Der große Fluss im Meer. Hans Leip. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans Leip
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711467176
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      Vier bürgerliche Fackeln loderten über die bebende Jahrhundertwende: der Flame Erasmus, der Engländer More, der Deutsche Luther und der Schweizer Zwingli. Dazwischen taumelte der Ritterssohn Ulrich von Hutten wie ein in Brand geratener Helmbusch und Federwisch durch die aufgeregte Luft des Abendlandes. Nüchtern betrachtet gehören die genannten Gestalten alle dem Kaltfront-Typ an, und selbst Luthers spätere Fülligkeit darf da nicht täuschen. Sie sind keine Fernfahrer, keine Phantasten mit manischen Verzückungen und depressiven Hinfälligkeiten, sie sind unentwegte Ordner; ihr Reinlichkeitsbedürfnis, ihr Sinn für Klarheit ist aufs höchste entzündet, sie ertragen nicht mehr den Plunder und Unrat, der sich in den heimischen Belangen angehäuft hat. Sie sind keine Ausweicher und Auswanderer, sie sind – fanatischer als eine Hausfrau beim Großputz – Auskehrer und Aufräumer. Sie sind die ersten großen Aufklärer. Sie sind im Gegensatz zu den gewöhnlichen Entdeckern, die nach außen streben, die Entdecker nach innen, die Entdecker des Geistes.

      Namentlich Gerhard Gerhards, der zutiefst gelehrte Humanist aus Rotterdam, der sich Desiderius Erasmus nannte und sich in ganz Europa in der Wissenschaft umgesehen und das Neue Testament für den öffentlichen Gebrauch mit kritischen Erläuterungen herausgegeben hatte, für einen persönlichen schriftstellerischen Stil eintrat und alles, was an Philosophie seit dem Altertum in erreichbaren Quellen zu finden war, untersuchte, reinigte und mit eigener Erkenntnis darlegte, alles Muffige bekämpfend, allen Dogmenzwang, alle Mißbräuche und Dummheiten, namentlich er wirkte auf den jungen Ausreißer Hutten. Auch Luther hatte sich von dem Älteren entzünden lassen, war aber dann seine eigensten, eigenbrötlerischen Wege gegangen, allzusehr ins Orkanfeld der Epoche gebannt (wie denn Rechthaberei die gefährlichste Neigung aller K-Typen ist). Über die Auslegung des vagen Begriffs „Freier Wille“ geriet er mit Erasmus ins Unvereinbare. Erasmus aber hatte sich – der Klügste seines Jahrhunderts – weislich aus dem Zyklon ins „Windauge“ gerettet, nach Basel, und der Umstand, daß dort sein Drucker Froben wohnte, war das günstige Signal des Schicksals gewesen, das zu übersehen er hätte beschränkter sein müssen. Und im „ruhigen Kern der Turbulenz“ wuchs ein anderer auf, Zwingli, steckte kurz die Nase in den scharfen Luftzug nach Wien und lernte dann in Basel das Nötige aus Altem und Neuem, um zu wissen, daß die Ahnung von Gott keine Wissenschaft, sondern Sache des Herzens ist. Der atlantischen Erregung am nächsten hatte der mit Erasmus befreundete Thomas More in London das kritische Auge auf Europa geworfen. Und da die Neue Welt auftauchte, sah er mit Sorge, wie dort der Auswurf sich breitmachte, und er schrieb mahnend und weisend das Buch von der Insel „Utopia“ (1516). Ihm hat – nicht ohne die Staatsgedanken Platos – das Gemälde eines kommunistischen Idealstaates vorgeschwebt, darin auch ein Christentum jener Art zu finden ist, die Aussicht hat, sich über die Jahrhunderte hin durch alle Fährnisse zu retten. Er selber vermochte sich nicht zu retten. Als er im engsten Umkreis Ernst mit seiner Vorstellung menschlicher Anständigkeit zu machen trachtete und seinen König Heinrich VIII. in dessen Selbstherrlichkeiten nicht zu stützen gedachte, geriet er aufs Schafott.

      Ulrich von Hutten, ein kleiner, schmächtiger, blondbärtiger, scharfnäsiger Mensch, fand sich aufs höchste entflammt von den Leuchten seiner Zeit. Er hatte eigentlich das Zeug zum Lyriker, zum Minnesänger. Aber deren Tage waren verschollen. Jetzt briste es schärfer, jetzt galt es, Augiasställe zu fegen, die allzu weit im Winde stanken. So wurde er einer der schärfsten Angreifer und Spötter aller Fürstentyrannei, aller kalkigen Juristerei und des römischen Rechts, der Pfaffen und der Schulgelehrten. Und er schrieb gut deutsch, wurde ein rechter Ketzer und half den großen andern, Funken zu stieben und weiterzusengeln, und verdarb es doch schließlich mit allen. Und mit sich selber. Denn schlimmer als alle, die seines Blutes und seines Geistes waren, traf ihn die atlantische Geißel.

      Vagant und Empörer, Zweifler und Fanatiker, kaltfrontempfindlicher Hasser aller Ungerechtigkeit und Gefühlskälte. Irgendwo in Italien, mittellos von Universität zu Universität irrlichternd, schließt er sich, betrunken oder nicht, der Soldateska an, die von Karls V. Gnaden irgendwelche Schandtaten zu begehen hat. Aufgerührt und angewidert von den Prahlereien einiger, die „drüben“ was mitgemacht, die Seefahrt, Neue Welt, braune Weiber, Gold, Gier, Gemetzel und Urwald gekostet, sucht er Trost hinterm Marketenderzelt, wo der Hurenwaibel regiert und kein Feldscher ahnt, daß die zierliche Schlangenbrut Westindias schon Einzug gehalten hat in die willfährigen Schöße Europas.

      Man sagt, Hutten hätte – wie etwa Nietzsche – nur halb so mitreißend die moralische Peitsche zischen lassen, wenn sein Blut nicht selber gepeitscht worden wäre. Vielleicht hätte er sich genügen lassen an dem Lorbeerkranz, den des Humanisten Peutinger schöne Tochter zu Augsburg ihm geflochten und mit dem Kaiser Maximilian ihn zum Reichsdichter gekrönt. (Die Firma Fugger zahlte den Festschmaus.) Das war 1517, als an der Schloßkirche zu Wittenberg die Prosa eines neuen europäischen Hurrikans begann. Ulrich von Hutten ist unter den Geistigen und fern aller Küsten und groben Eroberungslüste eine der ersten Bußen, die Europa der Knechtung der Neuen Welt zollte. Ist es verwunderlich, daß er im Windauge der golfischen Bedrängnis, in der Schweiz, Zuflucht suchte? Huldrych Zwingli nahm ihn in Obhut und verschaffte ihm ein letztes stilles Asyl auf der Ufenau im Züricher See.

      Wenn auch die Schweiz außerhalb der europäischen Stürme blieb, im Innern wühlte die Dünung ähnlich wie in den windstillen Zentren der Orkane. Noch gab es Eifersüchteleien zwischen den Kantonen: Bern war neidisch auf das aufstrebende Zürich, dem der Leuteprediger Zwingli Glanz verlieh. Die Klerikalen ruhten nicht, den Zwiespalt zu nützen. Eine Handelssperre wurde mit Gewaltakten beantwortet. Übermacht warf sich auf die kaum gerüsteten Bürger. Zwingli, den Heerhaufen waffenlos begleitend, fiel. Sein guter Geist lebt fort, überschattet leider durch die Freudlosigkeit seines „Vollenders“ zu Genf, Calvin.

      Ein anderes Symptom des inneren „Schwells“ war das „Reislaufen“ der jungen Schweizer, das von der „Nabe des Tanzrades“ Sich-hinaus-schleudern-Lassen in die Wirren des Horizontes, um fremde Kriegsdienste zu nehmen. Es begann um 1500 und mußte 1859 nachdrücklichst durch Bundesbeschluß verboten werden. Die Schweizer Garde am Vatikan und Gefallene in Indochina sind ein letztes Zeugnis jener europäischen „Kernbrandung“.

      Daß Schweizer auch bei den Unternehmungen der Welser in Übersee dabei gewesen sind, ist so gut wie gewiß. Man vermutet die Namenslisten noch in den Archiven. Aber mancher ging namenlos mit und starb namenlos und wurde namenlos verscharrt, wenn nicht die Geier seinen Leichnam fraßen.

      Einer der wenigen Deutschen, die von dem verlustreichen Abenteuer Venezuela heil wieder heimkamen, ist der Ulmer Nikolaus Federmann. Er war nach Dalfingers Tod zur Berichterstattung nach Europa gefahren, scheint aber dann von den Chefs selber den Auftrag erhalten zu haben, die dürftigen Einkünfte aus den schlecht verwalteten Bergwerken und Plantagen durch robuste Werte zu ergänzen. Er muß eine kraftvolle Natur gewesen sein, auch Pläne mitbekommen haben, die einem Kontor von Zahlkraft auf dem Schwarzen Markt zu Sevilla oder wo immer nicht entgangen sein dürften. Jedenfalls gelangte Generalkapitän Federmann ziemlich zielsicher 1535 auf die Hochebene von Bogota, von Osten her. Es erging ihm dort allerdings wie Scott mit dem Südpol. Ein anderer war ihm zuvorgekommen, von Westen her, der Spanier Queseda (es scheint, als habe der mit dem Welserschen Schwarzmarktpreis seine Expedition finanziert), und gerade kam von Süden ein weiterer Strauchdieb heraufgekeucht. Nun, die Waffen waren ziemlich gleich verteilt, und nach einigen abschätzenden Blicken einigte man sich und zog vor, dem Zuerstgekommenen die Ausraubung und Ausrottung der weit mehr als diese Hasardeure kultivierten Chibcha allein zu überlassen.

      Federmann war nun des Kolonisierens überdrüssig. Er kehrte endgültig auf dem Golfstromwege zurück. Seine Brotgeber machten ihm den Prozeß; denn der Ausflug hatte riesige Summen verschlungen. Da aber Federmann einige intimere Kenntnisse des Geschäftsgebarens zu Protokoll zu geben nicht abgeneigt schien, ließ man der Durchfechtung zur Freude der Advokaten Zeit, so daß Federmann in Ruhe zu Gent seine „Indianische Historia“ schreiben und unbehelligt im Bett sterben konnte.

      Als nun trotz aller Mängel die deutschen Siedler sich eben eingerichtet hatten und dem Boden die ersten Erträge abgewannen, sagten sich die spanischen Granden, es könne womöglich sein, daß jene verschacherten Gebiete wirtlicher seien, als Karl V. angenommen. Der Kaiser, der Plage mit Türken, Franzosen und Protestanten müde und von Gicht gepeinigt, hatte sich in den Klosterfrieden zurückgezogen und erstrebte