Traum und Ziel. Karl Friedrich Kurz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karl Friedrich Kurz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711518434
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und erkannte die Schwierigkeiten. Aber er kann es nicht verhindern, dass das Heimweh ihn plagt, dass er sich zurücksehnt nach den Menschen, die ihm zwar niemals unnötige Liebe erwiesen, aber deren Gesichter und deren Stimmen er kennt. „Bei euch zu Hause möchte ich sterben“, sagt er leise, den Blick aufs Fenster gerichtet, in dem die kahle Krone eines Baumes vor einem emailleblauen Himmel kaum merklich hin und her schwankt. Sein Blick ist seltsam ruhig, seine Stimme beherrscht. Ja, gewiss hat er über vieles nachgedacht in diesen schweren Tagen. Er sieht vor sich das kleine Stück Weg, auf dem ihm der Tod entgegentritt. Er fragt nicht, er jammert nicht.

      „Ich werde alles für dich tun“, sagt Werner leise. „Wenn es sein muss, werde ich zu den reichen Leuten für dich betteln gehen.“ In Werners Stimme ist ein stahlhelles Klingen, das Konrad aufhorchen lässt. „Du musst zu uns zurück. Sei sicher. Vertraue mir.“

      Ein Schimmer von Freude gleitet über Konrads schmale Wangen. „Ja, ja“, nickt er.

      Und so reden sie miteinander und sind unwissende Kinder und leidgeprüfte Greise zu gleicher Zeit.

      „Des Abends, sowie ich aus der Schule komme, will ich an deinem Bett sitzen und dir vorlesen, bis du wieder gesund bist ...“

      „Ja, ja.“

      „Und ich werde dir den Kaninchenstall ans Bett stellen ...“

      „Alles glaub’ ich dir. Aber sieh, dort winkt die Schwester. Die Besuchsstunde ist zu Ende. Komm bald wieder zu mir!“

      Im langen Gang, in den unzählige Türen münden, der nach Karbol und Jodoform und Schmerzen und Menschennot riecht, steht Werner. Ein paar Schwestern gleiten lautlos und eilig an ihm vorbei und blicken ihn fragend an. Ein Herr in weissem Mantel taucht aus einer Tür auf; hinter scharf funkelnden Brillengläsern hervor mustert er den dürftig gekleideten Jungen und fragt: „Was suchst du hier?“

      „Ich warte auf die Schwester.“

      „Auf welche Schwester?“

      „Die Konrad pflegt.“

      Der Herr beugt seinen schmalen Kopf. „Meinst du den Konrad mit den verbrannten Armen?“

      „Ja.“

      „Was willst du von ihr?“

      „Ich mochte sie bitten, dass sie mich zum Arzt führt.“

      „Da bist du ja schon. Was wünschest du von mir?“

      Eine erstickende Angst befällt Werner, er schluckt und beginnt zu schnaufen.

      „Nun, nun?“ fragt milde der Arzt. „Was fehlt dir denn, Junge?“

      „Er fürchtet sich, dass Sie ihm die Arme abnehmen“, stammelt Werner. „Aber er will es nicht.“

      Der Arzt betrachtet den verzweifelten Werner und besinnt sich. „Du bist wohl sein Bruder und scheinst ja ein gescheiter Junge. Höre also: Konrads Brandwunden sind zu gross und zu tief, sie können niemals heilen. Er muss daran sterben. Nur die baldige Operation kann ihn retten.“

      „Aber er will dennoch nicht.“

      Der Arzt blickt auf Werner nieder; er hat begriffen. „Konrad wird nicht operiert, wenn er es nicht selber verlangt.“

      „Wollen Sie ihm das sagen?“ bittet Werner. „Es würde ihn beruhigen.“

      „Gleich geh’ ich zu ihm. Sei unbesorgt.“

      Und nun ist Werner wieder auf der Strasse, in der sich die Menschen drängen und vorwärts hasten. Ein paar Frauen gehen vor ihm her, erzählen lustige Dinge und kichern. Kinder spielen. Klar scheint die Frühlingssonne. In den Bäumen zwitschern die kleinen Vögel. Wahrlich, die ersten Stare sind schon vom Süden heraufgeflogen.

      In dumpfer Traumangst schreitet Werner dahin. Alles wird ihm unfassbar. Die Menschen gehen spazieren und lachen, denkt er. Sehen sie denn nicht die finsteren Mächte, die über ihnen schweben? Wissen sie denn nicht, dass es keine Gnade gibt, weder im Himmel noch auf Erden?

      Er achtet nicht auf den Weg. Er irrt durch diese Welt des Grauens als eine stumme, qualvolle Frage.

      Die ersten Lichter flammen auf. Werner blickt verwundert nach allen Seiten und findet sich in einer unbekannten Gegend. Es wird späte Nacht, bis er nach Hause kommt.

      Im Ritterhof schläft alles. Das grosse Haus ragt schwarz in einen schweren Frühlingshimmel, düster, geheimnisvoll wie eine alte Burg. Aber aus einem Fenster der Gärtnerwohnung quillt ein roter Lichtstrom. Dort geschieht etwas Furchtbares.

      Zwei Gestalten bewegen sich seltsam vor der hellen Öffnung. Der Italiener Barrenti will seine Frau aufs Pflaster hinabwerfen. Es ist Samstagabend, und er hat sich wieder sinnlos betrunken. Ein schattenhaftes, ein völlig stummes Ringen. Die kleine Frau umklammert mit ihren Armen das Fensterkreuz, ihr Oberkörper hängt schon über dem Gesims in der freien Luft.

      Werner weiss nicht, was er jetzt tut. Aber er rennt über den Hof. Die Haustür steht offen, die Stubentür steht offen. Im Luftzug blafft die Lampe. Vor dem Tisch liegen Barrentis schwere Stiefel.

      Nein, Werner weiss durchaus nicht, wie das kommt. Ein Stiefelabsatz fährt auf Barrentis Kopf. Barrenti sinkt lautlos nieder. Neben ihm steht die kleine Frau im blossen Hemd mit weissem, starrem Gesicht. Sie streicht sich eine Haarsträhne aus der Stirn.

      „Ist er tot?“ murmelt Werner.

      Die kleine Frau schüttelt den Kopf, hebt langsam die Hand und weist zur Tür. Ihr Arm ist gelb und entsetzlich mager. Sie sagt kein Wort.

      Dem folgte eine lange Nacht mit tausend Foltern.

      Der Italiener wurde in dieser Nacht nicht erschlagen. Doch er sang nicht am Sonntagmorgen. Werner sah ihn vom Fenster auf über den Hof schreiten, ein Tuch um den Kopf gewickelt. Er ging zum laufenden Brunnen und wusch sein Gesicht, und er glich einem Türken.

      Über diesen Vorfall wurde nie ein Wort laut. —

      Seit dem Tage, da der alte Klaus den verborgenen Schatz gefunden, trat er unter den Lohmanns als guter Geist auf. Die vielen erstaunten Fragen beantwortete er mit stummem Kopfschütteln. Er hütete sein Geheimnis.

      „Konrad hat Heimweh“, sagte Werner, indem er scheu zu seinem Vater emporschaute. „Er möchte nach Hause.“

      „Daran ist nicht zu denken“, entgegnete Hannes Frank bestimmt. „Wir haben nicht genug für uns selber. Ist er nicht am besten aufgehoben, wo er jetzt liegt?“

      Die Frauen starrten vor sich nieder, seufzten und nickten stumm.

      Aber nach dem Essen zupfte der Grossvater Werner am Rockärmel, machte ihm ein geheimes Zeichen und verliess die Küche. Der Grossvater wackelte gewaltig mit dem Kopf und fragte: „Kostet es viel Geld?“

      „Ja, das tut es wohl.“

      „Etwas könnte ich dir schon geben, wenigstens für den Anfang. Doch du darfst nie verraten, woher das Geld kommt.“

      Dieserart wurde also wieder eine Unmöglichkeit möglich, und sie holten Konrad aus dem Spital. Nun lag er in einem grossen, hellen Zimmer zur ebenen Erde, im früheren Kontor des Weinhändlers Bondorf. Elisa übernahm seine Pflege. Der Drogist zahlte jede Woche einen kleinen Betrag. Somit schien alles bestens geordnet.

      Des Abends sass Werner an Konrads Bett, und sie sprachen über viele Dinge. Dass Konrad bald sterben musste, das stand fest. Jedermann wusste es. Am besten wusste Konrad es selber. Er sprach über sein Ende als der unabwendbaren Tatsache, wie sie vor jedem lag. Zwar nahm er noch regen Anteil am Geschehen ringsum. „Hol mir ein Kaninchen“, bat er.

      Werner trug das Kaninchen ans Bett und streichelte es für Konrad. Selbst an den schrecklichsten Lauf der Dinge können die Menschen sich gewöhnen. Mag es noch so elend sein, bleibt das Leben doch immer etwas Grosses.

      „Ich möchte dich um etwas bitten“, sagt Konrad. „Aber das ist eine Sache, von der kein Mensch je etwas erfahren darf.“ Darauf besinnt er sich und fragt: „Sag mir, Werner — kannst du schweigen?“