Traum und Ziel. Karl Friedrich Kurz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karl Friedrich Kurz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711518434
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Konrad lächelt da wieder sein frühreifes, kluges Knabenlächeln. „Natürlich habe ich sie alle gleich wieder zerrissen und in den Wind gestreut. Lösch jetzt das Licht aus!“

      Dunkelheit in der Stube. Aber von Konrads Gesicht geht ein wundersames Leuchten aus. Er schweigt. Und aus dem Schweigen wird eine weihevolle Stille. Eine hallende Stille wie in einer Kirche, wenn die Orgel verstummt. Vielleicht weht jetzt der Atem Gottes durch dieses Zimmer, in dem zwei Knaben ein seltsames Gespräch führten und in heller Kindergläubigkeit an die unlösbaren Rätsel des Lebens rührten.

      Jung und uralt ist das alles; vom Tod gezeichnet und unsterblich. Konrad, dieser gefällte Baum, er liegt am Boden, und keine Gottesgnade kann ihn retten. Doch in seinem Blute kreist noch der ewige Saftstrom, der selbst den abgebrochenen Ast ein letztes Mal erblühen lässt.

      „Ich bilde mir da gewiss nichts ein. Das darfst du mir ruhig glauben. Nein, nein, ich vergass keinen Augenblick, dass sie himmelhoch über mir steht und dass ich sie mit meinen Worten niemals erreichen konnte. Doch mit meinen Blicken und mit meinen Gedanken konnte ich sie erreichen. Das war mein Glück. Ich verlangte ja nicht mehr. Später ging sie noch einige Male an mir vorbei, und sie schaute mich an. Aber ich wagte nicht, sie zu grüssen. Dann blickte sie mich nicht mehr an. Sicherlich hat sie die Sache mit dem Hut längst vergessen. Sie würde mich wohl gar nicht mehr erkennen. Aber wenn ich ihr begegnete, war es doch stets ein grosses Erlebnis. Wir atmeten in derselben Luft. Und es durfte sogar vorkommen, dass ein feiner Wohlgeruch von ihr her bis zu mir drang.“

      Auf einem Stuhl kauert Werner, die Puppe auf den Knien. Was sind das für merkwürdige Dinge, denkt er. Ist das dort wirklich noch immer Konrad, der mir all das erzählt?

      „Ach, du, Werner, wie sind die Menschen doch verschieden untereinander! Gar viele Arten von Menschen gibt es — die meisten sind schmutzig und gemein; aber einige sind so rein und edel wie die Engel im Himmel.“

      Hier bricht Konrad jäh ab, streckt sich auf seinem Lager. Die Eisenspiralen in der Matratze knarren hässlich. „Leg sie jetzt weg. Verbirg sie gut. Ich muss noch an so vieles denken.“

      „Soll ich wieder Licht machen?“

      „Nein, lass nur. Ich seh’ so gern die Nacht herankommen. Schieb die Gardinen zurück. Ich möchte die Bäume sehen. Vielleicht steht schon der grosse, helle Stern zwischen den Tannenwipfeln. Geh jetzt!“

      Werner geht in den dunklen Garten; er geht in den hintersten Winkel zur Bank an der Mauer. Sein Herz ist gross und schwer von unerhörter Trauer und von unerhörtem Wundern. Er ist wohl noch zu jung, um Konrads Erzählung ganz zu erfassen, dieses hilflose Gestammel einer unerfüllbaren Sehnsucht am Rande des Grabes. Er ahnt höchstens die dunklen Mächte, die das Menschenherz bewegen im Verlangen und im Verzicht. Nur das eine ist ihm verständlich: Dort hinten im Hause liegt Konrad. Er wird nie mehr aufstehen. Er wartet auf den Tod; Konrad — jetzt redet er so verwunderlich vom Leben, von der Liebe, von einem Mädchen und einer Puppe ...

      Werner denkt: Ich habe ihn von jeher verstanden und gern gehabt. Ihn hatte ich am liebsten von allen. Er ist gut und unendlich treu — aber heute erschien er mir fremd und unbegreiflich. —

      Vorhin am Krankenlager, als Konrad seine Geschichte erzählte, als er in unwiderstehlichem Drang den Inhalt seines Lebens ausgoss, durchrieselte ein Schauer Werners Körper vom Scheitel bis zur Sohle. Deshalb bebte die Puppe in seinen Händen und blinzelte. Seine Hände glichen den Halmen am Stromufer, wenn der Märzwind darüber hinfährt. Irgendwie erriet er die tiefe Wahrheit hinter Konrads Worten, die Wahrheit von der Liebe der Menschen ...

      In Werners Seele kommt ein helles, fernes Klingen ... Weit dort hinter der Mauer, weit hinter allen braunen Nachtwolken zieht ein strahlender Feenwagen vorüber. —

      Rings um alle Bäume und Büsche wachsen die Schatten. Die Nacht breitet ihren dunklen Mantel über der Erde aus. Durch den Garten dringt eine weiche Melodie — A — aa — oh ... Das ist des Italieners Barrenti Gesang. Eine volle, schöne Stimme — ein Bauernlied, ein Liebeslied aus der Heimat jenseits der Alpen vom azurblauen Lago di Como. Das Ende der Strophen hält er stets lange aus — aaa — oh ... Es schwebt durch die Dunkelheit wie der Lockruf eines Fabelwesens, das verborgen in schwarzen Bäumen sitzt.

      Aber vor Werners Auge tritt aus den Schleiern des nächtlichen Gartens, aus dem schweren Wolkenhimmel, blitzhell ein Fenster, an dem zwei Menschen stumm, in wahnsinnigem Vernichtungswillen miteinander ringen — ein Mann und ein Weib ...

      Wie unter der Wucht eines gewaltigen Faustschlags sinkt Werner vornüber. Er vergräbt das Gesicht in den Händen und schluchzt.

      Ein Briefwechsel

      In Werners Jugend fiel das Grauen, das hinter allen Dingen steht.

      Hingegen Hannes Frank, sein Vater, der lebenstüchtige Mann, zauderte nicht, Konrads Schicksal in seine Hand zu nehmen. Nachdem er in seinem Wunderbuch viel Weisheit gesammelt, bereitete er eine Salbe aus Bienenwachs und Sirup, darein mischte er ein paar geheimnisvolle Tropfen und ein paar Zaubersprüche und strich es überlegen und zuversichtlich auf Konrads fürchterliche Wunden.

      Dazu seufzten die Frauen; sie trauten wohl Hannes Franks Künsten nicht recht. Weil jedoch kein Geld für Arzt und Apotheker vorhanden war, wussten sie keinen besseren Rat. Gott müsse nun weiter sorgen, dachten die Frauen bei sich selber und glaubten an die höhere Fügung.

      Konrad, das Opfer, zeigte sich zufrieden mit der Behandlung und allem; still blickte er zum Fenster hinaus, träumte den Wolken nach, folgte dem Flug der kleinen Vögel, sah die stolzen Tannenwipfel sich im Winde zierlich zueinander neigen, erwartete des Abends die funkelnden Sterne. Sobald er mit Werner allein war, begann er von dem feinen Mädchen Alma zu sprechen, von kleinen, unschuldigen Begebenheiten. In der langen Ruhe des Krankenlagers stieg in seiner Erinnerung alles Erlebte empor, wuchs und leuchtete und überstrahlte das Leid. Er sprach von seinem Tod mit gleichmütiger Selbstverständlichkeit, als liege das noch in unbestimmter Ferne. In kindlicher und schauerlicher Weise verband er unaufhörlich beides, seine Liebe und sein Sterben.

      Ruhig, eintönig flossen die Tage dahin. Der Winter kam. Die Menschen im Ritterhof drängten sich enger zusammen in der warmen Stube. Vor den Fenstern gingen finstere Schatten um. Aber die Menschen fühlten sich geborgen für die Nacht, für den nächsten Tag. Menschen, die in Armut leben, wagen selten, lange vorauszudenken.

      Es richtete jedoch das Schicksal, das erbarmungslose, gerade auf diese paar Menschen ein scharfes Auge und wollte ihnen keine Ruhe gönnen. Das Schicksal hakte seinen Finger in die Stelle, die für die Lohmanns seit jeher am schwächsten war. Unerwartet versagte der Drogist dem verunglückten Lehrling die weitere Unterstützung.

      Ach, dieser biedere Mann, niemand kann ihn deswegen tadeln, ihn selber zwang die harte Notwendigkeit. Da er keine Güter besass, blieb ihm nichts, womit er Konrad hätte helfen können.

      Elisa verstand das nicht, als sie am Ende der Woche das Geld abholen wollte. Nein, sie begriff durchaus nichts, obschon der Drogist es mit klaren Worten sagte. „Mein liebes Fräulein, dieses ist nun leider mein letztes Geld“, sagte er. „Wie gern möchte ich helfen bis zum Ende. Doch euer Konrad scheint ja immer weiter und weiter zu leben. Und dieses kann ich nicht aushalten.“

      „Wieso?“ fragte Elisa empört. „Dass Ihnen Ihre Lästerzunge verdorre! Er lebt Ihnen zu lange?“

      „Ich verstehe Ihren Zorn und würdige ihn“, entgegnete darauf der Drogist. „Aber Sie müssen auch mich verstehen. Hier gebe ich Ihnen also mein letztes Geld. Ich habe nicht einmal den Lohn für meinen Gehilfen. Ausserdem besitze ich eine Frau und vier Kinder; aber kein anderes Vermögen; das Geschäft hier gehört eigentlich meinen Gläubigern. Seit dem Unfall muss ich noch mehr Schulden machen. Und weil ich ja nur ein kleiner Krämer bin, stehe ich nicht in der Unfallkasse. Niemand hilft mir.“

      Ja, so standen hier die Dinge. Elend stand neben Elend. Aber Elisa begriff das immer noch nicht. Sie erklärte: „Wenn wir kein Geld mehr bekommen, müssen wir verhungern.“ Und das war vielleicht keine grosse Übertreibung, sondern nur der gewöhnliche Weltlauf.

      Der