Das deutsche Jahr - Einblicke in die Wiedervereinigung 1989/1990. Claus J. Duisberg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Claus J. Duisberg
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9788726264821
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die Bundesregierung könne und wolle sich insoweit zu nichts verpflichten. Die zwischen uns und der DDR geführten Gespräche bezögen sich im übrigen ausschließlich auf die Personen, die sich jetzt in unserer Vertretung aufhielten, nicht auf andere 23 .

      Ein Riß in der Mauer

      Letzteres war von Bedeutung, weil der entscheidende Zug in Kürze von ganz anderer Seite kommen sollte. Am 22. August hatte die ungarische Regierung intern entschieden, das Flüchtlingsproblem durch Öffnung der Grenze zu lösen; am 25. August trafen der ungarische Ministerpräsident Miklós Németh und Außenminister Gyula Horn kurzfristig und unter großer Geheimhaltung mit Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher auf Schloß Gymnich bei Bonn zusammen, um darüber zu sprechen 24 . Drei Tage später verlautete aus dem Außenministerium in Budapest, wo inzwischen über 1400 Deutsche aus der DDR in Auffanglagern auf eine Ausreisemöglichkeit warteten, das Problem werde in kurzer Zeit geregelt werden. Die DDR zeigte sich aufs höchste beunruhigt, und auf ihre dringliche Bitte kam der ungarische Außenminister am 31. August nach Berlin zu einem Gespräch mit DDR-Außenminister Fischer, das jedoch offensichtlich nicht in gegenseitigem Einvernehmen verlief. Die DDR pochte hinsichtlich der Flüchtlinge auf strikte Einhaltung der vertraglichen Verpflichtungen durch Ungarn; Fischer behauptete außerdem wahrheitswidrig, daß es bereits eine Einigung mit der Bundesregierung gebe. Horn verwies demgegenüber auf die besondere Lage und die menschenrechtlichen Verpflichtungen sowie die humanitäre politische Praxis der ungarischen Regierung.

      In den folgenden Tagen wuchs die Zahl der ausreisewilligen DDR-Deutschen in Ungarn dramatisch auf mehrere Tausend an. Die DDR eröffnete bei dem Flüchtlingslager eine Beratungsstelle, die die Menschen zur Rückkehr in ihre Heimat bewegen sollte, damit aber so gut wie keinen Erfolg hatte. In Bayern wurden bereits Zeltstädte für die Flüchtlinge errichtet.

      In dieser Lage ging es für die DDR nur noch um Gesichtswahrung. Am 4. September griff der Sprecher des DDR-Außenministeriums die Bundesregierung wegen ihrer Haltung gegenüber den Flüchtlingen in den Vertretungen an, und am 7. September protestierte der Leiter der Ständigen Vertretung der DDR, Horst Neubauer, bei Minister Seiters gegen die »widerrechtliche« Wahrnehmung von sogenannten Obhutspflichten gegenüber DDR-Bürgern und verlangte, daß die Bundesregierung ihre völkerrechtswidrigen Praktiken unverzüglich einstelle 25 . Fast gleichzeitig sprach Bertele im DDR-Außenministerium vor und verabredete ein Gespräch mit den Zufluchtsuchenden in der Ständigen Vertretung unter Beteiligung von Rechtsanwalt Vogel und Staatssekretär Priesnitz für den folgenden Tag. Vogel blieb dann zwar dabei, den Zufluchtsuchenden ausdrücklich nur Straffreiheit zuzusichern; seine indirekten Hinweise auf eine wahrscheinlich positive Behandlung der Ausreiseanliegen waren jedoch hinreichend deutlich und führten dazu, daß noch am selben Tag alle die Ständige Vertretung verließen. Da wir nicht sofort wieder mit dem gleichen Problem konfrontiert werden wollten, blieb die Ständige Vertretung vorerst für den Publikumsverkehr geschlossen, was offiziell mit Sanierungsund Umbauarbeiten begründet wurde, die in der Tat nach der Überbeanspruchung erforderlich geworden waren.

      Zwei Tage später, in der Nacht vom 10. auf den 11. September, öffnete Ungarn die Grenze nach Österreich und gestattete allen Flüchtlingen aus der DDR die Ausreise in den Westen. Nun war kein Halten mehr. Bis Ende September kamen über 25 000 Flüchtlinge auf diesem Weg nach Westdeutschland. Die DDR, die am 8. September von Ungarn vorab informiert worden war, hatte im letzten Augenblick noch versucht, die Einberufung des Außenministerrats des Warschauer Pakts zu erreichen, was der sowjetische Außenminister Schewardnadse aber ablehnte. So blieb ihr nur, am 12. September bei der ungarischen Regierung zu protestieren 26 ; die Nachrichtenagentur ADN und »Neues Deutschland« sprühten Gift, verhalten unterstützt von der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS. Ungarn berief sich demgegenüber auf eine grundlegende Veränderung der Umstände, die es zu der »zeitweiligen Aufhebung einzelner Punkte« des bilateralen Abkommens mit der DDR gezwungen habe 27 ; Ministerpräsident Németh erklärte, Ungarn habe »im Namen der Menschlichkeit« gehandelt.

      Die Entscheidung der ungarischen Regierung zeugte von außerordentlichem Mut. Denn Ungarn brach damit für die Welt sichtbar aus der sozialistischen Solidarität aus, während immerhin noch rund 100 000 gut bewaffnete sowjetische Soldaten auf seinem Territorium stationiert waren. Die Folgen waren weitreichend. Im Rückblick erscheint der 11. September 1989 als der historische Moment, der das Ende der DDR einleitete. Dieser Staat war ein Kunstprodukt, das nur in der Abgeschlossenheit stabil blieb. Ein Sprung in der Glasglocke, und der Zerfall war nicht mehr aufzuhalten.

      Prag

      Das einzige Land, in das DDR-Bürger ohne Paß und Visum reisen konnten, war die Tschechoslowakei. Reisen dorthin waren deshalb von jeher auch gelegentlich zu – meist vereitelten – Fluchtversuchen genutzt worden. Jetzt hofften viele, auf diesem Wege nach Ungarn kommen zu können. Aus innenpolitischen Gründen mochte die DDR die Grenze nicht schließen; sie veranlaßte aber die Tschechoslowakei zu verschärften Kontrollen an ihrer Grenze zu Ungarn; Reisepapiere für Ungarn wurden Fluchtverdächtigen womöglich schon in der DDR abgenommen. Die Folge war ein verstärkter Andrang auf unsere Botschaft in Prag, wo sich bis zum 19. September bereits über 500 Zufluchtsuchende angesammelt hatten. Ihre Zahl nahm täglich zu; wenn sie nicht durch die Tür eingelassen wurden 28 , kletterten sie – vor laufenden Fernsehkameras und von der tschechischen Miliz nur wenig behindert – über den Zaun. Zufluchtsuchende kamen ebenfalls in die Botschaft Warschau und wurden dort mit Duldung der polnischen Behörden außerhalb des Botschaftsgeländes in einem Priesterseminar untergebracht.

      Es gab Anzeichen, daß die polnische Regierung sich vielleicht ähnlich wie Ungarn dazu bereit finden könnte, die Flüchtlinge auch ohne Zustimmung der DDR ausreisen zu lassen. In Prag dagegen schien eine solche Lösung angesichts einer sehr rigiden Haltung der tschechischen Regierung vorerst ausgeschlossen, und da die Probleme dort für uns von Tag zu Tag bedrängender wurden, meinte die DDR, die Bundesregierung hier am ehesten zu einer einvernehmlichen Regelung bewegen zu können, die dann auch als Modell für Warschau dienen und einen weiteren Einbruch wie in Ungarn verhindern würde.

      Am 22. September kam deshalb Rechtsanwalt Vogel zu Minister Seiters. Er brachte eine Liste mit Namen von Personen mit, denen Anfang Oktober die Ausreise gestattet werden sollte, darunter die ersten der Zufluchtsuchenden aus der Ständigen Vertretung. Für die Flüchtlinge in den Botschaften Prag und Warschau stellte er bei freiwilliger Rückkehr eine Ausreisegenehmigung innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten, in Ausnahmefällen innerhalb eines Jahres in Aussicht. Er schlug dazu eine Vereinbarung in Form einer Niederschrift über von ihm, Vogel, sowie von Staatssekretär Priesnitz abzugebende Erklärungen vor. Er selbst könne erklären, daß für DDR-Bürger nach freiwilliger Rückkehr eine positive Lösung im regulären Ausreiseverfahren gefunden werde; zugleich spreche er die Erwartung der DDR aus, daß Wiederholungsfälle vermieden würden. Staatssekretär Priesnitz sollte erklären, daß in künftigen Zufluchtsfällen ausschließlich auf den Behörden- und Anwaltsweg verwiesen werde und daß im übrigen zu der Verabredung keine öffentliche Stellungnahme abgegeben werde; eine finanzielle Gegenleistung an die DDR stehe nicht zur Diskussion.

      Aus den bereits genannten Gründen konnten wir uns nicht darauf einlassen, Zusicherungen zu geben, wie sie Vogel offensichtlich anstrebte. Seiters würdigte deshalb zwar Vogels Bemühungen, bezeichnete eine Vereinbarung der vorgeschlagenen Art aber als problematisch. Letztlich komme es auch nicht auf die Bundesregierung an, sondern auf die Reaktion der Menschen. In Prag könnten Vertreter der Bundesregierung zwar sagen, daß es keine andere Lösung gebe, als auf das Angebot der DDR einzugehen; in Warschau sei das jedoch anders. Vogel insistierte, daß auch dort die »legale« Lösung auf jeden Fall die bessere sei, weil dann immer auch die Angehörigen und das ganze Umzugsgut mitgenommen werden könnten. Seiters blieb dabei, daß wir keine Vereinbarung treffen und in Warschau auch keine Erklärung mit dem von der DDR gewünschten Inhalt abgeben könnten. Vogels anfänglich zur Schau gestellter Optimismus verlor sich zusehends; er wirkte enttäuscht und betreten. Das einzige Ergebnis, das er schließlich mitnehmen konnte, war die Verabredung, daß er in den nächsten Tagen zuerst in Prag und dann in Warschau den Flüchtlingen selbst das Angebot der DDR vortragen könne.

      Am 26. September reiste Vogel nach Prag. In Anwesenheit