Traum und Ziel. Karl Friedrich Kurz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karl Friedrich Kurz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711518434
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widersprach der Drogist. „Sonst hätte ich andere Kräfte, und ich könnte euch und mir selber helfen.“

      Sie unterhielten sich noch eingehend über diese verwickelte Angelegenheit. Worte ohne Wert und Sinn, unnütze Kraftvergeudung. Konrads allerletzter Verdienst versiegte.

      Zu allem Überfluss ereignete sich im Laufe der folgenden Woche auch noch dieses: Hannes Frank kehrte vom Dienst zurück und war zum erstenmal nicht selbstsicher und kühn, sondern im Gegenteil ausserordentlich zahm und fromm. Irgend etwas musste da vorgefallen sein, beim Manövrieren mit den Eisenbahnwagen. Möglicherweise eine falsche Weichenstellung oder ein falsches Signal. Möglicherweise pfiff Hannes Frank, der Obmann, ein paar Sekunden zu früh oder zu spät auf seiner Trillerpfeife. Der Möglichkeiten gibt es unzählige, wenn etwas geschehen soll. Hier endete es mit einem Zusammenstoss und einer Entgleisung mit ein paar verwundeten Menschen und beträchtlichem Sachschaden.

      „Ich bin nicht schuld daran“, brüllte Hannes Frank in der herrschaftlichen Küche des Ritterhofs. Hannes Frank fand leicht die Schuld hier und dort und stets bei anderen.

      Aufgeklärt wurde der Vorfall nicht. Vielleicht machten sie aus Hannes Frank den erforderlichen Sündenbock. So oder so — entlassen war er. Knall und Fall.

      Es ging lebhaft zu in der Küche. Hannes Frank bekam einen Wutausbruch und fluchte grässlich.

      „Was soll nun aus uns allen werden?“ jammerten die Frauen.

      Hannes Frank schwor und heulte, warf seine Trillerpfeife zum Fenster hinaus und schrie: „Fahr zur Hölle!“ Die Mütze mit dem glänzenden Schild warf er auf den Marmorboden der herrschaftlichen Küche und zertrampelte sie mit seinen Plattfüssen.

      Auf einem verzwickten Umwege geriet er dadurch mit seiner mündigen Schwägerin Elisa in den prächtigsten Streit, der zwar mit seiner Entlassung in keinem Zusammenhang stand, ihn jedoch vom eigenen Missgeschick ablenkte. Alles miteinander bedeutete das unrühmliche Ende von Hannes Franks Staatsdienst.

      Zur Stunde, da in der Küche der Kampf gewaltig tobte, unterhielten sich auf der anderen Seite des grossen Hauses zwei Knaben über das Wunder der Liebe. In Wirklichkeit befanden sich drei Personen im Zimmer. Werner sass auf seinem Stuhl, Konrad lag in seinem Bett, und die Puppe stand auf der Decke. Die Puppe lehnte sich gegen den weissen Verbandhügel, ja sie stützte gefallsüchtig ihre Hand auf Konrads verwundeten Arm, lächelte mit ihrem himbeerroten Mund und starrte mit ihren Glasaugen hochmütig und kalt ins Leere.

      Wenn die Knaben schwiegen, drang das Getöse aus der Küche schauerlich bis in die Stube. Aber das störte sie nicht. Konrad drehte seinen Kopf dem Fenster zu und seufzte: „Ich hätte so ungeheure Lust, ihr einen Brief zu schreiben.“

      Das schien Werner ein vorzüglicher Gedanke. „Ja, gewiss musst du ihr schreiben“, sagte er eifrig.

      „Aber das ist nicht so einfach, wie du dir wohl vorstellst. Denn vergiss nicht, dass es sich doch um eine richtige Dame handelt.“

      „Ho — was nun dieses anbetrifft. Wir beide kennen sie doch schon lange. Wir kennen sie von der Zeit her, als sie noch mit Hängezöpfen zur Schule ging.“

      „Das hat hier nicht das geringste zu bedeuten. Sobald ein vornehmes Mädchen sechzehn oder siebzehn Jahre alt wird, ist es eben eine Dame, verstehst du?“

      „So? Meinetwegen! Mag sie eine Dame sein — schreiben darfst du ihr dennoch.“

      „Das fragt sich sehr. Und ich weiss wirklich nicht, ob ich es wagen soll. Ein Brief an sie — ich kann es mir gar nicht vorstellen.“

      „Weshalb solltest du nicht schreiben dürfen? Hast du ihr denn nicht den schönen Hut gerettet und nicht einmal Geld dafür genommen?“

      Konrad bleibt trotzdem bedenklich. „Darauf kommt es heute längst nicht mehr an. Aber vielleicht, wenn ich ihr sagen würde, dass ich ihr nie mehr auf der Strasse begegnen werde und sie sich meinetwegen nicht zu schämen braucht, wird sie es mir nicht übelnehmen, sondern mir verzeihen. Denn es bleibt, das darfst du ruhig glauben, eine riesige Frechheit. Ja, das weiss ich doch.“

      „Eine Frechheit? Wie sollte es sie beleidigen? Soviel muss sie doch verstehen.“

      Schon holt Werner Papier und Bleistift. „Zuerst wollen wir den Brief dichten. Dann schreibe ich ihn auf mein schönstes Papier. Und wenn du willst, schreibe ich ihn mit roter Tinte.“

      „Nein“, lächelt Konrad. „Was fällt dir ein? Das würde ihr bestimmt nicht gefallen.“

      „Also los! Ich schreibe: Liebste Alma ...“

      „Bist du verrückt, Mensch?“

      „Ich? Nein — wo denn?“

      „Wertes Fräulein Alma, musst du schreiben.“

      „Gut — weiter!“

      „O — Herrgott — weiter“, seufzt Konrad. ‚Es wird trotz allem nicht möglich sein. Nein.“

      „Warum denn nicht? Fürchte dich nicht — ich schreibe: Einst habe ich Ihren Hut gerettet. Und es war ein schöner weisser Hut mit gelben Rosen darauf. Erinnern Sie sich noch daran? — Was meinst du dazu?“

      „Das wäre wohl gar nicht so schlecht ...“

      „Schlecht? Darauf muss sie dir auch gleich eine Antwort geben. Sie muss wenigstens sagen, ob sie sich erinnert oder nicht.“

      „Sie wird mir niemals eine Antwort geben“, meint Konrad still und hoffnungslos. „Nein — das erwarte ich nicht.“

      „Sie muss dir Antwort geben!“ erklärt Werner bestimmt. „Was soll ich jetzt noch schreiben?“

      Auf einmal kommt ein Glimmen in Konrads Augen. Lange schaut er die Puppe an und sagt: „Schreibe, dass ich immer an sie denken musste seit jenem Tag. Und dass ich überall ihre Stimme hörte ... Schreibe: Und wenn ich Sie nachher auf der Strasse nicht grüsste, so war es doch nur deshalb, weil ich so schlechte Kleider anhatte, und ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen, wenn es jemand sah ... Schreibe: Und als wir in den Ritterhof zogen, fand ich im Wandschrank Ihres Zimmers Ihre Puppe, und ich versteckte sie. Und ich ging manchmal hin und schaute sie an, denn es war ein Stück von Ihnen. Ja, ich ging fast jeden Tag hin. Ich wollte sie Ihnen zurückbringen. Aber ich konnte mich nicht von ihr trennen. Bitte, verzeihen Sie mir! — Hier musst du drei Ausrufzeichen machen ...“

      „Ich werde es noch unterstreichen. Dann wird sie dir nicht zürnen können.“

      „Schreibe noch: Ich hätte diesen Brief nie gewagt, aber ich bin verunglückt, und ich muss bald sterben ...“

      In einem Zuge sprach Konrad, zuweilen schloss er die Augen; die Worte flossen leicht über seine Lippen.

      Während er schrieb, schoss Werner das Wasser in die Augen, so dass er seine eigene Schrift nicht mehr sehen konnte. Unausgesetzt fuhr er mit dem Handrücken über seine Wangen. Dann erklärte er: „Das wird ein ungeheuer schöner Brief! Du, Konrad, jetzt bin ich ganz sicher, dass sie dir darauf antworten wird.“

      „Dann kannst du noch schreiben: Ich werde Sie nie mehr sehen. Aber ich liege jetzt still in meinem Bett und denke an Sie. Ich stelle mir vor, wie Sie einst auf der Strasse vor mir hergingen in Ihrem schwarzen Kleid. Und ich hätte Ihnen gern etwas geschenkt zum Abschied. Doch ich habe leider gar nichts, denn ich bin so furchtbar arm ...“

      Werner, den Handrücken an der Wange, stöhnt: „So etwas Schönes und Trauriges habe ich noch nie gehört ...“

      „Schreibe: Ich habe eine grosse Bitte an Sie. Wollen Sie mir Ihre Puppe noch solange lassen? Nachher wird Werner sie Ihnen zurückbringen ...“

      „Ja, das will ich“, stöhnt Werner.

      „Und nun weiss ich nichts mehr. Doch der Brief muss unterzeichnet werden. Schreibe also: Es grüsst Sie Ihr Konrad.“

      In der Küche tobte das Gewitter. Aber in Konrads Gesicht strahlte himmlischer Friede. Noch drangen zu ihm die Laute dieser Erde, doch er vernahm ein leises Rauschen von