Mal ehrlich. Christina Hecke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christina Hecke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783843612340
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Wesen. Nicht nur ein Mitschüler. Da zieht die gedankenverlorene Weitergabe von Wertungen und Schablonen seine Kreise. Ein wahrscheinlich ganz sensibler, feiner Junge ist schon so von Bildern geprägt, dass er mir volle Breitseite diesen Spruch verpasst. Und das scheppert ordentlich in mir. Wahrscheinlich nochmal mehr, weil ich mich mit dieser blöden Wie-sind-Jungs-und-wie-sind-Mädchen?-Etikettiererei eh schon rumschlagen muss. Mir wird das Gefühl vermittelt, mit mir sei was nicht in Ordnung. Ich sei in irgendeinem Punkt falsch. Kennen Sie das? Da hat jemand etwas Hässliches oder Wertendes über Sie gesagt, als Sie noch Kind waren – vielleicht sogar jemand, den Sie mochten. Womöglich nur in einem Nebensatz. Vielleicht einen Satz wie: »Lass das mal, du hast eh keine Ahnung. Ich mach das« oder: »Das kannst du nicht. Du bist ein Mädchen.« Und schon ist sie da, die Offerte der Entscheidung: Nehmen Sie das Paket »Wertlosigkeit« an, sinken ins Drama des Daseins und verhärten sich in Reaktionen – also übernehmen diesen Glaubenssatz und verbuddeln ihr Selbstvertrauen? Halten Sie also für den Rest des Lebens an einer Aussage fest, die eine Person Ihnen gegenüber getroffen hat, die alles, nur nicht wirklich Sie, also ihr wahres Wesen kennt und Sie mit einem nicht-wertschätzenden Blick angesprochen hat? Oder durchdringen Sie das Spiel, bleiben bei sich und in dem tiefen Vertrauen darauf, dass Sie spüren, dass das nicht stimmt – dass dieser dumme Spruch nicht zu Ihnen gehört. Dass er zu dem Ich-bezogenen Sender N°2 gehört, der Sie bewusst verletzen will, um Sie klein zu halten, damit Sie nicht ihre eigenen Schritte gehen. Damit Sender N°1 keine Option wird.

      Apropos eigene Schritte. Dazu fällt mir ein von meinem Vater immer wieder gerne zitierter Moment unsere Familiengeschichte ein: Wir waren mal irgendwo auf einer Bergwanderung. In dem Wort liegt schon das Potenzial von Höhe verborgen. Familie Hecke läuft auf einen Gipfel zu, ich kleiner Knirps löse mich von der Truppe, renne zur äußersten Kante. »Deine Fußspitzen ragten über dem Abgrund«, sagt mein Vater. Und fährt fort: » … mir ist das Herz stehengeblieben. Es ging tausend Meter in die Tiefe. Du aber hast die Arme ausgestreckt und gerufen Schau mal, Papi, ich bin ein Vögelchen!« – Angstbefreit? Möglich. Grenzgängerisch? Definitv! Das ist nur ein kleiner Vorgeschmack auf mein ganz eigenes Wettbewerbsprinzip, auf das ich mich später eingelassen habe. Vielleicht eine Rebellion gegen das Mädchen joah-Klischee. Es wird ein Wettbewerb mit mir selbst. Schaffe ich es allein? Wie weit kann ich gehen? Aber auch das, so werde ich später erkennen, ist nur das Ausmaß einer Kette von Reaktionen auf das, was mir bis dahin schon alles begegnet ist. Was ich wohl noch alles würde ausloten wollen auf dieser Reise …?

      Als Kinder sind wir noch klein, was unmittelbar Versorgungsgefühle bei den Großen auslöst. Das ist auch gut so, denn wir können uns ja noch nicht alleine versorgen. So ist das Phänomen Beschützerinstinkt ein wunderbares Element der Grundausstattung unserer Spezies. Das haben wir einfach. Woher?, finde ich interessant zu fragen. Aus der Schule sicherlich nicht. Ich erinnere jedenfalls keine Unterrichtsstunde, in der »Babys versorgen und gernhaben« an der Tafel stand. Sie? Wir haben das einfach. Eine Selbstverständlichkeit. Beruhend auf dem eigentlich tiefen Gefühl der Verbundenheit. Woher sonst? Es ist uns gegeben. Und wie wir leider aus dem Beispiel der Kindstötung bei »falschem« Geschlecht in anderen Kulturen wissen, kann dieser Beschützerinstinkt auch ignoriert werden. In dem Fall, würde ich meinen, wurde er einfach nur überlagert von all dem Wissen, dem Angelernten, dem »Richtig & Falsch« der nicht hinterfragten Traditionen und Rituale. Ich bin sicher: Ablegen kann man das nicht. Aber ignorieren.

      In diesem Zusammenhang klingt für mich eine vertiefende Frage an: Was machen wir mit dieser Fähigkeit, wenn wir sie annehmen? Wie verantwortungsbewusst üben wir sie aus? Wie gehen wir mit den Kindern um? Schauen wir uns zum Beispiel an, hören wir zu, was das Kind wirklich braucht, oder ist es mehr die eigene Freude am »Geliebtwerden« oder was immer die Motivation ist, wenn wir von Kinderaugen angestrahlt werden, denen wir gerade ein Geschenk gemacht haben?

      Dazu die Praxis. Wir siedeln jäh in den Garten meiner Großeltern über. Ostern 1981. Vor einiger Zeit habe ich ein altes High8-Video zugespielt bekommen. Aufnahmen, die mein Großvater gemacht hat. Tonlos und in Sepia-gelb. Und verwackelt. Also kaum Netflix-tauglich. Aber das aufschlussreichste Geschenk, das mir je in die Hände gefallen ist. Es zeigt meine Familie und mich. Ich sitze da vor einer winzig kleinen Tanne, kaum 30 cm hoch – ich selbst habe übrigens auch ein kaum höheres Stockmaß – und erfreue mich sichtlich an diesem Gewächs. Sprechen und Laufen sind noch nicht meine Stärken. Ich genieße einfach. Nur ich und dieses junge, grüne Leben. In diese Idylle hinein greifen zwei lange Arme eines deutlich größeren Menschenwesens, werfen mich jubelnd in die Luft – mehrfach – bis ich mich schier überschlage. Durchlässigkeit ist offenbar ein Teil meiner Grundausstattung, die ich für dieses Leben gewählt habe, denn es wird sofort deutlich: Meinem Vergnügen dient das hier gerade nicht! Mit Sicherheit würde der »Werfer« aus dieser Geschichte Stein und Bein schwören, dass er aus Liebe gehandelt und mir weiß Gott nichts Böses wollte. Im Gegenteil. Er wollte mich erheitern. Aber ich frage jetzt mal: warum? Warum ist die Stille und die Seligkeit des Kindes, vertraut im Eins-Sein mit Natur und sich selbst, »erheiternsbedürftig« – oder möglicherweise schier nicht auszuhalten? Ja, wir sind in dieser Phase des Lebens kleine Menschen, die Schutz brauchen. Wir können noch nicht selbst einkaufen, kochen oder sonst was. Aber wir großen Menschen erlauben uns einfach, mit Macht, Entscheidungsgewalt und Respektlosigkeit über diese kleinen Menschen zu entscheiden und zu machen, was wir gerne hätten.

      Es bleibt interessant. Denn was in dem Video weiter unter den Höhenflügen vier und fünf geschieht, ist für mich im Erwachsenenalter zu betrachten mehr als aufschlussreich. Offenbar lasse ich mich nämlich von der Freude des Werfenden so sehr ergreifen, dass ich anfange mitzumachen. Mitzulachen. Also mein ursprüngliches Gefühl zu überschreiben. Ich hätte ja auch losheulen können. Nein – ich lache mit. Ich lache übrigens heute noch, wenn richtig schlimme Dinge geschehen. Unfälle oder andere schockierende Ereignisse. Und dieses Video zeigt mir, dass viele Situationen ähnlicher Couleur dazu geführt haben, mich mehr und mehr hinten anzustellen, und das, was ich für richtig halte oder gerne gemacht hätte, zugunsten der Erheiterung meines Gegenübers einzutauschen. Zu kompensieren aus Sympathie für die anderen. Der Todesstoß für jeden klaren Blick. All diese kleinen Momente, diese Zwischentöne und bewussten oder unbewussten Entscheidungen waren Schritte weg von dem, was ich mit einem Gefühl von Allverbundenheit meine. Dem Gefühl der Existenz in einem Bewusstsein, dass ich für niemanden etwas tun oder sein muss. Auch für mich nicht. Dass mein Leben, also mein Handeln, keine Bürde oder Pflicht ist. Aber sowohl dem Erwachsenen, der sich offenbar nicht zu meiner Freude, sondern zu dessen eigenen Vergnügen erlaubt hat, mich durch die Luft zu schleudern, als auch mir, die es nach einiger Zeit mit dem ersehnten Widerhall des kindlichen Kieksens zurückgegeben hat, obliegt es, eine Entscheidung zu treffen: mit-zu-­machen oder mit-sich-eins-zu-bleiben. Also mache ich etwas oder bin ich. Aus einem rein menschlichen Blickwinkel macht das Sinn: das Mitmachen. Das Adere-nicht-enttäuschen-Wollen. Dazugehören. Denn: Wer will nicht geliebt werden! Wer wird gerne zurückgewiesen?

      Meine Kindergartenerfahrung schlägt eine weitere Kerbe ins Holz. Ein weiterer Warnschuss: »Reih dich ein!« Damals reihe ich mich aber noch nicht ein. Ich mache nicht mit, ich will ums Überleben nicht in den Kindergarten. Ich schreie, bis ich die Luft anhalte und umfalle. Man nennt das fachgerecht »frühkindliche Hysterie«. Zack: Label drauf. Denn warum ich nicht dahin will, ist kein Thema. Ich funktioniere nicht. Das reicht, um einen Gang zum Arzt und eine Diagnose zu rechtfertigen. Der Hinweis meiner Kinderärztin, dass ich, wenn das nicht aufhört, zu einem Kinderpsychologen muss, trifft meine Mutter hart. Das spüre ich. Sie will ja auch nicht unangenehm auffallen mit so einem Brüllkäfer. Und auch, wenn das eben mein Ausdruck ist, zu sagen: »Hört mich doch bitte!« (zugegeben laut – ich hoffte, auch wirksam … naja.), spüre ich und muss erkennen: Das ist nicht das geeignete Mittel. Denn Mamas Liebe will ich nicht verlieren. Ich gebe also auf und stelle das Gebrülle ein. Ich reihe mich ein. Ich muss erkennen, dass Mitlaufen ein Teil dessen ist, was das Menschsein auszumachen scheint. Dass mir die Nonnen im katholischen Kindergarten mit ihren dunklen Kutten Angst machen, dass die anderen Kinder mir Angst machen, dass dieses Lernen mit anderen außerhalb der Familie, mit denen ich nun umgehen muss, eine Aufgabe für mich ist – darüber reden wir nicht. Das da Energien spürbar werden, die mich einschüchtern sollen, auch nicht. Da mussten alle durch. Es wird nicht gesehen. Nicht, weil das keiner will. Diese Liebe würde ich meinen Eltern schon zuschreiben. Aber