht in Betracht.

      Zwei Wochen später, am 6. November, war Schalck erneut in Bonn und warb bei Seiters und Schäuble wieder um wirtschaftliche Unterstützung, wofür er eine breit angelegte Zusammenarbeit, Liberalisierung des Reiseverkehrs und Entgegenkommen in anderen Bereichen in Aussicht stellte. Im Gespräch mit Schäuble zeichnete Schalck diesmal freilich ein noch düstereres Bild von der wirtschaftlichen und politischen Lage der DDR und ließ deutlich erkennen, daß die Führung jetzt selbst damit rechnete, die Macht nur noch für eine Übergangszeit halten und sich auf Dauer freien Wahlen unter Zulassung neuer Parteien nicht widersetzen zu können. Schalck, der allzuviel wußte und wohl auch leicht für vieles verantwortlich gemacht werden konnte, fürchtete dabei zugleich um seine eigene Sicherheit; denn er fragte Schäuble auch, ob er selbst nötigenfalls in der Bundesrepublik Schutz finden könnte.

      Die Sondierungen von Schalck eröffneten für die Bundesregierung jedenfalls die Möglichkeit, auf die interne Entwicklung in der DDR in der Phase des Umbruchs Einfluß zu nehmen. Nach Rücksprache mit dem Bundeskanzler ließ Seiters Schalck am 7. November telefonisch wissen, daß die Bundesregierung zu einem konstruktiven Dialog bereit sei, falls die DDR-Führung ihrerseits den Weg echter Reformen gehen wolle. In die Erklärung des Bundeskanzlers zur Lage der Nation am nächsten Tag wurde folgende Passage aufgenommen:

      »Ich erkläre gegenüber der neuen DDR-Führung meine Bereitschaft, einen Weg des Wandels zu stützen, wenn sie zu Reformen bereit ist. Kosmetische Korrekturen genügen nicht. Wir wollen nicht unhaltbar gewordene Zustände stabilisieren. Aber wir sind zu umfassender Hilfe bereit, wenn eine grundlegende Reform der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der DDR verbindlich festgelegt wird. Die SED muß auf ihr Machtmonopol verzichten, muß unabhängige Parteien zulassen und freie Wahlen verbindlich zusichern. Unter dieser Voraussetzung bin ich auch bereit, über eine völlig neue Dimension unserer wirtschaftlichen Hilfe zu sprechen.« 35

      4. KAPITEL

       DIE DDR ÖFFNET SICH

      Wachsende Unruhe

      Wie erwartet, beruhigte sich die Lage in der DDR nach dem Wechsel an der Spitze nicht. Die Bürgerbewegung sah den Rücktritt Honeckers vielmehr als ersten Erfolg und fühlte sich ermutigt, ihre Forderungen mit zusätzlichem Nachdruck zu erheben. Vertreter der Kirchen, gesellschaftlicher Organisationen und schließlich auch die Blockparteien schlossen sich an.

      Bereits am 19. Oktober forderte der katholische Bischof von Berlin, Georg Sterzinsky, freie Wahlen in der DDR. Einen Tag später stellte der evangelische Landesbischof Johannes Hempel vor der Synode der sächsischen Landeskirche in Dresden offen den Führungsanspruch der SED in Frage. Am Abend vor der Wahl von Krenz zum Staatsratsvorsitzenden fanden sich in Leipzig über 100 000, nach manchen Schätzungen fast 300 000 Menschen zusammen, die für freie Wahlen und gegen eine neue Machtkonzentration demonstrierten. Nach der – im Gegensatz zu früher mit Gegenstimmen und Enthaltungen erfolgten – Wahl kam es in Berlin und anderen Orten zu Protestdemonstrationen gegen Krenz. Die Blockparteien versuchten, ebenfalls auf Distanz zum bisherigen System und zu ihrer eigenen Vergangenheit zu gehen. Die Liberaldemokratische Partei (LDPD) forderte in einem Papier, das am 22. Oktober bekannt wurde, die Zulassung des »Neuen Forums«; und die DDR-CDU veröffentlichte am 28. Oktober ein Diskussionspapier, in dem unter anderem freie und geheime Wahlen verlangt wurden. Schließlich sogar bat am 4. November das DDR-Fernsehen unter Eingeständnis seiner Mitverantwortung für die früheren Verhältnisse die Bevölkerung ausdrücklich um Entschuldigung.

      Partei und Regierung versuchten zunächst, den Druck mit Einzelmaßnahmen aufzufangen, gerieten aber zunehmend in die Defensive und wichen schließlich auf breiter Front zurück. Zahlreiche führende Funktionäre wurden von ihren Posten entbunden, und am 7. November trat erst die Regierung, dann am 8. November das Politbüro der SED geschlossen zurück. In den Vordergrund traten stattdessen Personen, die den Dialog mit der Bürgerbewegung nicht scheuten und sich bereit zeigten, den Weg der Veränderung zu gehen. Prominenz erlangten der Dresdener Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer, der sich schon frühzeitig, erstmals am 16. Oktober, den Bürgerrechtsgruppen zum Gespräch gestellt hatte, und Hans Modrow, Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung in Dresden, dem der Ruf reformerischer Neigungen sowie persönlicher Integrität und Bescheidenheit vorausging und der auf der Sitzung des Zentralkomitees am 8. November zum neuen Ministerpräsidenten bestimmt wurde.

      In Berlin verkündete Günter Schabowski, Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung und im Politbüro jetzt für Informationswesen und Medienpolitik zuständig, am 29. Oktober bei einer Bürgerdiskussion vor dem Rathaus, daß Demonstrationen künftig auch in Berlin zur politischen Kultur gehören sollten. Wie zur Bestätigung versammelten sich darauf am 4. November rund eine halbe Million Menschen auf dem Alexanderplatz zu der bis dahin größten freien Kundgebung, die – ein weiteres Novum – vollständig vom DDR-Fernsehen übertragen wurde. Eingeladen hatten die Künstlerverbände der DDR; Redner waren vor allem Schriftsteller, darunter Christa Wolf und Stefan Heym, aber auch Funktionäre der SED, insbesondere Schabowski und bemerkenswerterweise der ehemalige Leiter der Hauptabteilung Aufklärung im Staatssicherheitsdienst Markus Wolf. Während die Funktionäre vielfach ausgepfiffen wurden, artikulierte Stefan Heym das neue Selbstbewußtsein, indem er vom aufrechten Gang sprach, den die Menschen in der DDR wieder lernen müßten. Gefordert wurde eine neue, bessere DDR, ein Staat mit menschlichem Gesicht sowie Freiheit und Demokratie bei sozialer Gerechtigkeit. In den folgenden Tagen unterzeichneten Künstler und Mitglieder von Oppositionsgruppen einen Appell, den Christa Wolf am 8. November im Fernsehen verlas und in dem alle aufgefordert wurden, in der DDR zu bleiben und beim Aufbau einer »wahrhaft demokratischen Gesellschaft« zu helfen. Weitgehend die gleichen Kreise veröffentlichten am 26. November einen Aufruf »Für unser Land«, in dem für die Eigenständigkeit der DDR und die Entwicklung einer solidarischen Gesellschaft mit sozialer Gerechtigkeit, Freiheit des einzelnen, Freizügigkeit und Bewahrung der Umwelt geworben und vor einem Ausverkauf der materiellen und moralischen Werte der DDR und Vereinnahmung durch die Bundesrepublik gewarnt wurde.

      Die Mauer fällt

      Ein bestimmendes Thema blieb aber nach wie vor die Reiseund Ausreisefrage. Die Zahl derjenigen, die diesen Staat auf immer verlassen wollten, wurde nicht kleiner, sondern nahm eher noch zu. Bereits am 19. Oktober, einen Tag nach Honeckers Sturz, war der Innenminister beauftragt