Die Korinther. Nicole Kruska. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nicole Kruska
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783943362619
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eure Aufmerksamkeit schenken wollt. Ich will euch auch keineswegs langweilen. Seht hinauf!“ Er streckte einen langen knochigen Finger in Richtung Himmel.

      „Seht diese Schönheit, die uns umgibt. Das Licht, das uns nie ganz verlässt. Die Sonne am Tag, der Mond in der Nacht.“

      Einige Gäste gähnten demonstrativ.

      „Die Natur, liebe Freunde, ich will es euch verraten, ist ein Spiegel. Alles um uns herum spiegelt das Innere des Menschen. Nichts bleibt uns verborgen, wenn wir nur schauen.“

      „Nichts für ungut, mein Freund!“

      Kynthia reckte den Hals. Ein fülliger Mann mit Halbglatze hatte sich erhoben. Die Frauen und Männer um ihn herum sahen ihn erwartungsvoll an, ebenso wie einige andere Gäste. Der Mann hob seinen Becher und deutete darauf, während er weitersprach.

      „Ich schaue lieber in meinen Weinkelch. Sonst bekomme ich am Ende noch mein Magengeschwür zu Gesicht.“

      Einige Frauen und Männer in seiner Nähe lachten laut. Kynthia suchte Phaistos‘ Blick, doch der sah Eumelos an, wobei sich sein Unterkiefer hin- und herbewegte. Er wartete also gespannt auf die Reaktion des Alten. Dieser ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

      „Du hast wahr gesprochen, mein Freund. Auch die Hässlichkeiten, die sich um uns herum unseren Augen enthüllen, haben ihre Entsprechung in unserem Innern. Aber ich frage dich: Ist nicht sowohl Hässlichkeit als auch Schönheit eine Frage der Betrachtungsweise?“

      „Also, wenn ich an meine erste Frau denke –“ Der Mann erhob sich und fasste sich ans Kinn, als würde er angestrengt nachdenken. „Alle meine Freunde haben sie auf dieselbe Weise betrachtet: Alle fanden sie hässlich. Wie die Nacht!“, brüllte er noch in die aufkommende zweite Lachsalve hinein und ahmte dabei Eumelos‘ Geste nach, indem er theatralisch den Finger zum Himmel reckte.

      Kynthia wollte Nikos fragen, ob er den unverschämten Kerl kenne, als sie aber sah, dass er in sich hineingrinste, ließ sie es bleiben. Seit wann fand er so etwas lustig? War er solche Szenen von Demetrios‘ Festen gewöhnt? Phaistos und Silas sahen verlegen zu Boden. Gaius hatte sich inzwischen dem Störenfried genähert und sprach leise mit ihm. Kurz darauf verließ der Mann mit seiner hübschen Begleiterin kopfschüttelnd das Fest. Was die Frau an ihm fand, war Kynthia schleierhaft. Kleidung und Bauchumfang verrieten einen gewissen Wohlstand. Vermutlich machte der ihn begehrenswert.

      Eumelos setzte seinen Vortrag fort. Er schien weder beleidigt noch verstört. Kynthia hörte ihm kaum zu und beobachtete stattdessen die anderen Gäste. Plötzlich war sie sehr müde und froh, als Nikos aufstand, um zu gehen.

      „Wir sehen uns also morgen in der Ziegelei, Silas? Ich zeige dir dann alles.“

      Silas versicherte, dass er kommen würde, bedankte sich und verabschiedete sich von Phaistos, indem er ihm freundschaftlich die Hand auf die Schulter legte.

      „Ich würde mich freuen, dich morgen Abend zu sehen.“

      Er sah Kynthia an. „Und vielleicht bringst du ja Nikos und deine Schwester auch mit zur Versammlung.“

      * * *

      „Was für eine Versammlung hat Silas gemeint, Phaistos? Worüber habt ihr geredet?“, fragte Kynthia, kaum dass sie Gaius‘ Villa verlassen hatten.

      „Schwester, sei mir nicht böse. Morgen erzähle ich dir gerne alles. Jetzt reicht meine Wachheit gerade noch, um nach Hause zu kommen.“

      Da es ihr ähnlich ging, gab sich Kynthia damit zufrieden, und so setzten die drei schweigend ihren Heimweg fort.

      9 Regenwassersammelbecken

      IV

      Phaistos

      Kynthia wollte mitkommen. Nikos nicht.

      „Vielleicht beim nächsten Mal“, winkte er ab.

      So machten sie sich zu zweit auf den Weg. Wie versprochen, hatte Phaistos Kynthia tagsüber von Silas‘ Iesoús erzählt, von dem Sohn des jüdischen Gottes, der sich hatte kreuzigen lassen, um die Menschen mit seinem Vater zu versöhnen. Kynthia schauderte es bei dem Gedanken. Auch vor den Toren von Kórinthos war der Anblick von Männern, Frauen und Kindern, die auf diese grauenvolle Weise zu Tode gebracht wurden, keine Seltenheit. Vor etwa einem halben Jahr war die Sklavin eines Nachbarn gekreuzigt worden, eine Nubierin, etwa in Kynthias Alter. Sie war davongelaufen und noch am selben Tag gefasst worden.

      „Also, ich verstehe das nicht, das mit der Kreuzigung. Warum soll das nötig gewesen sein?“ Phaistos zuckte die Schultern.

      „Besser kann ich es dir nicht erklären. So ganz habe ich es ja auch noch nicht verstanden. Gleich sind wir da, dann wirst du ja hören, was Paulos dazu sagt.“

      Sie erreichten die Synagoge. Daneben, in der Villa eines Mannes namens Titius Iustus, traf sich die Versammlung, zu der Silas sie eingeladen hatte.

      „Er muss noch reicher sein als Gaius“, murmelte Kynthia Phaistos zu, als sie von einem Sklaven ins Atrium geführt wurden. Überall glitzerten Ornamente aus Gold an Wänden und Säulen. Der Hausherr war nirgends zu sehen. Sklaven reichten den Gästen Wasser und Früchte.

      „Kynthia!“

      Phaistos erkannte Paulos nach Kynthias Beschreibung sofort. Strahlend und mit ausgestreckten Armen kam der kleine bärtige Mann auf sie zu, hinter ihm, mit weitaus weniger selbstbewussten Schritten, ein junger Mann, groß und sehr schlank. Er stellte sich stumm hinter Paulos, grüßte mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken und blickte dabei über Phaistos‘ Schulter hinweg. Paulos nahm Kynthias Hände in seine.

      „Es freut mich so sehr, dich zu sehen. Und obendrein hier, in unserer Versammlung. Es geht dir hoffentlich gut? Und Nikos auch?“

      Kynthia nickte.

      „Paulos, ich möchte dir meinen Bruder Phaistos vorstellen.“

      Paulos wandte sich ihm zu und legte ihm die Hand auf den heilen Arm.

      „Silas hat mir schon von dir erzählt. Seid uns beide herzlich willkommen. – Timotheos, komm, wir wollen mit dem Gottesdienst beginnen.“

      Bevor Paulos sich abwandte, sah er Phaistos noch einen Moment lang an. Er spürte seinen freundlichen, aber dennoch durchdringenden Blick des Alten noch immer an sich, als der Alte schon wieder vorne stand. Was hatte er an ihm gesehen? Oder in ihm? Was wollte er von ihm?

      „Meine Freunde, nehmt Platz. Gleich beginnen wir“, rief Silas von vorne. Als er Phaistos und Kynthia sah, winkte er ihnen lächelnd zu.

      „Was passiert jetzt hier?“, flüsterte Kynthia ihm zu, während Paulos, Silas und der junge Mann mit dem makellosen Gesicht sich gemeinsam vor die Versammlung stellten.

      „Keine Ahnung“, flüsterte Phaistos zurück, und obwohl er sich selbst nicht ganz wohl in seiner Haut fühlte, lächelte er sie an.

      „Wart’s ab. Schlimmer als der Vortrag bei Gaius wird es schon nicht werden.“

      Dann hob Paulos die Arme und rief:

      „Lasst uns den Herrn preisen!“

      Das letzte Murmeln unter den etwa vierzig Anwesenden im Raum verstummte, und alle erhoben sich. Phaistos sah, wie Kynthia ihre Palla weiter nach vorn über den Kopf zog, sodass ihr Gesicht fast verdeckt war.

      „Sieh mal da, das ist doch einer von Gaius‘ Haussklaven!“, flüsterte Kynthia. Ein Mann vor ihnen drehte sich um und lächelte freundlich.

      „Ja, das ist so bei uns. Wir sind alle Geschwister hier.“

      Kynthia starrte den Mann sprachlos an, sah dann wieder zu dem Sklaven hinüber, und Phaistos tat es ihr gleich. Der alte Mann hatte sich wie selbstverständlich in die dritte Reihe gestellt, mitten unter die Freien. Titius Iustus‘ Haussklaven standen zwar am Rand, wie es sich gehörte, aber nicht mit gesenktem Kopf. Sie hatten wie alle anderen Anwesenden den Blick