Mal ehrlich. Christina Hecke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christina Hecke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783843612340
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stur …? – haben wir uns später auch ganz schön gekloppt! Eines muss ich dazu sagen: Wir lieben uns. Und es gilt hier, nicht sie zum Übeltäter zu machen. Im Gegenteil. Wir haben uns eben manchmal auf dem Spielfeld der Individualität gemessen. In anderen Momenten der Verbundenheit haben wir liebend Händchen gehalten und gemeinsam das Dschungelbuch gehört. Oder mit Papa »Auf der schwäb’schen Eisenbahn« geträllert. Es ist hilfreich, das alles so aufzudröseln, denn es macht so viel sichtbar. Gäbe es nämlich nicht die Aufmerksamkeit der Eltern, dieses ganze emotionale Paket rund um den Begriff Familie, gäbe es auch nicht das Bedürfnis nach Individualität, Aufmerksamkeit und Belohnung. Wir würden vielleicht nur Händchen haltend nebeneinander hertraben und unbeschwert durch den Tag trotten. Stattdessen gibt es für uns die Ballettschule. Ab dem Tag nicht mehr. ­Jedenfalls nicht für mich. Ich weigere mich. Das Tutu landet in der Ecke. Macht nichts! Gibt ja noch Tennis.

      Aber auch da hat naturgemäß Martina schon zuerst die Füße auf den Platz gebracht. Sie ist ja die Ältere. Und siehe da: Sie ist großartig darin! Ein Ansporn und Vorbild für mich, das auch zu können. Diese Aussage ist natürlich schon tief verblendet durch die Kraft der Konkurrenz. Aber da ich das nicht sehen kann, weil ich schon tief drin verwickelt bin, ist es eben meine Lebensrealität. Das mit dem Tennis läuft soweit also ganz gut. Trotz meiner leichten X-Beine treffe ich die Bälle und tue mein Bestes. Aber auch das findet ein jähes Ende. An dem Tag, an dem ich die Hoden meines Trainers abgeschossen habe. Ich schwöre: Das kann man nicht absichtlich! »Hecke! Runter vom Platz!! Ich will dich hier nie! wieder! sehen!« Hm. Also fand auch meine Tenniskarriere ein abruptes Ende. Dick und ungeschickt. Es sind andere, die über mich richten.

      Ich bin hochsensibel. Sonst würde ich das alles gar nicht mitbekommen. Das ist kein Talent, das ist eine Grundausstattung! Die Grundausstattung von uns allen. Wir sind alle hochsensibel. Mädels wie Jungs. Auch die Jungs. Weiß ich! Mit denen verbringe ich nämlich in meinen Kindertagen viel mehr Zeit als mit den Mädchen. Aber vor deren Mamis würden die nie weinen. Machen die einfach nicht. Gehört sich nämlich nicht. Jungs heulen nicht. »Immer stark sein«, sagen die Papis. Boah – ist das anstrengend! Und wieso wissen wir das? Weil wir Kinder uns in Momenten noch erlauben, uns gegenseitig wirklich zu zeigen, wie es uns geht, und zuzulassen, was wir wahrnehmen. Wir reden ehrlich über das, was wir erleben, unabhängig von dem, was offensichtlich ist. Nicht alle. Aber da gibt es zwei. Zwei Jungs aus meiner Grundschulklasse. Wir reden darüber, dass, wenn wir nachts Monster unter unseren Betten gesehen haben – dass die da waren! Wir wissen, dass die Erwachsenen nicht mehr sie selbst sind, wenn sie Alkohol getrunken haben. Da gucken uns Monster an aus den Gesichtern unserer Eltern. Und wir lieben sie trotzdem. Weil wir sie hinter den Fratzen sehen können. Ich halte diese Liebe. Eine ganz lange Zeit. Und ich lasse nicht zu, dass mich die Bilder und die Reduktion auf die Realität, die Beschränkung auf eine Geschlechterrolle, erdrücken. Aber je älter wir werden, desto mehr werden wir reguliert. Was man zusammen machen und was man nicht machen darf, wer mit wem spielen darf und wer nicht. Jungs mit Mädchen oder nicht. Wir sind also schon als Kinder aufgefordert, uns mit diesen Schablonen auseinanderzusetzen. So passe ich also nicht in die Mädchen-Schablone, nicht in die Tennis-Schablone und offensichtlich auch nicht in das Ballerina-Prinzessinnen-Kleid. Scheiß-Spiel! Entdecke ich eben was anderes für mich.

      Reiten! Ein Pferd, das frisst und seine Äppel ablegt und keine Fragen stellt. Nicht manipuliert und nichts erwartet. Außer Hafer vielleicht. Oder mal ein paar Möhren. Das ist irgendwie ehrlich. Der perfekte Ort für mich. Da entladen sich meine Spannungen. Und doch ist es ein Ort, der zu meiner aktuellen Gemütslage passt. Es ist eher ein Zufluchtsort als ein Ort des Wachstums. Ein Ort, an dem ich immer wieder zu mir zurückfinde, wenn ich gar nicht mehr durchblicke. Oder ist es einfach der Ort, an dem ich mich nicht hinter einer Fassade verkrümele …? Meine Gefühle sind zu der Zeit so durchwachsen, dass ich das nicht mehr genau sagen kann. Aber etwas gehört zum Reitstall dazu. Etwas, das immer geholfen hat: die Natur. Die urteilt nämlich nicht. Hat Nietzsche schon gesagt: »In der Natur fühlen wir uns so wohl, weil sie kein Urteil über uns hat.« Kaulquappen züchten, auf Bäume klettern, draußen herumstreunen: Das sind die Wohlfühlmomente meiner Kindheit. Die Natur als Anker im Strudel des menschlichen Daseins …

      Fortan habe ich Stunden im Reitstall verbracht. Pferde geputzt und Ställe ausgemistet. Das hatte was sehr Erdendes. Sollten Sie mal nicht richtig wieder auf die Füße finden: Ein Spaziergang in der Natur hilft immer. Die Verbindung zu sich selbst aufzunehmen, geht draußen am besten. Da haben Sie, wenn Sie so wollen, einen ehrlichen Spiegel. Beständigkeit, Ruhe, Wachstum. Die Vergänglichkeit als Kreislauf … Sommer, Herbst, Winter; Frühling – und wieder von vorne … Das reflektiert die Natur zu jeder Jahreszeit, zu jeder Tageszeit. Im Angesicht dieser Einfachheit lösen sich die schwierigsten Fragen des Kopf-Karussells. Oder fragen Sie beim nächsten Bauernhof mal nach, ob Sie einen Stall ausmisten können. Oder wüten Sie in Pflanzkübeln. Dreck und frische Luft. Das beste Mittel gegen die Zentrifugalkraft des Leistungsprinzips, gemäß dem wir immer mehr versuchen, all unsere Gefühle wegzurationalisieren. Denn das, was wir in der Stille, der Begegnung mit uns selbst offenbart bekommen – und da ist die Natur ein unermüdlich ehrlicher Spiegel – ist ja nicht immer schön. Da fliegen unsere Kompromisse auf, und all die Bewertungen und Urteile, die andere über uns fällen – die zu fühlen wir weggedrückt haben – werden spürbar. Ich weiß als Kind oft gar nicht, wohin mit all den Eindrücken.

      Das erlebe ich auch in der Schule. Da entdecke ich, dass Wissen gut ankommt. Meine Schlussfolgerung: Bin ich eben gut. Entscheide ich für mich. Meine Grundschullehrerin, Frau Bücher, und ich finden uns da. Ich liebe diese Frau. Und sie mich offenbar auch. Wir haben da eine Frequenz, auf der wir uns verstehen. Wieder bis zu jenem einen Tag … Sie empfiehlt meinen Eltern, mich eine Klasse überspringen zu lassen, »damit ich mich nicht langweile«. Ich bin zu fix. Eine solche Em­pfehlung ist was Besonderes! So werten es die Großen. Ich, draußen auf dem Schulhof, habe nicht den Hauch einer Ahnung, was da drinnen zwischen meinen Eltern und Frau Bücher verhandelt wird. Das einzige, was ich weiß ist, dass wenige Tage später die Liebe zwischen Frau Bücher und mir beendet ist. Mit dem Tag, an dem sich meine Eltern gegen die Empfehlung ausgesprochen und mich im Jahrgang belassen haben. »Ich könnte ja später Probleme mit dem Altersunterschied bekommen.« So heißt es. Ich sage Ihnen: Es ist eine Verzweiflung, nicht ernst genommen zu werden! Es wird einfach über mich hinweg entschieden. Und alle sind sich sicher: Sie tun das Beste im Interesse des Kindes. Ich könnte heulen. Aber gut. So ist es jetzt eben. Was mich das aber wirklich lehrt, ist: Es sind hier nicht freie Menschen, die Entscheidungen treffen. Es sind persönliche Verletzungen, die der Türöffner für irrationale Handlungen sind. Wenn Energie alles steuert – aus welchem Pool werden also unsere Gedanken und Handlungen gefüttert, wenn wir uns schon in der Zurückweisung oder Ablehnung wähnen? Schaffen wir es, den Weitblick zu behalten, oder wollen wir ab da nur noch das Ich versorgen? Offenbleiben oder eng werden? Seele oder Geist? Wer gewinnt? Diese Fragen tangieren alle Lebensbereiche, also tangieren sie letztlich uns. Wir sind es ja, die im Leben sind.

      Meinem Gefühl nach ist der Dschungel aus Ich-Ich-Ich zu dicht. Es ist kein Durchdringen. Meine Liebe zu Frau Bücher bleibt ab diesem Tag also unerwidert, auch wenn ich keine Ahnung habe, warum. Die Entscheidung meiner Eltern ist für sie vielleicht eine zu große Zurückweisung ihrer Kompetenz. Ich bleibe spekulierend zurück. Denn die Frage nach dem ­Warum wird mir nie ehrlich beantwortet.

      Wie ich Ihnen das alles so beschreibe, wird klar: Ich bin schon mitten drin im Kreislauf des Irdischen. Mein Weitblick ist also geschrumpft. All die vielen kleinen Schritte hinein in das Chamäleon-Dasein, das konsequente Anpassen an das Außen, lassen mich nur noch das Menschliche sehen. Das, was aber bleibt, ist die Kluft zwischen dem, was ich fühle, und dem, was lebbar ist. Was einstmals nur einen kleinen Riss zwischen meiner Wahrnehmung und meinem Sein dargestellt hat, erodiert immer mehr zu einem Spalt. Irgendwann werde ich diesen Spalt sogar als den Grand Canyon empfinden. Da bin ich kein Opfer. Nochmal: Ich habe das alles, was dazu beigetragen hat, entschieden. Manches Mal war es das bloße Anpassen und Mitmachen, manches Mal eine Form der Nichtentscheidung, manches Mal die Entscheidung dafür, dass eben alles andere hat stattfinden können. Wozu ich nicht aktiv Ja sage, ist folglich das Spielfeld für all das, was ich dann mit mir habe machen lassen. Der Wunsch, gesehen zu werden, bloßes Überleben, mitspielen zu wollen: Motivationen, die ich nachvollziehen kann. Dieses liebevolle Verständnis erlaubt mir aus heutiger