Das deutsche Jahr - Einblicke in die Wiedervereinigung 1989/1990. Claus J. Duisberg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Claus J. Duisberg
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9788726264821
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sechs Monate ausreisen zu können, wenn sie zunächst in ihre Heimatorte zurückkehrten. Doch nur 200 Flüchtlinge wollten sich darauf einlassen und stiegen in die bereitgestellten Busse. Die anderen wollten Vogel nicht einmal anhören, ja, er wurde zuletzt regelrecht niedergeschrieen. Für den so selbstgewissen Mann, der gewohnt war, daß alle Verfolgten der DDR ihre Hoffnungen auf ihn setzten, muß dies eine niederschmetternde Erfahrung gewesen sein. Bertele erzählte mir später, Vogel sei völlig verzweifelt gewesen und habe ernsthaft erwogen, alles aufzugeben. Zwei Tage später in Warschau war es fast noch ärger: Nur 50 Leute gingen auf sein Angebot ein, obwohl er hier die Ausreise schon in wenigen Wochen sowie die Mitnahme von Angehörigen und Umzugsgut in Aussicht stellte. Der Zauber war gebrochen; die Gebannten waren immun geworden. Vogel mag hier gespürt haben, daß nun auch seine Zeit auslief.

      Der Druck zu einer Lösung der Probleme in Prag und Warschau nahm unterdessen auf beiden Seiten zu. Besonders in der Botschaft Prag wurden die Lebensbedingungen zunehmend bedrängender, die hygienischen Verhältnisse waren kaum noch vertretbar; niemand wußte, was wir bei einem vorzeitigen Kälteeinbruch tun sollten. Auf der anderen Seite bereitete die DDR aufwendige Feiern zum 40. Jahrestages ihrer Gründung am 7. Oktober vor, zu denen Bilder von Flüchtlingen, die in westdeutschen Botschaften eingepfercht waren, schlecht passen wollten. Wir erwarteten deshalb, daß die DDR versuchen würde, die Lage vorher zu bereinigen. Am Rande der Generalversammlung der Vereinten Nationen führte Außenminister Genscher in New York Gespräche mit dem tschechoslowakischen Außenminister, der aber auf die Zuständigkeit der DDR verwies, und mit DDR-Außenminister Fischer, der unbeweglich blieb. Genscher gelang es jedoch, den sowjetischen Außenminister Schewardnadse zu beeindrucken, wobei die humanitären Gesichtspunkte, aber auch sowjetisches Eigeninteresse eine wichtige Rolle spielten. Das sich zu einem internationalen Skandal entwickelnde Problem ihres wichtigsten Verbündeten war geeignet, auch das Ansehen der Sowjetunion selbst zu belasten, zumal Gorbatschow in wenigen Tagen als Ehrengast zu den Ost-Berliner Jubelfeiern reisen sollte.

      Nicht zuletzt auf sowjetisches Drängen lenkte die DDR schließlich ein. Am Morgen des 30. September, eines Samstags, überbrachte der Ständige Vertreter der DDR, Neubauer, Minister Seiters im Bundeskanzleramt das Angebot, in der folgenden Nacht Züge nach Prag und Warschau zu schicken, um alle Botschaftsflüchtlinge in die Bundesrepublik Deutschland zu befördern, allerdings über das Gebiet der DDR. Zugesichert wurde, daß keine Kontrolle erfolgen sollte außer zur Feststellung der Identität und der Abgabe der Personalpapiere der DDR; gleichzeitig sollten Ausreisedokumente ausgegeben werden. Die DDR gehe im übrigen davon aus, daß die Ausreise unter völliger Diskretion ohne jede öffentliche Propaganda erfolge und daß nach dem Modell der Ständigen Vertretung in Berlin die Botschaften danach geschlossen blieben.

      Auf Nachfrage präzisierte Neubauer, der Verzicht auf Kontrolle bedeute freies Geleit. Er stimmte auch zu, daß Vertreter der Bundesregierung die einzelnen Zugtransporte begleiten könnten. Außenminister Genscher, der an dem Gespräch teilnahm, hatte betont, daß es gelte, bei den Flüchtlingen selbst um Vertrauen in die angebotene Lösung zu werben, und daß er und Minister Seiters deshalb in Prag mit ihnen sprechen und auch die Züge begleiten müßten. Zur Anwendung des von Neubauer so bezeichneten »Berliner Modells« erklärte Genscher aber gleich, daß die Bundesregierung mit der DDR keine Vereinbarung über ihre Vertretungen in Drittstaaten treffen könne.

      Nach Abstimmung mit dem Bundeskanzler bestätigte Seiters, daß die Bundesregierung zu der Aktion bereit sei, allerdings keine Gewähr für den Erfolg übernehmen könne; dies gelte besonders für Warschau. Er und Genscher würden in Prag mit den Flüchtlingen sprechen, um Vertrauen werben und auch die Zugtransporte begleiten. Als weitere Begleiter wurden Staatssekretär Priesnitz, die Ministerialdirektoren Kastrup und Jansen vom Auswärtigen Amt sowie der Büroleiter von Genscher, Elbe, und ich benannt. Staatssekretär Sudhoff und Staatssekretär Bertele sollten in Warschau mit den Zufluchtsuchenden sprechen.

      Wenige Stunden später waren wir in einem Flugzeug der Luftwaffe nach Prag unterwegs. Der Himmel war verhangen, und es dämmerte bereits, als wir vom Flugplatz hinunter in die Stadt zur Botschaft fuhren. Unsere Botschaft, das Palais Lobkowitz, glich einer eingeschlossenen Stadt. Ich hatte das Gefühl, noch nie so viele Menschen auf begrenztem Raum zusammen gesehen zu haben. Wohin man schaute, waren Menschen – Männer, Frauen, Kinder. Sie standen, saßen, hockten in den Hallen, Gängen und Sälen. Auf der breiten Barocktreppe konnte man kaum beide Füße nebeneinander setzen – rechts und links lagerten Menschen. In der Durchfahrt, auf den Gängen, wo immer sich Platz fand, waren dreistöckige Betten aufgeschlagen, aus denen uns erwartungsvolle Augen ansahen. Der große Garten war ein Zeltlager mit mehreren tausend Bewohnern. Die Zelte standen so gedrängt, daß in den Gassen gerade Raum war für die Halterungen. Es herrschte kein Lärm, aber auch nicht Ruhe; alles schien in ständig murmelnder Bewegung.

      Eine Oase der Abgeschiedenheit und Stille waren allein die Privaträume des Botschafters im obersten Stockwerk. Hermann Huber und seine Frau waren wochenlang der Bedrängung durch immer mehr Menschen ausgesetzt gewesen und hatten zusammen mit den Mitarbeitern der Botschaft in unermüdlichem Einsatz, mit Entschiedenheit und obendrein Humor das Leben dieser Zufallsgemeinschaft notdürftig zu regeln versucht und den Menschen Halt gegeben. Es war menschlich wie organisatorisch eine großartige Leistung, die dem deutschen Auswärtigen Dienst zur Ehre gereichte. Daß es ihnen gelungen war, ihren privaten Bereich intakt zu halten, habe ich zusätzlich bewundert.

      Zunächst erfuhren wir, daß Neubauer sich im Bundeskanzleramt bei Manfred Speck, dem persönlichen Referenten von Minister Seiters, gemeldet und mitgeteilt hatte, daß die Züge am selben Abend um 21.00 Uhr, 23.00 Uhr und 1.00 Uhr abfahren und jeweils eine Stunde vorher bereitgestellt werden sollten; ein vierter Zug werde in Reserve gehalten. Es bestünden keine Bedenken, wenn leitende Beamte die Züge begleiteten, eine Begleitung durch die Minister sei jedoch nicht möglich. Mit einiger Mühe gelang es mir, Neubauer telefonisch in Bonn zu erreichen, und Seiters erklärte ihm, die Ablehnung der Mitreise von Ministern stelle einen Bruch der Absprache dar. Die Begleitung sei ein wichtiges Element für die Vertrauensbildung und deshalb auch eine der Grundlagen für die Entscheidung des Bundeskanzlers gewesen. Neubauer behauptete, es sei nur von einer Begleitperson die Rede gewesen. Seiters bestand auf Überprüfung der Entscheidung. In einem weiteren Telefongespräch eine halbe Stunde später erklärte Neubauer jedoch, es müsse bei der getroffenen Entscheidung bleiben – die Minister könnten nicht mitreisen. Seiters wiederholte, daß dies der Absprache widerspreche; wir würden dennoch unser Bestes für den Erfolg der Operation tun, aber wenn es Probleme gebe, liege die Verantwortung allein bei der DDR.

      Nun war jedenfalls der Zeitpunkt gekommen, zu den Flüchtlingen zu sprechen. Wir gingen alle hinaus auf einen Balkon an der Gartenseite, wo ein Mikrophon mit Lautsprecheranschluß installiert war. Unten die Zeltstadt, jenseits des Gartens an einem Hang Batterien von Fernsehkameras und Scheinwerfern, die Zelte und Menschen in ein fahles Licht tauchten. Tausende von bleichen Gesichtern schauten zu uns herauf, die Spannung zitterte fühlbar und machte sich in skandierten Rufen »Genscher, Genscher!« Luft. Genscher sagte: »Liebe Landsleute, wir sind gekommen, um Ihnen mitzuteilen, daß heute Ihre Ausreise in die Bundesrepublik...« Seine weiteren Worte gingen unter in einem aus der Tiefe kommenden, fast animalischen Schrei, in dem sich alles auf einmal entlud: Verzweiflung, Angst, die Bedrückung des Lagerlebens und ungeheure Erleichterung, daß es nun – endlich! – in das gelobte Land gehen sollte. Es war unheimlich und bewegend zugleich. Uns allen standen Tränen in den Augen. Erst nach geraumer Zeit und erneuten »Genscher, Genscher«-Rufen wurde es etwas ruhiger, so daß Genscher weitersprechen und das Nötige zum Ablauf des Transports sagen konnte.

      Anschließend beim Gang durchs Gebäude überall freudige Erregung, Nachfragen, auch immer wieder Worte des Dankes an die Minister. Genscher wäre nicht gewesen, was er ist, wenn er nicht sofort vor der Botschaft dem deutschen Fernsehen ein Interview gegeben hätte, in dem er unter Hinweis auf seine vorangegangenen Gespräche in New York für sich das Hauptverdienst an dem Ergebnis in Anspruch nahm. Die Nachrichten waren aber nun ohnehin schon in der Welt.

      Danach trafen wir uns wieder bei Hubers, von wo man oben die erleuchteten Gebäude des Hradschin, das Palais Starhemberg und die Türme des Veits-Doms sehen konnte und unten die ersten Grüppchen von Flüchtlingen, die durch die kleine Gasse stadteinwärts gingen, wo an einem Platz die Busse warteten,