»Matthew Corbett, dies ist die Witwe Donovan«, stellte Greathouse sie vor.
Sie streckte ihm ihre unbehandschuhten Finger entgegen. »Abby Donovan«, sagte sie. »Ich bin letzte Woche aus London eingetroffen. Hudson hat mir sehr geholfen.«
»Er hilft gern«, sagte Matthew. Seine Hand würde den bemerkenswert festen Händedruck dieser Frau nicht so schnell vergessen.
»Stimmt, aber er entfleucht einem so leicht. Besonders, wenn er sagt, man soll sich einen Apfelmost holen und er käme in einem Moment nach. Ich glaube, ein Moment ist für Hudson nicht dasselbe wie für andere Männer.« Dies alles wurde mit dem Hauch eines verschmitzten Lächelns gesagt, während die braunen Augen nicht vom Mann der Stunde wichen.
»War es noch nie«, gestand Greathouse. »Wird’s auch nie sein.«
»Ich gebe zu, er ist etwas Besonderes«, sagte Matthew.
»Ja, das weiß ich!«, antwortete die Dame. Als ihr Lächeln sich fast zu einem Lachen verbreiterte, wurde ein Spalt zwischen ihren Schneidezähnen sichtbar, gegen den Berrys geradezu unscheinbar war. Es schockierte Matthew, dass sein erster Gedanke war, was dort alles hineinpassen würde. Dann lief sein Gesicht rot an und er musste sich die Schläfen mit seinem Taschentuch abtupfen.
»So nah am Feuer ist es wirklich warm«, bemerkte die Witwe Donovan. Matthew spekulierte, dass sie ihren lieben verstorbenen Gatten im Bett zu Asche verzehrt hatte. Aber jetzt war es an Greathouse, sich den Flammen zu stellen, denn die Frau stand dicht neben ihm und betrachtete verlangend sein Profil. Matthew fragte sich, wie eine Woche für manche so intensiv heiß und gleichzeitig so tiefgefroren wie blaues Eis für andere vergehen konnte.
»Entschuldige uns«, sagte Greathouse schließlich. Er verlagerte sein Gewicht, vielleicht, weil er seine steifen Glieder in eine andere Position bringen musste. »Wir gehen jetzt.«
»Lass dich von mir nicht aufhalten«, sagte Matthew.
»Oh«, erwiderte die Frau und hob ihre blonden Augenbrauen. »Wenn Hudson loslegt, kann ihn keiner mehr aufhalten.«
Eine Woche!, dachte Matthew. Während er sich über die körperlichen Einschränkungen von Greathouse Gedanken gemacht hatte! Es mochte stimmen, dass Greathouse vielleicht nicht mehr tanzen konnte. Zumindest nicht im Stehen. Aber ansonsten …
»Einen schönen Abend noch«, sagte Greathouse, und er und seine neue Kleine – oder eher Große, denn sie musste wohl Ende dreißig sein, war aber für ihr Alter sehr erquicklich anzusehen – verließen den Raum in so perfektem Gleichmarsch, wie er zwei Menschen, die nicht zu einer Militärparade gehörten, nur gelingen konnte. Dann schossen Matthew Gedanken an gewisse andere Ursachen eines steifen Schritts durch den Kopf und er hatte wieder einen roten Kopf, als eine weibliche Stimme neben ihm leise fragte: »Matthew?«
Er drehte sich um und erblickte eine Person, deren Erscheinen er nicht vor dem unerreichbar weit entfernten 21. Jahrhundert erwartet hätte.
Kapitel 3
Das Mädchen hielt ihre zusammengeklammerten Hände vor sich und verriet damit, dass sie entweder nervös oder in Bittstellung war. »Seid gegrüßt, Matthew«, sagte sie mit einem zitternden Lächeln. »Ich hab getan, was Ihr gesagt habt. Ich bin gekommen, um die Stone Street 7 zu finden.« Sie schluckte hart. Ihr blauer Blick, den er als von Energie prasselnd in Erinnerung hatte, wirkte jetzt schüchtern und ängstlich, als wäre sie sicher, dass er sie vergessen haben musste. »Entsinnt Ihr Euch nicht? Ich bin …«
»Opal Delilah Blackerby«, sagte Matthew. Natürlich erinnerte er sich. Sie war eine der Dienstmägde im Paradies für Alte gewesen, dem Gefängnis aus Samt – wie sie es genannt hatte –, das Lyra Leka unter der Namen Gemini Lovejoy geführt hatte. Hätte es Opal nicht gegeben, wäre das schwarze Herz von Lyra Lekas Unternehmen nicht enthüllt worden und Tyranthus Slaughter läge jetzt nicht unter der Erde. Daher verdiente dieses tapfere junge Mädchen alles Lob der Welt, fand Matthew. Sie hatte tatsächlich ihr Leben riskiert, um ihm zu helfen.
Er streckte die Arme aus und nahm ihre Hände, schenkte ihr dabei sein wärmstes Lächeln. »Seit wann bist du hier? In New York, meine ich.«
»Erst einen Tag«, antwortete sie. »Also, noch keinen ganzen Tag. Ich weiß, Ihr meintet, ich soll zu diesem Haus Nummer sieben kommen, aber mir war nicht wohl, da einfach anzuklopfen. Dann hab ich in der Stadt gefragt, wem das Haus gehört, und jemand hat mir Euren Namen gesagt. Und dann hab ich den Tanz hier in der Zeitung ausgeschrieben gesehen und dachte, vielleicht …« Sie zuckte die Achseln, unfähig zu erklären, warum sie gekommen war.
»Ich verstehe.« Matthew erinnerte sich, dass sie das Mädchen war, das sich im Paradies nach Wärme gesehnt hatte. Vielleicht war ein Tanz der Ort, wo sie diese an einem kalten Winterabend in New York finden konnte. Als Dank für ihre Hilfe hatte er ihr einen Goldring mit einem kleinen roten Edelstein geschenkt, der vielleicht ein Rubin war, vielleicht auch nicht. Was für ein Stein es auch war, der Ring stammte aus Slaughters verstecktem Schatz, der Matthew und Greathouse fast in den Tod geführt hatte.
»Es freut mich, dich zu sehen«, sagte Matthew und meinte jedes Wort. Er musterte sie kurz und sah, dass sie sich entschieden hatte, ihr Äußeres ein wenig zu verändern, indem sie die kleinen Metallringe, die ihre Unterlippe und den rechten Nasenflügel verziert hatten, entfernt hatte. Sie war klein, schlank und drahtig, und als Matthew sie kennengelernt hatte, war sie vor was man als unanständige Gelüste bezeichnen konnte fast aus den Schuhen gesprungen. Jetzt trug sie ihre kohlschwarzen Haare zurückgekämmt und mit einem braven Schildpattkamm verziert. Ihre blauen Augen, die so darauf aus gewesen waren, Matthew im Paradies zu einem Stelldichein hinter die Kirche in den Wald zu locken, wurden von nachhaltigen Zweifeln überschattet – daran, ob sie hier oder in der Stone Street 7 willkommen war, nahm Matthew an. Sie trug ein graues Kleid mit weißem Kragen, nicht unähnlich ihrer Uniform im Paradies. Dies warf in Matthew die Frage auf, ob sie den Goldring und roten Stein überhaupt für Geld eingetauscht hatte. Er wollte sie gerade danach fragen, als die Hölle losbrach.
Oder zumindest ein kleiner Teil der Hölle, der sich auf den angrenzenden Raum beschränkte, denn im nächsten Moment ertönte ein gewaltiges Krachen, das Geräusch von zerbrechendem Glas und ein Männer- und Frauenchor überraschter Aufschreie. Matthews erster Gedanke war, dass der Fußboden eingebrochen war oder dass eine Kanonenkugel in die Decke eingeschlagen hatte.
Er stürzte an Opal vorbei, um zu sehen, was geschehen war, und sie folgte dicht hinter ihm.
Die Bohlen waren noch intakt und keine Kanonenkugel war aus der Nacht geflogen gekommen, aber etwas Schreckliches war definitiv passiert. Der Tisch, auf dem die edle Glasschale mit dem Apfelmost, die Keramiktassen und Indianerblutteller mit dem Zuckerkuchen gestanden hatten, war einfach wie ein Pferd mit gebrochenem Bein umgestürzt. Apfelmost rann wie ein Hochwasser führender Bach über den Fußboden. Der Zuckerkuchen würde unter den Füßen sowohl der Ladys als auch der Gentlemen zertreten. Überall waren Glas und zerbrochenes Geschirr. Chaos herrschte.
»Ich schwöre es!«, wurde die gepeinigte Stimme von Effrem Owles laut. »Ich hab mich kaum auf den Tisch gestützt! So gut wie gar nicht!«
Matthew sah Berry neben Effrem stehen und bis unter die Haarwurzeln erröten. Ihre Augen hatten sich angesichts der Situation verdunkelt. Er wusste, was sie dachte: Es lag an ihrem Pech, das schon so viele ihrer Verehrer so vieles gekostet hatte und ihr Leben auch sonst durch eine Serie unglücklicher Zufälle kompliziert gestaltete. Ihr Pech war erwacht und hatte – wie Mr. Vincents Handschuh – einen Schlag auf den Kopf des armen, unschuldigen Effrem ausgeteilt. Und was für einen Schlag! Für jemanden, der meistens äußerst schüchtern war und nie im Mittelpunkt stehen wollte, war dies wahrlich