Mal ehrlich. Christina Hecke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christina Hecke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783843612340
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Sicherheit … Weil wir unsere eigene Größe, und damit unsere Verantwortung, scheuen.

      Und was wir eigentlich damit anstellen ist fatal: Wir geraten immer mehr in die Umlaufbahn unseres Selbst und damit auch immer tiefer rein in die Form, die Materie, und in die Reduktion auf das ausschließlich Menschliche. Geprägt von der Idee von Zeit. Von Anfangs- und Endpunkt. Ein philosophischer Weiser hat mal gesagt: Es ist ja die Erde, die sich dreht, und wir sind es, die wir uns an einem Punkt aufhalten. Und während sie sich dreht, sehen wir eben manchmal die Sonne und manchmal den Mond. Das nennen wir dann Tag und Nacht und glauben deshalb, dass es Zeit gibt. Aber genauer betrachtet ist das eine Illusion. Es ist eine Richtmöglichkeit, um im menschlichen Dasein Orientierung zu finden. Aber universell betrachtet gibt es keine Zeit. Es gibt nur Ausdehnung. Kreisläufe und Himmelsrichtungen. Und die Sterne. Und wir mittendrin.

      Ich weiß – das mag jetzt für den einen oder die andere nach der ultimativen Spaßbremse klingen. Denn es nimmt dem Wettbewerb, der Identifikation mit dem Materiellen, dem Menschlichen -letztlich jeder Energie von Konkurrenz und Vergleich den Atem. Aber verstehen Sie die Leichtigkeit dahinter? Es lädt etwas ganz Neues oder besser Altes ein: Vertrauen. Wertschätzung für jeden Einzelnen fern von seiner Leistungsfähigkeit, dem ständigen Getrieben-Sein im Besser & Schneller des Leistungsprinzips. Sehen Sie das Ausmaß?! Den Sinn der wissenschaftlichen Forschung beispielsweise könnten wir auf diesem Fundament neu definieren! Es ginge nicht mehr darum, ob wir Preise für unsere Entdeckungen erhalten, berühmt werden oder viel Geld verdienen, sondern schlicht nur darum, ob und wie uns die entsprechende Errungenschaft als Gesamtem dient: ob sie uns gemeinsam voranbringt.

      Schon während meiner ersten Lebenstage wird das Ausmaß der Reduktion auf das Menschliche zum Thema Forschung und wissenschaftlicher Erkenntnis für mich zu einer lustigen Erfahrung. Meine Eltern haben zunächst keinen Namen für mich! Nicht, weil sie einfallslos waren – sie hatten nur etwas anderes erwartet. Ein Stefan war geplant. Die moderne Medizin hatte nämlich ein Jungen prophezeit – und dann kam ein Mädchen. Baby Hecke steht also erstmal auf meinem Armbändchen. Alleine mein Geschlecht löst schon die erste Irritation aus. Nun: Ich bin eben ein Mädchen! Ich freue mich übrigens, dass ich später mit Christina neu betitelt werde. Mag ich, den Namen. Meinen Eltern wurde halt was anderes in Aussicht gestellt. Die Diagnostik hat sicher schon so manches Familienglück an dieser Stelle irritiert. Zu meiner Freude freuen sich die beiden über mich. Aber ist das nicht lustig? Da öffnet sich schon die nächste Kiste des menschlichen Beisammseins. Mädchen – joah. Bübchen – boah! Nur ein Klischee? Ich erlaube mir hier leise die Frage: Wie ist das denn im menschlichen Sinne mit der Wertegleichheit von Lebewesen? Energetisch sind wir eins. Fein. Aber wie sieht das Zusammenleben in der Praxis aus? Fakt ist: Wäre ich in einem anderen Kulturkreis geboren, hätte man mich vielleicht nur aus diesem einen Grund schon entsorgt, weil ich ein Mädchen bin. Diese Lernaufgabe habe ich mir offensichtlich für dieses Leben nicht ausgesucht. Aber ist es nicht spannend: Schon mit dem ersten Atemzug sind wir nicht mehr frei! Familie, Geschlecht, Herkunft, Bildungsgrad, Stand und politische Ausrichtung, kurz: wir werden beklebt mit hausgemachten Etiketten, die uns mit Rechten und Pflichten konfrontieren. Ob wir die schlussendlich annehmen, liegt bei uns, aber entziehen können wir uns ihnen zunächst nicht. Alleine die Tatsache, dass sich das Wort Geschlechterkampf in unserem Sprachrepertoire wiederfindet, ist doch traurig. Wie wäre es mit »Geschlechterinspiration«? Ich kann nur sagen, dass mir diese Zuschreibungen als kleines Mädchen völlig schleierhaft sind. Im Laufe meines jungen Lebens muss ich lernen, dass man mich kategorisiert mit Attributen, was typisch für ein Mädchen ist und was nicht. Mir werden tausend Schablonen vorgelegt, wie sich ein Mädchen oder eine Frau zu verhalten haben oder nicht. Dieses Repertoire gibt es auch für die Jungs. Logo. Da sind wir schon sehr einfallsreich. Erfahrungswerte der Großen werden zu Richtlinien für die Kleinen. Es ist die ständige Wiederholung von Glaubenssätzen, die wir nicht hinterfragen. Entschuldigen Sie, dass es mich hier gerade würgt. Aber die Regeln der Reduktion sind schon verdammt eng.

      Beispielsweise gab es für mich früher nichts Spannenderes, als bei unserem Nachbarn, einem sehr lustigen, älteren Herrn, im Keller zu basteln. Oder Kaulquappen mit ihm zu züchten oder angeln zu gehen – eben die Welt zu entdecken. Alles Handwerkliche, Dinge zu reparieren oder zu bauen, hat mir große Freude gemacht. Mein größtes Erlebnis war, als ich als Sieben- oder Achtjährige an einem Weihnachtsabend alleine mit dem Werkzeug meines Vaters ein Radio gänzlich zerlegt und es anschließend wieder zusammengebaut habe. Und: es hat noch funktioniert! Obwohl ein paar Kleinteile übriggeblieben sind. Als ich das präsentiere, wird meine Freude schon mit: »An dir ist ein Junge verlorengegangen« kommentiert. Etikettiert. Sowas machen sonst nur Jungs. Was soll das? Ich werde an einer Norm gemessen. Ich bin aber keine Norm. Ich bin. Ich. Und so wie ich bin, bin ich wundervoll. Ein einzigartiger Winkel des Universums. Davon bin ich als Kind überzeugt. Damals kann ich das noch spüren und trabe auf den lieblosen Kommentar hin nur motzig davon. Mir schmeckt diese Bewertung nicht. Das kann für mich nur spürbar sein, weil ich in mir ein Wissen über die Wahrheit unseres Zusammenlebens trage, das mir sagt: »Ich bin nicht diese Etikette. So wie ich bin, bin ich prima.« Ich höre auf die Frequenz, die mir zufunkt: »Glaub nicht denen, vertraue dir selbst!«. Wie sonst hätte ich einen Referenzpunkt dafür, dass diese Beurteilung nichts Wahres ist? Die Andockstelle für die gemeinsame, universelle Wahrheit haben wir alle. Jeder, jede andere kann das genauso fühlen wie ich damals als Kind. Nur leben wir nicht danach. So hinterlässt jeder kleine Angriff auf diese Unbeschwertheit in mir eine kleine Wunde. Einen kleinen Knacks. Noch ist mir nicht klar, was das langfristig bedeuten wird …

      Ich kann nur sagen: Ich liebe es, ein Mädchen zu sein. Ein Mädchen, das eben Radios auseinanderbaut, Puppen nicht mag und lieber auf Bäumen rumklettert. Und? Wieso ist diese Entdeckerfreude nicht der einzig relevante Parameter, unter dem ich mich bewegen darf? Erziehung orientiert sich oft gar nicht an den Qualitäten der Heranwachsenden selbst. Stattdessen stellen wir Regeln und Maßstäbe auf, um Messbarkeit zu ermöglichen. Wir geben oder fordern für alles ein Zeugnis oder einen Führerschein. Nur für die Erziehung eines Kindes nicht. Ob als Eltern oder Lehrer – welche Grundlage schaffen wir für unser Zusammensein, wenn wir einander immer nur an vorgegebenen Maßstäben abgleichen und vergleichen, statt das eigene Wesen und Potenzial wahrzunehmen? Auch das ist Teil des Spiels »Leistungsprinzip«. Da stecken wir drin bis zum Hals. Ab wann wird abgestillt, ab wann muss das Kind sprechen können, ab wann muss es laufen, rechnen, Flöte spielen können? Wir etablieren Richtwerte. Welche Titel die auch immer tragen. Für wen machen wir das, außer für unsere eigene Einordbarkeit, unsere Schablonenregale? Es dient letztlich nur unserer eigenen Sicherheit und damit dem Systemerhalt des Sicherheitsdenkens. Wir Erwachsenen meinen, wir müssten führen, einstufen können, urteilsfähig sein. Unseren Umgang mit den Dingen und den Menschen erklären können. Aber ich, gerade aus der Perspektive eines Kindes, kann ich sagen: »Verantwortung: super! Aber ich mag nicht bewertet werden! Ich will in keine Box gequetscht werden. Ich will mich ausdehnen! Ich fange doch gerade erst an zu blühen!« Vielleicht haben Sie das ja auch in irgendeiner Form erlebt. Bewertung. Ob gut oder schlecht. Sie prägt. Wir sind alle durch eine Erziehung gegangen und haben alle mehr oder minder unter den vorgelebten Schablonen und schulischen Strukturen gelitten oder sie fröhlich bedient. Beides mögliche Wahlen für oder gegen Eigenverantwortung. Aber statt diese Schablonen zu entlarven, geben wir sie fröhlich weiter an die nachfolgenden Generationen.

      Wieso hinterfragen wir das nicht? Mochten Sie das als Kind all diesem »Richtig & Falsch« ausgesetzt zu sein? »Später werden wir uns gegen die Bewertungen von außen auf heroische Art und Weise zur Wehr setzen«, so denken wir als Kinder noch! So denke ich damals auch, als ich mit meiner Bastelfreude auf Jungenhaftigkeit reduziert werde. Aber schon die Reaktionen auf diese ersten Prägungen verstricken mich so tief, dass ich ab da glaube, mich »freischwimmen« ­zu müssen. Diese späteren, pubertären oder lebenslangen Rebellionen sind ein sich im Kreis drehendes Model. Es ist die Reaktion auf die Reaktion auf die Reaktion. Letztlich »verbessern« wir vielleicht unser Dasein aus unserer Sicht, aber das Fundament ist dann schon lange nicht mehr unsere wahre Kraft. Es wird die eines Kriegers oder einer Kriegerin sein. Es sind nämlich die kleinen Dinge, die stetig auf uns einwirken, deren Prägung wir annehmen. Mit jeder Entscheidung. Freier Wille. Für oder gegen die innere Wahrheit …

      Als junges Mädchen mache ich noch andere Dinge, die nicht in die mir vorgelegte Schablone passen.