„Es hat fast den Anschein, jedenfalls bemühst du dich immer, diesen Anschein zu erwecken. Da soll nun einer dahinterkommen, daß diese Gleichgültigkeit nur gespielt ist!“
Sie beobachtete ihn bei ihren Worten scharf, und sie war eine gute Beobachterin. Vielleicht lag es aber auch daran, daß sie den Bruder in vielen Dingen besser kannte, als er sich selbst, jedenfalls bemerkte sie zu ihrer Genugtuung, daß die Maske des aufmerksamen aber kritiklosen Zuhörers, die er seines Berufs wegen fast ständig zur Schau trug, mit einem Ruck von ihm abfiel. Und was zum Vorschein kam, war die echte Leidenschaftlichkeit seines Temperaments, der er jetzt die Zügel schießen ließ.
„Wie kannst du nur von Gleichgültigkeit sprechen, Kora! Und das ausgerechnet bei Marina! Aber ich kann mich ihr doch unmöglich aufdrängen und ihr meine Verehrung möglichst geräuschvoll zu Füßenlegen. Du kennst sie doch auch und mußt wissen, daß sie das eher abschrecken als anziehen würde. Und was heißt überhaupt Gleichgültigkeit, wenn man mit einem Menschen befreundet ist? Das gibt es doch überhaupt nicht!“
„Ich weiß gar nicht, warum du dich so aufregst, Igor!“ sagte Kora lächelnd. „Jedenfalls hast du mir gerade sehr deutlich bewiesen, daß du uns Frauen völlig verkennst. Du meinst, wenn du mit Marina befreundet bist, müßtest du auch deine männlichen Maßstäbe anlegen. Das ist falsch, mein Lieber, grundfalsch!“
„Was willst du damit sagen, Kora?“ Abermals unterbrach er seine Beschäftigung. Das Gesprächsthema erregte ihn anscheinend so sehr, daß er darüber sogar das Essen vergaß.
„Nun, eine Frau sieht es gern, wenn sie verehrt wird, und sie ist nicht einmal böse darüber, wenn auch andere Leute das merken. Du glaubst doch nicht im Ernst, daß du Marina abschrecken würdest, wenn du ihr etwas deutlicher zeigtest, wie es um dich steht!“
Wieder warf sie dem Bruder einen lauernden Blick zu. Was sie ihm da gesagt hatte, war sehr deutlich. Sie hatte ihm zu verstehen gegeben, daß sie ganz genau wußte, daß sich sein Gefühl für Marina nicht auf kameradschaftliche Zuneigung beschränkte.
„Und selbst wenn sie nicht zurückschrecken würde, so weißt du doch ganz genau, daß ich nur ganz behutsam vorgehen kann. Denk doch an das, was sie alles hat durchmachen müssen!“
„Du möchtest ihr also zu verstehen geben, daß du ihr nicht nur ein guter Freund bist? Ich meine, du fühlst mehr für sie, als man gemeinhin für einen Freund empfindet? Sag, Igor, liebst du Marina?“
Nun war sie ausgesprochen, die heikle Frage, die ihr schon seit Monaten auf der Zunge brannte. Bisher hatte sie sie stets scheu umgangen, aber weil sie absolut keinen Fortschritt bemerkte in dem Verhältnis der beiden, mußte sie sich Klarheit über die wahren Gefühle ihres Bruders verschaffen. Anders wäre es ihr ja nicht möglich, ihm die Wege zu ebnen und vielleicht seine Fürsprecherin bei der Freundin zu sein.
„Ob ich sie liebe?“ Sein Gesicht nahm einen verklärten Ausdruck an. Er wich ihrem Blick aber aus und schaute zum Fenster hinaus, wo die Kastanien in voller Blüte standen. Fast andächtig sagte er: „Sie ist eine wundervolle Frau!“
Kora kämpfte mit ihrer Rührung, als sie diese Worte aus seinem Munde hörte. Ihr Empfinden hatte sie also nicht getäuscht, Igor liebte ihre Freundin, liebte sie mit der behutsamen Zartheit, mit der man eine schöne Blüte oder eine kostbare Vase liebt.
„Und du hast nie daran gedacht, ihr deine Liebe zu gestehen?“
Da sah er sie voll an und entgegnete fest:
„Nein, Kora! Dazu ist es noch zu früh! Erst will ich ihrer sicher sein! Unser Gefühl soll uns zueinander führen, wenn es soweit ist! Aber eine solche Entscheidung kann ich doch nicht mit Worten herbeiführen!“
Kora sah gedankenvoll vor sich hin und wiegte den Kopf hin und her. Schließlich sagte sie, ihn von unten herauf anschauend:
„Ich weiß nicht, Igor, welch seltsame Vorstellung du dir von uns Frauen machst. Aber richtig ist sie auf keinen Fall! Wir wollen doch nicht unter einen Glassturz gestellt und angebetet werden! Wir sind doch keine Heiligenbilder, sondern Menschen von Fleisch und Blut mit einem Herzen in der Brust!“
Igor schaute sie an und lächelte, ein wenig skeptisch, ein wenig überlegen.
„Das mag alles stimmen, im großen und ganzen gesehen. Aber bei Marina ist das etwas anderes. Verlaß dich darauf, Kora, hier irre ich mich nicht!“
„Und warum soll ausgerechnet Marina unter allen Frauen die große Ausnahme sein?“
„Du mußt ihre Lage verstehen, Kora! Denk an die große Enttäuschung, die sie durchgemacht hat! Solche Frauen wollen nicht im Sturm genommen werden. Sie würden zurückschrecken vor jedem Ungestüm und sich nun erst recht abkapseln.“
Kora seufzte und hob die Augenbrauen. So sehr sie sich auch bemühte, den Standpunkt des Bruders zu verstehen, recht konnte sie ihm doch nicht geben.
„Das hat alles nichts zu bedeuten, sobald der Richtige vor ihr steht! Dann zerstieben alle Bedenken wie Spreu im Sturm, und die Erinnerung an böse Stunden verlischt wie der Morgentau im Strahlenglanz der Sonne!“
„Möglich, daß es so sein kann“, räumte er ein. „Aber wer sagt mir, daß ich für Marina der Richtige bin? Darüber müßte ich erst Gewißheit haben!“
„Sagt dir das denn nicht dein Gefühl?“ fragte Kora.
Igor zuckte mit den Schultern. Fast ein wenig resigniert sagte er:
„Ich habe das Gefühl, wir reden im Kreise herum, Kora! Wollen wir nicht lieber noch ein Weilchen warten und zusehen, was uns die nächste Zeit bringt?“
Sie nickte ihm lächelnd zu. Dann erhob sie sich und stellte die Schüsseln zusammen. Als sie in seine Nähe kam, fuhr sie ihm mit der Hand durchs Haar.
„Es wird schon werden!“ sagte sie tröstend. „Auf jeden Fall werden wir Marina in den nächsten Wochen recht häufig abholen und mit ihr ausfahren!“
Kora wußte nun genau, wie es um ihren Bruder stand. Aber in Gedanken beschäftigte sie sich noch ohne Unterlaß mit dem Problem, wie den beiden zu helfen wäre. Sie hatte einen wachen Verstand mitbekommen und ging gern den Dingen auf den Grund. Sie tat nichts lieber, als mit ihrem Bruder über juristische Fragen zu diskutieren und Meinung und Gegenmeinung gegeneinander abzuwägen. Und so versuchte sie jetzt, dem Standpunkt ihres Bruders Verständnis abzugewinnen. Aber sie mußte es bald aufgeben, Igor blieb ihr ein großes Rätsel.
Oder war es etwa eine Selbstverständlichkeit, daß er in allen Lebensfragen eine betont männliche Haltung einnahm, aber ausgerechnet Marina gegenüber eine Scheu an den Tag legte, die schon beinahe mädchenhaft war. In ihrem ersten Aerger darüber, daß er ihr diese Nuß zu knacken aufgegeben, nannte sie sein Benehmen sogar ausgesprochen unmännlich. Erst als sie tiefer in dieses Problem eingedrungen war, wurde sie sachlicher und versuchte, ihn zu verstehen. Aber trotzdem war sie weit davon entfernt, sein Verhalten etwa gutzuheißen.
Und darum beschloß sie, dieses heikle Thema zur Sprache zu bringen, sobald sie wieder einmal mit Marina zusammentraf. Sie dachte zwar nicht daran, etwa als Anwältin ihres Bruders oder gar als dessen Brautwerberin aufzutreten, aber es konnte nicht schaden, wenn sie wenigstens den Boden sondierte und tastend ihre Fühler ausstreckte.
Es war seltsam: Die drei jungen Menschen waren fast jede Woche einmal beisammen und verstanden sich so prächtig, aber ausgerechnet das Nächstliegende berührten sie mit keinem Wort und keiner Geste. Das Problem einer doch immerhin möglichen Liebe zwischen Marina und dem Bruder ihrer Freundin war zwischen ihnen tabu. Sie berührten es einfach nicht. Ob aus Angst oder aus Vorsicht oder auch nur aus Zartgefühl, wer vermöchte das zu sagen?
Aber sie schafften es damit nicht aus der Welt, wie sich sehr bald erweisen sollte. Doch bevor es von einer gänzlich überraschenden Seite aufgerollt wurde, blieb es Kora vorbehalten, ihrerseits einen Vorstoß zu machen,