Mal ehrlich. Christina Hecke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christina Hecke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783843612340
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ihren Entscheidungen gehangen – ob sie mir gefallen haben oder nicht. Ihre Wahl der Nahrung kam ungefragt bei mir an. Vibrationen und Töne, Stimmungen und Gemütszustände. Fremde Hände, die den Bauch meiner Mutter berührt haben – also auch mich. Ich stecke zwar gerade in einem winzigen Körper, aber meine Wahrnehmung ist voll ausgereift. Und mein Hausaufgabenheft prall gefüllt.

      Sie können jetzt selbstverständlich wissenschaftliche Theorien und Statistiken über meine Aussage ergießen – das obliegt Ihnen. Ich wäre an dieser Stelle nur in der misslichen Lage, dass ich, so ist das in einer Beweislast-Position, Ihnen etwas beweisen müsste, das ich nicht beweisen kann. Da mir die Dinge einfach nur gewiss sind. Derzeit ist mein einziger »Beweis« dafür, dass es so war: mein Bewusstsein – oder nennen Sie es ein tieferes Wissen, eine Angebundenheit. Das ist schier unmöglich zu beweisen. Es wäre natürlich einfacher für Sie und mich, hätte ich im Bauch meiner Mutter ein Handy dabeigehabt. Irgendetwas, um zu dokumentieren, was ich hier behaupte. Wir wissen gerade beide, dass das ein großer Blödsinn ist. Ich hätte damit ja auch nur einen Beweis über das Außen dokumentieren und nicht das Fühlen beweisen können. Also bleibe ich lieber bei dem, was mir bewusst ist, und unterziehe es keinem statistischen Analyseversuch. Es wäre ein Urteil über Richtig und Falsch. Und wie eingangs erwähnt, möchte ich uns beide da gerne raushalten. Denn das scheint mir ein weiterer, eiternder Stachel im Fleisch unserer Wahrnehmung zu sein: dass wir immer nach diesen Lösungen suchen. Uns gerne im Kampf um »Richtig & Falsch« verlieren, statt uns gegenseitig einfach mal zuzuhören. Und Aussagen erstmal nachklingen zu lassen, statt direkt mit möglichen Antworten zurückzuschießen, weil wir glauben, wir wissen es besser. Die vielen Perspektiven zu genießen – die so reich sind, so vielzählig, wie es Menschen gibt.

      Außer meinem Gefühl von tiefer Verbundenheit, einer Art Urvertrauen, habe ich am Abend des 22. 02. 1979 nichts vorzuweisen. Der Beweis liegt also darin, dass ich bin. Nicht was ich kann. Nicht mehr – und nicht weniger. Wie ich da im Kreissaal in Stuttgart mein Leben beginne, liegt Schrecken in der Luft. Eine ganze Reihe an Informationen, vor allem aber: Lebensgefahr. Das drohende Ableben meiner Mutter. Mein Vater sitzt in einem Zug irgendwo zwischen Mannheim und Ludwigsburg mit Stromausfall fest. Mein erster Schritt ist zwar getan: Ich bin da. Aber schon hat die ganze Sache ein enormes Ausmaß. Nicht das romantische Papi-Mami-Kind-Bild. Versuchen Sie bitte erst gar nicht, hier ein Kindheitstrauma reinzuprojizieren. Ich bin damit vollkommen im Frieden. Ich trage nämlich noch keinen Vergleich in mir. Der wird mir erst später angeboten, durch ein Idealbild, wie es hätte gewesen sein können. Durch einen Abgleich mit dem, wie es mal war oder wie wir es uns wünschen, prägen wir unser Hier und Jetzt ständig! Wäre ich jetzt ein Erwachsener, würde ich nämlich vielleicht schon in Panik um das Leben meiner Mutter bangen, ich würde telefonieren, schreien, flehen, hilflos im Netz recherchieren: was weiß ich. Aber das Schöne am Neubeginn ist, dass bei all dem Wahrnehmen, der Unmittelbarkeit, noch eine Art »Stille-Bonus« im Gepäck liegt. Den habe ich mir ausgesucht mitzubringen. Der liegt in meinem Warenkorb. Ich weiß insgeheim: Egal, was passieren wird, es hat einen Sinn. Ob für meine Mutter oder mich oder für sonst wen. Ich weiß: alles seinen Rhythmus.

      Auch wenn meine Mutter jetzt sterben sollte, auch wenn mir etwas passieren sollte – es ist alles gut. So, wie es ist. Wir kommen und gehen sowieso in denselben Zustand zurück. Den Zustand der Formlosigkeit. Alle. Eines Tages. Da bleibt keiner zurück. Das ist mir gewiss. Diese Liebe, das Gefühl von haltender, bedingungsloser und allumfassender Liebe ist das Nest, aus dem ich gefallen bin. Und da bin ich kein Sonderling der Ausgabe »besonders liebender Mensch«, sondern ein Mensch wie jeder andere auch. Das ist ein tief verankertes Gefühl, ein Wissen, zu dem jede und jeder Zugang hat. Da bin ich mir sicher. Das spüre ich, wenn ich Menschen in die Augen schaue. Ob der Einzelne das wählt oder nicht. Da bin ich, wie gesagt, nichts Besonderes. Diesen Zugang habe ich mir bewahrt. Das ist alles. Der Beweis liegt damals schon darin, dass ich unter all dem Stress um mich herum diese Qualität in mir wiederfinden kann. Daran andocken kann. Ich trage sie in mir. Ich kann sie atmen. Ich bin ruhig. Ich bin leicht. Umgeben von einem sehr praktischen Handeln der zuständigen Schwestern und Ärzte, die sich bemühen auszustrahlen: »Wir haben das im Griff.« Aber fühlen tun wir alle: Das hier ist eine schwierige Situation. Schwierig, weil wir glauben, sie steuern zu müssen oder zu können. Wir wollen nicht, dass jemand stirbt, und das zu verhindern, ist die Aufgabe. Dazu gibt es ja die Medizin. Aber die Bedrohung für uns liegt gar nicht im Tod an sich, sie liegt vielmehr in dem Zusammenhang ­begründet, dass wir im Hinblick auf das Leben uns auf eine einzige Existenz begrenzt haben. Die Möglichkeit der Wiedergeburt ausgeschlossen haben. Schwierig ist in Wahrheit also zu akzeptieren, dass es eine Ordnung gibt, die wir nicht durchschauen können. Dass unser Geist reist, von Leben zu Leben. Dass alles nur ein Lernschritt ist. Ein Netz, in dem wir zusammenhängen, in dem alles seinen Rhythmus hat – in dem wir lernen dürfen. Alle. Für meine Mutter gilt es zu lernen: in das Vertrauen zurückzufinden und – loszulassen. Für mich gilt es, die Qualität des Seins nicht zu verlieren. Mein Urvertrauen. Und für die beteiligten Ärzte und Schwestern gilt es ebenfalls, ein Vertrauen in ihre Fähigkeiten, ihre Erfahrungen und Impulse einzunehmen und danach zu handeln. Denn ob ein Körper dann den medizinischen Angeboten folgt – meine Mutter also überlebt – oder ob er es nicht tut – meine Mutter also nicht überlebt –, entscheidet sich ganz woanders. Nämlich auf der Ebene des Nichtmateriellen. Der Seelenebene. Nennen Sie es Seele, nennen Sie es Liebe, Gott. Die Frage nach der Begrifflichkeit ist die bekannte Gretchen-Frage. Denn Begriffe können so verwirrend sein, da sie durch so unterschiedliche Erfahrungen geprägt sind. Das Wort Gott alleine hat schon Nationen, Familien, ganze Kulturen gespalten. Weil man die Definitionsfindung darüber auf dem »Richtig & Falsch-Schachbrett« ausgetragen hat, sich womöglich hinter einer selbsternannten Religion versteckt und damit verteidigt hat – um sich schließlich folgenreich in deren Namen gegenseitig die Köpfe einzuhauen. Religionen wurden von Menschen geschaffen. Es sind Interpretationen dieses Nichtmateriellen, des Göttlichen. Es bleibt an uns zu vertrauen. Uns von den Vorgaben dieser Interpretationen freizumachen. An das Vertrauen zu unser aller Ursprung wieder anzuknüpfen, dem, »was die Welt im Innersten« – was uns alle – zusammenhält. Dieses Netz ist nicht erst seit ­Goethes »Faust« bewusst, der hier durchklingt. Das ist ein uraltes Wissen. Ein Vertrauen in unsere Impulse. In unser Sein. Das Wir, nicht das Ich in unser Handeln zu bringen. »Vom Ich zum Wir durch das Ich als Teil des Wir.« So würde ich resümieren.

      Es ist das Gefühl von Urvertrauen, das mich trägt. Es ist wohl auch nur damit zu erklären, dass ich weder schreie noch weine. Ob meine Mutter geht oder nicht: Es ist gut so, wie es ist. Und auch sie spürt das. Das kommunizieren wir ohne Worte. Und es gelingt ihr loszulassen, und sie schafft es nach einer langen OP, gestärkt am Leben zu bleiben und ihre Entscheidung, erneut Mutter zu werden, anzunehmen. Ja, da gibt es schon jemanden, der ebenfalls Teil meiner Reise ist: meine ältere Schwester Martina. Und auch, wenn meine Mutter und ich an verschieden Orten in dieser Frauenklinik sind, man mich wäscht und versorgt und einpackt, während sie operiert wird, sind wir verbunden. Auch mein verzweifelt ankommen wollender Vater ist in diesem Netz verwoben. Wir alle hängen zusammen. Wir können uns natürlich auch auf die »menschliche Tragik« von Situationen reduzieren und versuchen zu steuern, was wir vielleicht gar nicht steuern können. Aber damit wären wir wieder auf diese eine Existenz reduziert, die sich linear am Horizont entlang zieht. Ohne eine tiefere Bedeutung, ohne Zusammenhang. Ein auf Endlichkeit ausgerichtetes, einmaliges Event. Ein Leben mit dem großen schwarzen Nichts am Ende.

      Es gibt nicht Nichts …

      Schon allein die Tatsache, dass ich das erinnern kann, dass ich heute wieder so fühlen kann, dass ich diese Zusammenhänge sehen und wahrnehmen kann – beweist mir, dass es eine Ebene gibt, die mit materieller Fassbarkeit nichts zu tun hat. All das Praktische, Erfahrbare, Wunderbare auf dieser Welt dient schließlich dem Verständnis unseres Wachstums – der eigenen und damit auch der kollektiven Evolution auf der nichtmateriellen Ebene, nicht auf der materiellen. Auf die haben wir uns nur reduziert. Die Idee davon, dass es nur diese greifbare Welt gibt, in der wir ein buntes Durcheinander aus Tätern und Opfern, Freiwilligen und Unfreiwilligen, Herrschern und Beherrschten erleben, die haben wir geschaffen. Wir haben uns getrennt – und uns hinter dieser Reduktion verschanzt. Und damit haben wir eine Tür geschlossen, die wieder zu öffnen eine Offenbarung wäre. Denn nicht unser Wille ist Dreh- und Angelpunkt unseres Zusammenlebens, sondern es ist die Quelle, die wir mittels