Mal ehrlich. Christina Hecke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christina Hecke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783843612340
Скачать книгу
Reihenhaus, Altersvorsorge, Sarg­deckel. Auf dieses lineare System haben wir uns geeinigt. Das ist das Grundgefühl von Zugehörigkeit. Ein Leben, das mit der Geburt beginnt und mit dem Tod endet. Und dazwischen suchen wir uns ein kleines bisschen Glück, Liebe, Erfolg … Ist das nicht trostlos? Was geben wir da weiter an die kleinen Großen? Vielmehr …: Was nehmen wir ihnen weg? Weg mit dem Urvertrauen – her mit dem Sicherheitsdenken.

      In diesem Netz des Dazugehörens und Mitmachens werde ich allerdings zunehmend unglücklich. Ich spüre einfach nach wie vor, dass daran irgendwas nicht stimmt. Das Foto meiner Einschulung spricht Bände. Es wird sichtbar: Ab jetzt möchte ich irgendwie gefallen. Ich sehe bezaubernd aus. Lächle brav. Aber der Ausdruck in meinen Augen spricht Bände. Er ist tief traurig. Was ich spätestens jetzt verstanden habe, ist: Es gibt eine äußere Fassade und einen inneren Kern. Das ist langsam, aber sicher nicht mehr Dasselbe. Das geht verloren mit jeder Wiederholung. Die Währung, mit der wir handeln, ist Zugehörigkeit. Zu was oder zu wem? Es ist eine Frage der Frequenz, auf die wir uns einschwingen. Gemeinsame Wahrheit oder Individualisten-Kabarett? Radiostation N°1 oder N°2? Die absolute Mehrheit tanzt Solo. Also auf zum Staatsballett der Solisten! Der vom großen Ganzen Getrennten. Gemeinsam einsam. Wie gut, dass Ballett nie meine Stärke sein wird …

      Familienporträt

      Stark und haltend. So hat sich der Nachmittagsschlaf auf der Brust meines Vaters angefühlt. Daran kann ich mich noch gut erinnern, wenngleich ich da noch sehr klein war. Das waren – Schnarchen hin oder her –tief entspannte und wohlige Momente für mich. Offenbar für uns beide. Ein Moment der Ausdehnung. Verbunden. Warm und vertraut. Es ist die erste Zugehörigkeit, zu der wir uns einreihen – zu der ich mich einreihe. Meine erste Clubmitgliedschaft sozusagen: meine Familie. Frei Haus. Inklusive iher sämtlichen Pflichten und Annehmlichkeiten. Und auch die all derjenigen, die auch noch dazu gehören: Onkel, Tanten, Omas und Opas, Cousinen und Cousins. Für meine Welt sind die Vorstandsvorsitzenden Mama und Papa. Insgeheim sind das vielleicht auch andere …

      »Ich hatte Angst, dich zu zerbrechen«, sind die liebevollen Worte meiner Mutter, die mich im Erwachsenenalter erreichen. Sie waren die Antwort auf meine Frage, warum mein Vater mich als Kind gebadet hat, und nicht sie. Meine leichte und feine Statur hatte meine Mutter dazu bewogen, das ­Baden an ihn abzugeben. Das ist eine mögliche, menschliche Erklärung. Definitiv hat meine Mutter meine Sensitivität gespürt. Mich als pure Reflexion wahrgenommen. Das war ja schon bei der Geburt klar. Vielleicht wäre das Baden und Halten fortführend eine zu große Konfrontation mit ihrer eigenen Sensitivität gewesen …

      Grundsätzlich wird ja dem Verhältnis von Kindern und ihren Eltern nachgesagt, dass Mütter & Söhne sowie Väter & Töchter eine besondere Bindung haben. Dass dem Vater im Leben einer Frau eine ganz spezielle Rolle zuteilwird, so wie der Mutter im Leben eines Mannes. Das wird auch in meinem Leben schon ganz zu Beginn deutlich. Mal ehrlich. Hier sind sie wieder: Diese Momente. Es sind Entscheidungen. Beispielsweise die Frage nach den Clubvorsitzenden: Mama und Papa. Kann ich meinen Vater als den Menschen sehen, den ich mir mit all seinen Bedürfnissen, Prägungen und Eigenschaften ausgesucht habe, mich großzuziehen – oder: mache ich ihn zu meinem ganz eigenen Papa. Ist meine Mutter für mich die Frau, die ich mir ausgesucht habe, mich zu unterstützen, groß zu werden, mit meinem tiefen Respekt für ihre Eigenschaften, Werte und Schwachstellen – oder: ist das einfach nur Meine-ich-will-mich-bei-dir-wohlfühlen-sorg-für-mich-Mama.

      Mein. Ganz. Eigener. Papa. Meine. Ganz. Eigene. Mama.

      Das machen die mit mir ja auch. Unsere Tochter. Was da wohl auch schon für Vorstellungen dran hängen …? Unsere. Tochter. Rums. Das sind Worte, die schon für sich genommen eine große Bürde sind. Für beide Parteien. Ein Brauchen und ein Gebrauchtwerden. Ein Besitz. Ein Feuerwerk an Ansprüchen und Erwartungen. Beladen mit Bildern und Vorstellungen, die uns dann definieren: Rollenbildern. Später wird sich in unserem Zusammenleben zeigen, dass diese vorgefertigten Schablonen die Grundbausteine für gegenseitige Forderungshaltungen sind – und damit auch die Basis dafür, dass ich und/oder meine Eltern potenziell enttäuscht oder begeistert werden könnten. Jedenfalls begründet es eine Art ständige Erwartungshaltung, eine emotionale Bindung. Die hat ja auch wahnsinnig schöne Seiten. Die Verantwortung füreinander zum Beispiel. Bei den Eltern im Bett schlafen, sonntags spazieren gehen, im Garten grillen. Und das genau lieben wir! Naja: Lieben insofern, als es das nächst Beste ist, das uns zur Verfügung steht. Wir greifen nach allem, was uns verbunden fühlen lässt.

      Wir brauchen uns gegenseitig, um uns verbunden zu fühlen, weil wir das Zusammengehörigkeitsgefühl auf globalem Grund abgestreift haben. Dieser Ersatz schafft Abhängigkeiten. Menschliche Verbindungen. Die wiederum das gewünschte Zugehörigkeitsgefühl hervorbringen. Es ist aber eine reduzierte Version. Lieben tun wir das im Inneren also nicht wirklich, würde ich meinen. Denn Liebe braucht nichts. Liebe ist. Nur: das Sein ist irgendwann nicht mehr genug. Und dann braucht es diesen Ersatz, die emotionale Bindung an konkrete Menschen, um den Verlust des Gefühls umfassender, universeller Zugehörigkeit und Allverbundenheit kompensieren zu können. Das Ersatzgefühl dafür, dass wir energetisch alle verbunden sind, ewig und unbedingt geliebt, daraus aber eine totgeglaubte Sache gemacht haben. Das klingt in manchen Ohren vielleicht überzogen. Aber seien wir doch mal ehrlich: Genau das ist es, was wir da machen! Oder würden Sie sagen, dass Sie frei von jeder Erwartung innerhalb der Familie, ihrer Beziehung oder ihren Freundschaften wären? Wir knüpfen emotionale Bande. Wir personifizieren, belegen uns mit Erwartungen und Bildern auf Basis dieser emotionalen Struktur, weil wir nur diese Realität sehen: Mensch zu Mensch. Materie zu Materie. Nichts weiter. Nicht: Seele zu Seele. Nicht: Lernschritte im großen Zusammenhang.

      Ganz praktisch gesprochen: Selbstverständlich sind das Mama und Papa. Aber: Sie sind vor allem Menschen – inkarnierte Spirits – mit Hausaufgaben! Und sie haben ihre Geschichte. Sie haben ihre Verletzungen, Ängste, etwas falsch zu machen, Vorsätze, etwas besonders richtig machen zu wollen – eben ihr Netz aus ihren Entscheidungen und Prägungen, in das sie sich eingewoben haben. Und alleine die Tatsache, dass ich geboren bin – so sehr beide ihre Liebe für mich haben – so sehr sind sie auch schon mit Wünschen und Erwartungen an mich unterwegs. Wir sind schon beschwert mit Bildern davon, wie wir zu sein haben. Und sei es nur der Fakt, dass ich ein Mädchen bin. Es sind unsere Ansprüche aneinander, die unausgesprochen zwischen uns liegen. Mit welcher Wucht das volle Menschenleben da auf einen einbricht, wenn man auf die Welt kommt!

      Ich weiß, dass meine Eltern nicht frei sind, mich einfach nur unterstützen zu wollen und mich frei von ihren Erwartungen in die Welt hinein zu begleiten. Ich hab die beiden ja beobachtet und ausgesucht. Diese Gewissheit schrumpft allerdings mit jedem Tag. Mit jedem Mama- und Papa-Ausruf. Denn ich bediene damit immer das mein. Also den Besitz. Das ist wenig universell. Ich weiß, dass schon bei meiner Geburt auch bei ihnen eine ganz lange Liste von Do’s and Don’ts im Hintergrund stand. Ob die zu mir passen oder nicht, wird von ihnen nur nicht hinterfragt. Ob die zu ihnen selbst passen, haben sie vielleicht ebenso wenig hinterfragt. Weil man das nicht tut. Man ist nur mit Weitermachen beschäftigt. Nie aber mit Anhalten und Nachspüren oder gar Hinterfragen. Denn ob wir einfach weitergeben, was uns beigebracht wurde, oder ob wir es überprüfen und womöglich neue Wege gehen, das wäre eben wieder eine Entscheidung. Die treffen die wenigsten. Da soll noch einer sagen: junges Familienglück!

      Während sich meine Intelligenz darauf beruft zu wissen, wann ich Hunger habe oder schlafen möchte – übrigens auch keine durch ein Studium erlangten Fähigkeiten, sondern das Wissen einer tiefen Körperintelligenz. Die Basis dieser Intelligenz hält mich auch noch sensibilisiert für diese Deals, die um mich herum ablaufen, und denen ich möglicherweise schon mit meiner Reinkarnation bereitwillig zugestimmt, oder sie wenigstens billigend in Kauf genommen habe.

      In diesem Gefüge Familie haben alle ihre Kämpfe auszutragen. Wir sind alle mit Schablonen und Ansprüchen konfrontiert, die wir als Menschheit selbst kreiert haben. Was es beispielsweise bedeutet, eine gute Mutter zu sein? Alleine an dieser Frage arbeiten sich Generationen für Generationen ab. Vor allem hält sich die Frage hartnäckig. Weil man es »richtig« machen will, statt einfach nur zu »vertrauen«. Sehen Sie, wie sich dieses verteufelte Richtig & Falsch-Prinzip überall seine Plattform sucht? Als ob es eine Blaupause für’s Menschsein