Traum und Ziel. Karl Friedrich Kurz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karl Friedrich Kurz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711518434
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Entschluss. Er wird seltsam feierlich. „Komm ganz nahe zu mir heran. Ich muss es dir ins Ohr sagen. Du bist doch schon zuoberst auf dem Dachboden gewesen?“

      „Ja.“

      „Ja, dort ist ein rundes Fenster gegen den Rhein hin — nicht?“

      „Ich kenn’ das Fenster.“

      „Vor diesem Fenster — das zweite Brett im Fussboden ist nicht festgenagelt; es lässt sich heben. Darunter liegt etwas ...“

      Werner sagt schnell: „Das, was du am ersten Morgen hier fandest.“

      „Ich fand es im kleinen Zimmer neben dem Saal, in dem die Bondorfs schliefen.“ Und nun dreht Konrad den Kopf zur Seite und müht sich, sein Gesicht im Kissen zu verbergen. „Es wäre schön, wenn ich das in meiner Nähe hätte. Aber es ist schon dunkel, und du darfst kein Licht machen. Denn kein Mensch darf dich sehen.“

      „Soll ich es dir holen?“

      „Fürchtest du dich nicht?“

      „Nein — wovor?“

      „Warte ein wenig. Wo können wir es hier im Zimmer verstecken?“

      „Ich weiss einen feinen Ort — hinter dem Paneel am Fenster.“

      „Gut. Hol es! Aber sei vorsichtig, die Treppe ist lang und finster.“

      Geschmeidig schleicht Werner durchs Haus, das Geheimnisvolle zu holen, das, wofür Konrad sich schlagen liess, wofür er bereit war, zu sterben. Die Treppe ist lang und finster, und Werner fürchtet sich. Aber er kommt auf den Estrich und hebt beim Schein eines Streichholzes das Bodenbrett. Darunter liegt eine Puppe.

      Die Puppe liegt auf dem Rücken in bunten Seidenkleidern und hat lange, braune Locken. Sehr behutsam nimmt Werner sie aus ihrem Versteck, wischt ihr den Staub von Gesicht und Kleidern und gelangt ungesehen wieder in Konrads Zimmer. „Hast du sie?“ fragt Konrad, eine dunkle Röte im Gesicht.

      Ähnlich wie zuvor das Kaninchen, hält Werner jetzt die Puppe über Konrads Bett und streichelt mit behutsamen Fingern das braune Lockenhaar.

      Sie hat einen himbeerroten Mund; zwischen den Lippen steht die kirschrote Zungenspitze. Ein Auge ist geschlossen, das andere steht offen. Die Puppe schaut in Werners verdutztes Gesicht, als lächle sie pfiffig und wissend. Und da Werners Hände ein wenig zittern, öffnet sie auch das andere Auge, und die Zunge bewegt sich hinter den perlenweissen Zähnen, die Lider mit den langen Wimpern bewegen sich, ja selbst die Augen gleiten sachte auf und nieder.

      „Nun sollst du nicht glauben, dass ich früher mit ihr spielte. Aber, verstehst du — es war doch ihre Puppe.“

      Ohne weiteres errät Werner den Zusammenhang und alles. „Ja, sicher war es ihre Puppe“, flüstert er, indes er das Lockenhaar streichelt und zum Fenster hinausblickt.

      „Auf ihren Armen trug sie sie herum und sang dazu ihre Kinderlieder, ihre Wiegenlieder. Du weisst ja schon, wie die Mädchen mit ihren Puppen spielen. Die Mädchen reden mit ihnen, umarmen sie, küssen sie — alles genau so, als seien es ihre leiblichen Kinder. Sie weinen und lachen mit ihnen.“

      Bald verliert Konrad seine Scheu, wird eifrig und gibt sich seinen Gedanken frei hin. Es wird ihm nicht bewusst, dass er da das erste, schüchterne Beben seines Herzens verrät. Er redet ja nur mit sich selber. Und es sind sehr schüchterne, unvollständige Sätze, leise gestammelte Worte, die ein einziges Mal ausgesprochen werden müssen, um von einem Menschen gehört zu werden.

      Fast hätte man an ein Wunder glauben können; es schien, als wolle Konrad, aller Wissenschaft zum Trotz, gesunden, so blühten seine Wangen, so klar leuchteten seine Augen. „Diese Puppe ist doch gleichsam ein Stück von ihr selber, musst du wissen. Und gewiss hat Alma ihr eigenes Haar für sie hergegeben.“

      Ach, Werner versteht ja das alles; dennoch wird es so sonderbar. „Sollte es wirklich ihr eigenes Haar sein?“ staunt er.

      „Zweifle nicht! Du darfst nicht vergessen, dass sie keine Schwester hatte, niemand, mit dem sie spielen konnte. Deshalb musste sie alle ihre Liebe und Zärtlichkeit ihrer Puppe schenken. So sind sie nun einmal, die Mädchen“, schliesst Konrad wissend, mit einem wundersam schüchternen Lächeln.

      „Ja, das mag schon sein. Die Mädchen haben merkwürdige Einfälle, ich kenne sie so wenig“, gesteht Werner.

      Auf diesen Einwand achtet Konrad gar nicht, sondern redet weiter. Unhemmbar strömt das Geständnis über seine Lippen. Die grosse Einsamkeit seines Lebens, das Unglück, der nahe Tod, das alles veränderte ihn in eigentümlicher Weise. Es ist etwas Gewaltsames in seinem Bekenntnis. Eine junge Seele schreit auf, Konrads Knabenseele, die heilblieb, die keine Flamme zerstörte. Traumseligkeit umflort seinen Blick.

      Wahrscheinlich verhält es sich ähnlich bei den Erwachsenen — und dann nennt man es Liebe, denkt Werner.

      Konrad sagt: „Ich begegnete ihr einmal auf der Strasse. Ihre Mutter war dabei — es ist schon lange her. Sie trug damals noch ein kurzes Kleid und einen hellen Hut mit gelben Rosen darauf. Der Wind riss ihr den feinen Hut vom Kopfe, und ich lief ihm nach. Dabei wäre ich beinahe unter die Räder eines Wagens gekommen. Ich fiel hin, und mein Gesicht lag in ihrem Hut, der ganz voll war vom Duft ihres Haares. Aber ich zerdrückte ihn nicht, den Hut; ich brachte ihn ihr. Ihre beiden Hände streckte sie danach aus. Da verstand ich, dass sie ihn gern hatte.

      ‚Danke‘, sagte sie und schaute mich an mit ihren dunklen Augen. ‚Nun hast du dir das Kleid zerrissen und beschmutzt‘, sagte sie. ‚Sieh nur deine Ärmel — du blutest.‘

      Das war der herrlichste Augenblick in meinem Leben. Sie trug weisse Handschuhe.

      ‚Tut es weh?‘ fragte sie.

      ‚Nein, gar nicht‘, sagte ich.

      Dennoch berührte sie meinen Arm, fuhr mit ihren Fingern darüberhin und sagte: ‚Du hättest es nicht tun sollen. Fast wärst du dabei überfahren worden — nur wegen meinem Hut’, sagte sie.

      ‚Ja, wirklich‘, rief ihre Mutter, ‚du bist ein tapferer Junge. Wie heisst du? Konrad? Das ist ein hübscher Name‘. Ja, das sagte ihre Mutter und nickte mir zu.

      Darauf sagte sie zu ihrer Tochter: ‚Nein, aber Alma, du hast dir deine Weissen Handschuhe blutig gemacht.‘

      Alma lachte nur: ‚Ach, die Handschuhe — was hat das zu bedeuten?‘ Und immerfort schaute sie mich an.

      Ihre Mutter öffnete ein silbernes Täschchen. Sie wollte mir Geld geben. Aber ich steckte meine Hände in die Hosentaschen. ‚Nimm es doch‘, sagte sie. ‚Was bist du denn für ein spassiger Kerl! Du hast ja mehr verdient, viel mehr.‘

      Aber ich nahm das Geld trotzdem nicht. Darauf streckte mir Alma ihre Hand hin und bedankte sich noch einmal.“

      Nun schweigt Konrad, den Blick auf die Puppe gerichtet, die in Werners bebenden Händen schaukelt und mit den Augen zwinkert. „Von dem allem hast du mir nie etwas erzählt“, sagt Werner.

      „Nein, du — solches darf man überhaupt nicht erzählen, denn das ist ein Geheimnis“, meint Konrad. „Es ist das Allerschönste, das man erleben kann. Ich hätte es dir auch heute nicht erzählen dürfen, wenn ich nicht bald sterben müsste und wenn ich nicht sicher wäre, dass du es niemals verraten wirst. Aber, siehst du, seit jener Begegnung auf der Strasse lag es in meiner Brust wie ein heisser Stein. Ich musste immerfort an sie denken. Ich dachte an sie, wenn ich einschlief. Ein paarmal träumte ich von ihr. Ich ging an ihrer Seite durch einen schönen Garten. Sie stand neben mir vor einem Weiher. Im Weiher schwammen Goldfische. Sie trug wieder ihre weissen Handschuhe. Ein dunkler Fleck war darauf. ‚Das ist dein Blut‘, sagte sie und lächelte mir zu. Und dann war es so, als wolle sie mich etwas fragen. Aber ich erwachte.“

      Ja, das muss die Liebe sein, denkt Werner ergriffen.

      „Seither lebte ich nur in ihr. Ich schaute zu den Wolken auf, und in mir flüsterte eine Stimme ihren Namen. Überall hörte ich die Stimme flüstern, überall hörte ich ihren Namen — in den Wellen des Rheins, im Laub der