Black Heart - Die gesamte erste Staffel. Kim Leopold. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kim Leopold
Издательство: Bookwire
Серия: Black Heart - Die gesamte Staffel
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783958344129
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      Ein kleines Dorf in Norwegen, 1768 n. Chr.

      Freya

      ❤

      Sie leben noch.

      Manche von ihnen.

      Erleichtert höre ich, wie ihre Kleidung raschelt und ihre Schuhe auf dem Boden aufkommen. Sie rappeln sich auf und ziehen sich eilig zurück. Mein Atem geht hektisch, ich kämpfe mit der Übelkeit und den Tränen. Ich wünschte so sehr, ich könnte etwas sehen, damit ich den Ausweg aus diesem Grauen finde.

      »Freya?«

      Ich erstarre beim Klang meines Namens. Mikael. Wieso ist er noch hier? Nach allem, was gerade geschehen ist? Wie-

      »Darf ich dich berühren?«

      »Was?«, frage ich verwirrt. Wieso fragt er das?

      Er kommt näher und bleibt kurz vor mir stehen. An seinen Worten höre ich, dass er vor mir in die Hocke gegangen ist. »Bitte, ich will dir helfen. Lass mich dir aufhelfen.«

      »In Ordnung.« Ich strecke vorsichtig eine Hand aus. Ein paar Augenblicke später ergreift er sie und gibt mir mit seinem festen Griff den Halt, den ich so bitter brauche. Er hilft mir hoch, und ich stolpere gegen ihn. Er stößt mich nicht von sich, sondern zieht mich an seinen Körper und spendet mir Trost.

      »Schhh«, macht er und wischt mir die Tränen von den Wangen. »Es ist alles gut. Ich bring dich hier weg.«

      »Aber …«

      Er legt mir einen Finger auf die Lippen und schiebt ihn kurz darauf unter mein Kinn, um mein Gesicht zu heben. »Was ist mit deiner Nase?«

      Verwirrt hebe ich eine Hand, um meine Nase zu befühlen. Etwas Feuchtwarmes benetzt meine Fingerspitzen. Blut?

      »Ich weiß nicht«, stottere ich.

      »Hat dich jemand geschlagen?«

      »N-nein.«

      Mikael greift nach meiner Hand und zieht mich mit sich. Ich erinnere mich an die Bücher und bitte ihn, mir bei der Suche zu helfen. Es dauert nicht lange, da hat er sie aufgespürt und bückt sich, um sie aufzuheben.

      In der Ferne höre ich Menschen tuscheln. »Sie kommen zurück.«

      »Sie haben gemerkt, dass sie nicht die einzige Hexe umgebracht haben«, stößt er verbittert hervor. »Hier, nimm die Bücher und halt’ sie fest. Ich trage dich.«

      »Aber«, setze ich an, doch da hat er mir die Bücher schon in die Hand gedrückt und mich auf seine Arme gehoben. Mit einer Hand presse ich die Bücher an meine Brust, mit der anderen klammere ich mich notdürftig an seinen Hals, während er zügig durch das Dorf läuft.

      Ein paar Kurven weiter habe ich mich an das Gefühl gewöhnt, von ihm getragen zu werden, und die Erschöpfung ergreift Besitz von mir. Schließlich erreichen wir sein Pferd. Er hilft mir in den Sattel, bevor er hinter mir aufsteigt. Am liebsten würde ich mich zusammenrollen und einschlafen.

      »Alles in Ordnung bei dir?«

      »Nein«, murmle ich ehrlich. »Ich kann nicht mehr. Ich bin so müde.«

      »Das ist normal.« Er greift um meine Taille herum nach den Zügeln und treibt sein Pferd an. »Was da gerade geschehen ist, hat viel Kraft erfordert. Dein Körper braucht jetzt eine Pause. Lehn dich zurück und schlaf ein bisschen. Saga bringt uns hier weg.«

      Ich nehme seine Einladung an, lehne mich gegen seine Brust und schließe die Augen. Es ist das erste Mal, dass ich auf einem Pferd sitze. Ich mag das Gefühl nicht. Dieses Schaukeln und Wackeln, dieses Klackern der Hufen auf dem Untergrund. Kalte Luft an meinen Schienbeinen, weil mein Kleid hochgerutscht ist. Wenigstens spendet das Fell des Tiers Wärme.

      Und Mikael.

      Seine Wärme ist es, die mich schließlich einlullt und dafür sorgt, dass ich für einige Zeit vergesse, was geschehen ist.

      ❤

      Fröstelnd wache ich auf und versuche mich daran zu erinnern, was gestern gewesen ist. Viel zu schnell fällt es mir wieder ein.

      Mutter.

      Eine Hexe?

      Und mein Schrei, der … der Menschen getötet hat?

      Das Entsetzen kehrt zurück in meinen Körper und lässt mich fassungslos die Ereignisse des gestrigen Abends abspielen. Wieder und wieder.

      Es hilft mir nicht einmal, mich auf meine Umgebung zu konzentrieren, um herauszufinden, wo ich bin. Viel zu laut ist die Erinnerung der Schreie meiner Mutter, viel zu beißend der Geruch des Feuers.

      »Du bist wach.« Mikaels melodische Stimme reißt mich aus den Gedanken. Jetzt höre ich das Knistern eines Lagerfeuers und das Plätschern eines weit entfernten Baches. Ein paar Schritte neben uns scharrt Saga mit den Hufen. Mikael sitzt links neben mir und packt raschelnd etwas aus. »Hast du Hunger? Ich habe noch einen Laib Brot.«

      Ich nicke und strecke die Hand aus, damit er mir etwas davon geben kann. »Wo sind wir?«

      »Etwa zwei Tagesritte von Christiania entfernt«, erwidert er kauend. »Du hast unsere erste Rast verschlafen.«

      Überrascht horche ich in mich hinein. Die Erschöpfung spüre ich immer noch überdeutlich, aber wenigstens bin ich nicht mehr so müde. So fühle ich mich, wenn ich den ganzen Tag Wäsche gewaschen oder die Böden geschrubbt habe.

      »Wie kann es sein, dass ich nicht aufgewacht bin?«, überlege ich laut. »Mein Schlaf ist doch sonst nicht so tief.«

      »Ich schätze, das liegt an der Magie.«

      »Magie?« Ich lache auf. »So etwas gibt es doch gar nicht.«

      »Deine Mutter war auch eine Hexe.«

      Wut durchzuckt mich, weil er sie so bezeichnet. »Nenn sie nicht so.«

      »Entschuldige.« Mikael schweigt so lange, dass mich das schlechte Gewissen packt. Er will mir doch nur erklären, was passiert ist. Immerhin hat er mich gerettet. Ohne ihn hätte mich früher oder später das gleiche Schicksal ereilt wie meine Mutter.

      Ich schnuppere am Brot und beiße ein Stück davon ab. Das Aroma breitet sich auf meiner Zunge aus und entlockt mir Hungergefühle. Meine letzte Mahlzeit muss Stunden her sein, wenn nicht sogar Tage.

      »Mutter kannte sich mit Kräutern aus«, erkläre ich ihm schließlich. »Sie wusste, welches Kraut gegen welche Schmerzen hilft, und sie wusste, wie man Krankheiten heilt. Aber das macht sie noch lange nicht zu einer Hexe. Sie hätte niemals jemandem absichtlich wehgetan.«

      Nicht so wie ich, schießt es mir durch den Kopf. Ich denke an das, was mein Schrei angerichtet hat.

      »Ich fürchte, wir denken an zwei unterschiedliche Dinge, wenn wir das Wort Hexe benutzen«, meint Mikael. »Ich wollte ihr damit nicht unterstellen, dass sie ihre Fähigkeiten genutzt hat, um anderen Menschen wehzutun. Ich wollte bloß sagen, dass sie welche hatte.« Er macht eine bedeutungsvolle Pause. »Und du hast diese Fähigkeiten von ihr geerbt.«

      Ich will ihm widersprechen, aber die Erinnerung an den gestrigen Abend ist noch zu lebhaft. Ich weiß genau, dass mein Schrei etwas in mir ausgelöst hat, was die Menschen um mich herum … verletzt hat. Etwas in mir, das nicht normal ist. Nicht menschlich.

      Nachdenklich kaue ich auf meinem Brot herum. Ich wünschte, ich wüsste, was ich tun soll. Ich wünschte, ich könnte Mutter um Rat bitten …

      Beim Gedanken daran, dass ich sie nun nie wieder um Rat fragen kann, vergeht mir der Appetit. Ich lege das Brot in meinen Schoß und ziehe mein Tuch enger um mich herum.

      »Es tut mir leid, dass du deine Mutter verloren hast.« Mikael berührt mein Knie. »Und es tut mir leid, dass du auf so schreckliche Weise herausfinden musstest, wer du wirklich bist. Ich wünschte, es gäbe einen Weg, all das rückgängig zu machen.«

      »Danke«, flüstere ich und kämpfe gegen die Tränen