»Und eins! Und zwei! Und drei! Und warten!«, rief der Perücke tragende Tyrann, der sein Bestes tat, um aus einem angenehmen Zeitvertreib eine mühsame Qual zu machen. Matthew Corbett war an diesem Abend in einen einfachen dunkelblauen Anzug mit einem weißen Hemd und weißen Strümpfen gekleidet, die Schuhe zu höflichem Glanz gewienert. Er hatte kein Interesse mehr daran, sich fesch zu kleiden wie noch im Herbst. Er war mit seiner momentanen Position im Leben ganz und gar zufrieden: als Ermittler für die Herrald-Vermittlung viele verschiedene Aufgaben zu verrichten, manchmal so Alltägliches wie die Zustellung von Grundbuchpapieren an gewisse Personen, und an anderen Tagen so Interessantes wie diesen Dezember der Fall um die vier Laternenanzünder. Fälle wie der um Lord Mortimer, den wohlhabenden Mann, der Matthew angeheuert hatte, um dem Tod zu entkommen, und die kniffelige – und doch auf traurige Weise lustige – Situation, der Lady Pink Manjoy sich ausgesetzt sah, hatten Matthew geholfen, Abstand zu den mit Slaughter verbundenen Widerwärtigkeiten zu finden. Trotzdem hatte er das Gefühl, noch einen sehr langen Weg vor sich zu haben.
Er bewegte sich im Strom der Tänzer und spürte trotzdem, wie er sich von ihnen entfernte. Selbst als Berry erneut an ihm vorbeitanzte und ihn mit einem langen Blick taxierte, konnte er nichts anderes als die Tatsache sehen, dass er einen Menschen getötet hatte. Sein Leben mochte gegen das schreckliche Leben von Mrs. Leka gestanden haben, aber dennoch … Er erinnerte sich, wie er seinen Freund Wanderer in zwei Welten gefragt hatte: Wieso bist du verrückt?
Und die Antwort des Indianers, die Matthew in seinem Zustand jetzt viel passender vorkam: Ich weiß zu viel.
Matthew war groß und schlank, hatte etwas von der Zähigkeit eines Schilfrohrs. Gewiss, nun war er mit den Vorteilen, sich dem Strom der Ereignisse zu beugen, bekannt. Er hatte ein hageres Gesicht mit einem langen Kinn und einen Schopf feiner schwarzer Haare, der für die Höflichkeiten dieses Abends gebürstet und gezähmt war. Seine blasse, kerzenbeleuchtete Miene verriet sein Interesse an Büchern und spätabendlichen Schachpartien im Trot Then Gallop. Seine kühlen grauen Augen mit ihrer Andeutung von Dämmerungsblau dachten an diesem Abend an Themen, in denen es mehr um Fleisch und Blut als um Musik und Tanz ging. Und doch war er hier in gewisser Weise auf einer Mission.
Als er und sein Ermittlerkollege Hudson Greathouse von Tyranthus Slaughter angegriffen und in den Ruinen eines holländischen Forts in einem Brunnen gelandet waren, hatte Matthews Erinnerung an die hübsche, intelligente, künstlerische und sehr eigensinnige junge Frau, die soeben an seiner rechten Schulter vorbeigetanzt war, ihm beim Kampf gegen den Tod und dabei, seinem Freund das Leben zu retten, Kraft gegeben. Er hatte an sie gedacht, als er wieder und wieder versucht hatte, wie eine Spinne den Brunnenschacht zum Rand hochzuklettern, der zeitweise in so weiter Ferne wie Philadelphia zu liegen schien. Während jenes Überlebenskampfes hatte er sich geschworen, sie zu einem Tanz einzuladen, wenn er überleben sollte. Und er hatte geschworen, den Tanzboden aus Freude über das wiedergewonnene Leben zu Sägespänen zu zertanzen. Vielleicht war es Berry gewesen, die die Einladung ausgesprochen hatte, und das Tanzen reglementierter, als er es gern hätte, aber er meinte, dank ihr noch zu leben. Und deshalb war er hier – tanzte alle Paardrehungen des Reels mit ihr – und auf seine eigene Art und Weise ekstatisch darüber, weiterhin zu den Bewohnern dieser Erde zu zählen.
Als Berry daher in der nächsten Runde an ihm vorbeitanzte – mit den kupferroten Locken, blauen Augen und dem offenen Gesicht, neunzehn Jahre alt mit Sommersprossen auf der Nase und einem Spalt zwischen den Schneidezähnen, den Matthew nicht nur niedlich, sondern auch erregend fand –, schaute er sie an und lächelte. Sie lächelte zurück. Er fand, dass sie in ihrem seegrünen Kleid mit den lila Schleifchen vorn geradezu strahlte. Vielleicht schlich sich ein Gedanke an ihre Lippen ein, wie sie wohl schmecken würden, wenn man sie küsste, und überraschte ihn so, dass er die Schrittfolge verlor. Er stolperte gegen Effrem Owles, und plötzlich war der rügend dreinschauende Gilliam Vincent neben ihm und der Stock sauste nieder, um Matthews Kopf mit dem Lederhandschuh zu kasteien.
Aber noch bevor der Handschuh zuschlagen konnte, traf das harte Hickoryholz im Niederfahren auf Widerstand in Form eines knorrigen schwarzen Gehstocks. Das leise Knack von Holz auf Holz klang wie die Hörner zweier kämpfender Widder.
»Mr. Vincent?« Hudson Greathouse war aus der Menge von vielleicht zwanzig Menschen getreten, die diesem langsamen Sterben zusahen, das sich Tanz schimpfte. Er sprach leise, sodass nur Matthew und der Tanzmeister es hörten. »Habt Ihr schon mal einen Handschuh im Arsch stecken gehabt?«
Vincent stotterte. Seine Wangen wurden rot. Vielleicht lautete die Antwort: Ja. Es war schwer zu sagen.
Jedenfalls wurde der Hickorystock gesenkt.
»Pause, liebe Leut!«, verkündete Vincent. »Pause, bitte!« Und dann, zu niemandem insbesondere: »Ich gehe nach draußen, frische Luft schnappen!«
»Wegen uns braucht Ihr Euch nicht extra zu beeilen«, sagte Greathouse, als Vincent mit wackelnder Perücke von dannen zog.
Der kleine Tumult verursachte einen Aussetzer in der Musik, man kam aus dem Takt und die Reel-Tänzer stolperten und prallten gegeneinander wie eine Wagenkarawane, die ihre Räder verloren hat. Anstelle der Entrüstung, in die Vincent angesichts dieser mangelhaften tänzerischen Manieren verfallen wäre, riefen die Kollisionen sowohl tiefes als auch silberhelles Gelächter hervor und enthüllten damit die wahre Tiefe der Freundschaften unter den Mad Robins von New York.
Die Musiker beschlossen, ihren Geigen, Trommeln und Akkordeons eine Pause zu gönnen. Die Tänzer zerstreuten sich, um sich im angrenzenden Raum am Tisch mit Apfelmost und Zuckerkuchen zu bedienen. Berry kam zu Greathouse und Matthew herüber und sagte mit bemerkenswerter Großzügigkeit zu dem jüngeren Mann: »Du machst das sehr gut. Besser als zuhause beim Üben.«
»Danke. Meine Füße glauben dir nicht, aber danke trotzdem.«
Sie warf einen schnellen Blick auf Greathouse und konzentrierte ihre Aufmerksamkeit dann wieder auf Matthew. »Apfelmost?«, fragte sie.
»Gleich.« Matthew war sich bewusst, dass er an diesem Abend keine besonders gute Gesellschaft abgab. Vielleicht lag es daran, dass er gerade die Mallorys gesehen hatte – den teuflisch gutaussehenden Arzt Jason mit den Gentleman-Manieren und seine schöne schwarzhaarige Gattin Rebecca. Sie standen auf der anderen Seite des Raums und taten, als unterhielten sie sich. Aber sie ließen Matthew nicht aus den Augen. Seit er von der Jagd nach Mr. Slaughter zurückgekehrt war, schienen ihm die beiden ständig zu begegnen.
Wir haben einen gemeinsamen Bekannten, hatte Rebecca Mallory eines Tages zu Matthew an einer ruhigen Straße im Hafen gesagt, während ihr Mann stumm Wache hielt. Wir glauben, er würde sich freuen, Eure Bekanntschaft zu machen.
»Wenn Ihr so weit seid, in ein oder zwei Wochen, würden wir gern sehen, dass Ihr uns besucht«, hatte die Frau gesagt. »Werdet Ihr kommen?«
»Was ist, wenn ich nicht komme?«, hatte Matthew entgegnet. Denn er wusste genau, auf welchen Bekannten Rebecca Mallorys Anspielungen sich beziehen mussten.
»Kommt, wir wollen nicht unfreundlich miteinander sein, Matthew. In einer Woche oder zwei. Wir werden die Tafel decken, und wir werden Euch erwarten.«
»Ich jedenfalls trinke gern einen Apfelmost mit Euch, Berry!«, sagte Effrem Owles und drängte sich in seinem Eifer, den Duft des Mädchens einzuatmen, an Matthew vorbei. Seine Augen hinter der Brille waren groß und rund. Er, der Schneidersohn, war mit seinem schwarzen Anzug, weißem Hemd und weißen Strümpfen einfach aber elegant gekleidet. In seinem flatterhaften Lächeln strahlten die Zähne. Obwohl Effrem erst zwanzig Jahre alt war, durchzogen graue Strähnen seine braunen Haare. Er war groß und dünn; schlaksig wäre wohl das passende Wort. Er war ein ausgezeichneter Schachspieler, doch an diesem Abend galt sein einziges Spiel Amor. An diesem Abend klammerte er sich offenbar an die Hoffnung, dass Berry ihm die Gunst schenken würde, sie beim Apfelmosttrinken und Zuckerkuchenessen zu beobachten. Effrem war verliebt. Nein, mehr als verliebt, dachte Matthew. Effrem war von Berry besessen. Er redete ohne Unterlass über sie und wollte alle Einzelheiten ihres Kommens und Gehens wissen, und ob Matthew