Traum und Ziel. Karl Friedrich Kurz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karl Friedrich Kurz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711518434
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sie ihn nicht weg mit leeren Händen und ohne ein gutes Wort des Trostes. Und gekränkt war sie nicht — oh, im Gegenteil —, aber er durfte ihr keine Botschaft mehr bringen; das stand fest.

      In der Einfalt seines Herzens dachte Werner: Wenn sie nicht gar so vornehm wäre, würde sie vielleicht in den Ritterhof kommen und ihn besuchen. Und ich bin sicher, er würde dann sein grosses Weh vergessen ...

      Leider durfte dieses nicht geschehen. Und Werner brachte nichts zurück als ihre Blumen. Sein Herz war traurig. Sein Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen, als er das Zimmer betrat und Konrad ihm mit fieberglänzenden Augen entgegenstarrte.

      „Hast du sie getroffen?“ fragt Konrad, schlotternd vor Erwartung.

      „Gewiss traf ich sie. Ich lieferte den Brief ab und erzählte ihr dann noch vieles. Ich durfte neben ihr sitzen in ihrem Gartentempelchen. Sie weinte ...“

      „Ist das wahr, du? Weinte sie?“ fragt Konrad atemlos.

      „Dein Brief wurde nass von ihren Tränen. Und dann gab sie mir die Blumen für dich. — ‚Grüsse ihn von mir‘, sagte sie.“

      Dieses entspricht einigermassen der Wahrheit. Sowie aber Werner die Wirkung seiner Botschaft bemerkt, sowie er Konrads verklärtes Gesicht sieht, durchrieselt es ihn heiss, und in seinem Kopf entsteht jäh ein Gedanke. Ein ungeheuerlicher Gedanke. „Sei sicher — sie liebt dich“, sagt er.

      Aber das ist wohl doch zuviel. Vor so grossen Worten wird Konrad misstrauisch. „Nein, du — das ist undenkbar. Das sagte sie gewiss nicht.“

      „Vielleicht nicht so mit diesen Worten. Aber sie deutete es doch an, dass ich es verstehen musste. Sie will dir selber schreiben.“

      Langsam öffnen sich Konrads Lippen und zittern vor unermesslicher Freude. Er fragt hastig: „Du hast wohl nicht einen Brief von ihr?“

      „Nein, sie konnte doch nicht auf einmal schreiben, während sie bei mir sass und alles mögliche fragte und wissen wollte. Aber morgen oder übermorgen kann ich ihren Brief abholen. Sie will immer und ewig an dich denken, weil du ihr so leid tust ...“

      Lieber Herr im Himmel — diesem Knaben Konrad ward viel Schweres auferlegt, und er wandelte im kalten Schatten von Anfang an. Ehe er aber aus dieser Welt scheiden musste, sollte ihm noch ein unerhörtes Glück beschieden werden — durch Werners Beistand, durch eine gottgefällige Lüge, durch hundert grosse und kleine Lügen, die sich als eine hohe Brücke über seinen Himmel spannten als strahlender Regenbogen. Nicht länger zögerte Werner, seinen besten, seinen einzigen Freund zu hintergehen.

      Beim Anblick Konrads geriet Werner in einen wahren Taumel des Entzückens, in einen seligen Rausch des Schenkens. Bald konnte er selbst nicht mehr unterscheiden, wo die Wahrheit aufhörte und die Dichtung begann. Er, der bis zu diesen Tagen noch nie an Liebe und ähnliches gedacht und wenig oder gar nichts wusste vom geheimen Treiben der Menschenwesen, er ahnte in wunderbarer Weise zum voraus vieles von dem, was erst künftige Zeiten ihn lehren sollten. Ein goldenes Klingen flutete durch sein Blut.

      Erregt sass er nun an Konrads Krankenlager und sprach mit begnadetem Mund. „Schon längst dachte sie an dich. Und sie hätte dich gern noch einmal gesehen. Sie wollte dich früher auf der Strasse anreden; aber du gingst so schnell an ihr vorbei. Und da durfte sie natürlich nicht stehenbleiben ...“

      „Nein, das durfte sie nicht. Erzähl weiter! Trug sie wieder ein schwarzes Kleid?“

      „Ein rabenschwarzes; ihre Tränen tropften darauf, und sie wischte sie nicht weg. Aber deinen Brief verbarg sie an ihrer Brust. Sie will ihn später noch viele Male lesen, wenn sie allein in ihrem Zimmer ist ...“

      Unermesslich reich wird Konrad beschenkt. „Ist das nicht merkwürdig“, fragt er, von Werners Feuer erwärmt, „da ging ich also hundertmal an ihr vorbei und wusste nicht, dass sie mich beachtete ...“

      „Wie hätte sie es dir nur zeigen können? Und den Weissen Handschuh mit dem Blutfleck hat sie aufbewahrt.“

      Langes Schweigen.

      Leise fragt Konrad: „Und ihre Puppe? Will sie sie nicht wiederhaben?“

      „Nein, du darfst sie behalten — weil es doch ein Stück von ihr selber sei. Sie liebte sie sehr, ihre Puppe. Nur mit ihr spielte sie, solange sie in diesem Hause wohnte. Aber heute schenkt sie sie dir ein für allemal. Und etwas Besseres könne sie dir gar nicht schenken, meinte sie.“

      „Nein, das kann sie gewiss nicht.“

      Abermals ein inhaltschweres Schweigen.

      Worauf Konrad das Gesicht Werner zuwendet. „Komm jetzt zu mir, Werner!“

      Eine unerhörte Feierlichkeit schwingt in Konrads Stimme, ein heiliger Ernst. Langsam, klar und deutlich sagt er: „Du hast wahrlich schon viel für mich getan. Nun hab’ ich noch eine letzte grosse Bitte an dich. Wenn ich gestorben bin, dann legst du mir die Puppe in den Sarg. Versprich mir das! Du bist mutig und klug; du wirst auch dieses vollbringen, ohne dass jemand davon erfährt. Ich werde dann nicht allein sein im Grab.“

      Erschüttert von Konrads Feierlichkeit, bis ins Innerste aufgewühlt und gleichzeitig erschreckt vom gefährlichen Spiel, das er da unternommen, verspricht Werner: „Verlasse dich auf mich in allen Stücken.“

      „Sagtest du nicht vorhin, sie habe dir die Hand gegeben?“

      „Doch, das tat sie.“

      „Leg mir deine Hand auf die Stirn. Das ist genau so, als habe sie selber mich berührt ...“

      Welch tolles, grauenhaftes, kindliches und göttliches Spiel! Zwei Knaben spielen es; und sie spielen es mit der ganzen Inbrunst ihrer unverbrauchten Herzen.

      „Wann willst du ihren Brief abholen?“

      „Morgen abend, nach der Schule, denk’ ich.“

      „Nun wundre ich mich sehr, was für eine Handschrift sie hat.“

      „Ich bin sicher, dass sie ungewöhnlich schön schreibt.“

      „Das glaube ich auch“, nickt Konrad.

      „Ich denke mir, sie wird kleine, zierliche Buchstaben machen. Was meinst du?“ Dieses fragt Werner nicht ohne Hintergedanken. „Gewiss wird sie nur auf allerfeinstes Briefpapier schreiben.“

      „Ja, darauf kannst du dich verlassen“, pflichtet Konrad bei. „Und ihr Brief wird nach Veilchen oder Rosen duften.“

      Solches hat Werner nun doch nicht erwartet. Verblüfft und ein wenig ungläubig fragt er: „Weshalb soll er denn duften?“

      „Nun — so ... Bei einer jungen, feinen Dame duftet alles. Die tragen doch stets ein Fläschchen Wohlgeruch mit sich herum. Auch bei ihr wird es so sein, denk’ ich.“

      „Und ob sie wohl Herr Konrad über ihren Brief setzen muss?“ erkundigt sich Werner schlau.

      „Wo denkst du hin? Sie wird einfach Konrad sagen. Oder vielleicht, wenn es sehr viel sein soll, wird sie ‚lieber Konrad‘ sagen ...“

      Den ganzen Abend besprechen sie diesen Briefwechsel. Es wird ein schöner Abend für sie beide. Etwas völlig Neues und Nieerlebtes ist in ihr Gespräch getreten; und sie geben sich ihm mit ganzer Seele hin.

      Vor dem Fenster zieht die blaue Frühlingsnacht herauf. Aus dunklen Tannen kommt der schmelzende Lockruf der Amseln.

      „Lass mich jetzt noch ein Weilchen allein“, bittet Konrad still und glücklich. Gar vieles hat sich an diesem Abend ereignet, an das er denken und worüber er sich freuen muss.

      Es ist die erste wirkliche, klingende Freude seines Lebens.

      Um Mitternacht

      Auch in den Küchenfenstern stand die blaue Frühlingsnacht. Doch hier schrie und wetterte, unbesiegt und unbesiegbar, Hannes Frank. Seine Stimme war allmählich heiser geworden, so dass ihm die Worte wie kleine Blechstücke aus dem Mund fuhren und die Frauen ihn nicht mehr recht verstehen konnten.