DAS DING AUS DEM SEE. Greig Beck. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Greig Beck
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958355361
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war doch nur die Geschichte für die Öffentlichkeit. Sie sind nie daheim angekommen, weil sie verschwunden sind. Ich glaube, sie haben auch nie versucht, heimzugehen, oder sie haben es versucht, konnten es aber nicht.«

      Marcus seufzte. »Ich verstehe.«

      Er wusste, dass alle großen Gewässer ihre Legenden hatten, und die meisten davon wurden von abergläubischen Einheimischen verbreitet, oder um leichtgläubige Touristen anzulocken. Es gab die Seemonster, die Fischmänner, die Dinger, die sich bei Vollmond, Neumond oder Halbmond aus den schauerlichen Tiefen erhoben, und sogar Wesen, die man gar nicht sehen konnte und die einfach nur Spuren zurückließen.

      »Der See weiß es, denn er hat ein Gedächtnis.« Leonid hielt den Blick auf das Feuer gerichtet.

      »Ozero pomnit«, sagte Pavel leise.

      »Der See erinnert sich.« Leonids Stirn legte sich in Falten. »Was soll das bedeuten?«

      Niemand antwortete.

      Marcus seufzte und stand auf. »Meine Herren, ich gehe jetzt ins Bett. Wir können morgen gern weiterreden. Gute Nacht.«

      Marcus machte sich auf den Weg zum Haupthaus und stieg kurze Zeit später die Stufen der vorderen Veranda hinauf. Es war ein großes, zweistöckiges Holzcottage. Auf der obersten Stufe drehte er sich um und sah noch einmal auf den gefrorenen See hinaus. Dort draußen gab es kaum Licht, abgesehen von den Sternen und dem derzeit sichelförmigen Mond. In diesem Moment sah er wie eine endlose Ebene aus gefrorener Tinte aus.

      Marcus ließ seinen Blick langsam über die Oberfläche schweifen. Wie er erwartet hatte, war dort draußen nichts Besonderes zu sehen.

      Er öffnete die Haustür und ging hinein. Er hatte noch viel zu tun und er würde es lächerlichen alten Dorfgeschichten über den hiesigen Schwarzen Mann nicht erlauben, sich ihm in den Weg zu stellen.

      »Morgen ist ein neuer Tag«, sagte er leise und schloss mit dem Fuß die Tür hinter sich.

      KAPITEL 05

       Der Mühlenkomplex, Baikalsee – erster Morgen

      Marcus wachte genau im Morgengrauen auf, umgeben von einer Stille, die so allumfassend war, dass sie sich absolut unnatürlich anfühlte. Er lag einfach nur da und starrte zur Decke hinauf. Daheim in Madeira Beach gab es Möwen, die den nahenden Sonnenaufgang begrüßten, das Geräusch von an goldenem Sand brechender Brandung und, wenn er Glück hatte, war Sara schon auf und kochte Kaffee.

      Doch hier am See kam er sich vor wie im Innern eines Grabes. Er blinzelte einige Male und spürte die Kälte an seiner Nase, da das Haus noch nicht richtig beheizt war. Er warf die Decken zurück und schwang die Beine über den Bettrand.

      »Ahh.« Er riss die Füße hastig wieder hoch und wünschte sich, er könne zurück unter die Decken, oder besser noch, mit Sara zusammen darunter krabbeln. Er vermisste sie jetzt schon furchtbar. Er hatte letzte Nacht versucht, sie anzurufen, hatte aber keinen Empfang gehabt, da das Signal mal wieder komplett verschwunden gewesen war. Irgendeine seltsame Eigenschaft dieser Gegend sorgte dafür, dass die Radio-, Satelliten- und wahrscheinlich sogar die Rauchsignale ständig blockiert waren.

      Er setzte die Füße wieder vorsichtig auf den Boden, stand auf und trottete dann zum Fenster, das auf den See hinausging. Dieser war wie eine eisengraue Wüste, die so still und unbewegt war wie eine schmutzige Glasscheibe. Kleine Schwaden kalten Nebels hingen darüber, und von hier aus war es ein Leichtes, zu verstehen, warum die ersten Entdecker ihn für ein Meer gehalten hatten, da auf der anderen Seite kein Ufer zu sehen war. Marcus fand ihn ebenfalls so groß und endlos wie jeden Ozean, auf dem er je gewesen war.

      Während er hinausschaute, entdeckte er zwei Männer – Pavel und seinen Sohn Nikolai, vermutete er – die über das Gelände gingen und Feuerholz sammelten. Beide hatten ihre Kapuzen tief ins Gesicht gezogen und ihr Atem dampfte in der windstillen Luft wie der von Rennpferden.

      Marcus versuchte, die unglaubliche Menge von Aufgaben, die er nun bewältigen musste, zu überdenken, und jetzt, wo er hier war, war es an der Zeit, diese weiterzuentwickeln und Prioritäten zu setzen. Die Reinigung, Renovierung und Einrichtung des Labors war natürlich vorrangig, denn seine Anlagen mussten topp in Schuss sein, damit die Föderale Behörde für Fischerei und Bestandserhaltung die Fische auch freigab. Bevor sie das tat, würde sie ihm nämlich garantiert einen Besuch abstatten wollen.

      Er hatte den Vertrag zwar in der Tasche, aber es lagen dennoch mehrere Hürden auf seinem Weg, und wenn er über eine von ihnen stolperte, würde das gesamte Projekt verzögert, mit einer Strafe belegt oder sogar abgebrochen werden, und er zweifelte stark daran, dass es eine Entschädigung für aufgewendete Mittel geben würde, falls so etwas geschah.

      »Hängt ja nicht viel davon ab.« Er schnaubte. »Nur einfach mein ganzes Leben.«

      Er hörte, wie an einem Ende des Mühlen-Anwesens Holz gefällt wurde, und da er bezweifelte, dass es Yuri war, musste es einer der hiesigen Russen sein. Er entschied spontan, den Männern einen festen Arbeitsplatz anzubieten – vielleicht mit einer dreimonatigen Probezeit, um ihnen erst mal richtig auf den Zahn fühlen zu können.

      Denn brauchen konnte er sie auf jeden Fall, und schon nach nur wenigen Stunden hatte er den Eindruck gewonnen, dass sie vertrauenswürdig, ziemlich sympathisch, wenn auch ein wenig abergläubisch waren.

      Außerdem konnten sie auf diese Weise direkt heute mit den Umbauarbeiten beginnen. Yuri könnte im Bedarfsfall ja noch weitere professionelle Handwerker für die komplexeren Arbeiten organisieren. Er würde auch Spezialisten für den Laboraufbau hinzuziehen müssen … noch so eine Sache auf seiner Dringlichkeitsliste.

      Marcus ging zu seinem Bett zurück, wo in der Nähe eine Schüssel mit Wasser und ein kleines Handtuch auf ihn warteten. Er stand einige Sekunden lang da und schaute darauf hinab, ehe er schließlich vorsichtig die Hände hineintauchte, eine doppelte Handvoll eiskalten Wassers aufnahm und es sich kurzerhand ins Gesicht spritzte. Es war genauso kalt, wie er erwartet hatte, und umgehend war er vollständig wach. Er trocknete sein Gesicht ab. Er fühlte sich zwar erfrischt, konnte sich aber trotzdem nicht dazu durchringen, seinen gesamten Körper mit dem eiskalten Wasser zu waschen, daher zog er sich stattdessen hastig einen dicken Pullover über.

      Anschließend lief er pfeifend die Stufen zur Eingangshalle hinunter und öffnete die Tür. Augenblicklich wurde er mit Holzrauch, beißender Morgenluft, und dem Geräusch von Zweigen, die für ein Feuer zerbrochen wurden, konfrontiert.

      Er trat auf die Holzveranda hinaus und zog den Kragen etwas höher. Er blickte über das Gelände. Die Gärten des Mühlenkomplexes waren zu dürren, toten Bäumen verkümmert, das Gras war wie Heu und alles andere war schneebedeckt. Doch er war sich sicher, dass Yuri einige Obstbäume beschaffen könnte, und da seine Frau nicht vor dem späten Frühling ankommen würde, würden sich ihre Blüten vielleicht gerade rechtzeitig zeigen, um der Umgebung etwas Farbe und Wohlgeruch zu verleihen.

      Dann kämen auch die Schmetterlinge und Vögel. Unser russischer Garten Eden, dachte er und lächelte. Sara würde es lieben. Denn wenn es eine Tierwelt gab, würde sich Sara, die Naturliebhaberin, bestimmt sofort ganz wie zu Hause fühlen.

      Marcus hielt kurz inne, und lächelte deswegen. Er erinnerte sich auf einmal daran, wie sie einen kleinen, grünen Vogel gefunden hatte, der ganz benommen gewesen war, nachdem er gegen eines ihrer Fenster geflogen war. Sie hatte ihre gewölbten Hände geöffnet und er war dagesessen, hatte sie beide angesehen und es sich dann einfach gemütlich gemacht, als fühlte er sich in ihren warmen, sicheren Händen absolut geborgen. Sie ist eindeutig ein Freund der Natur, dachte er.

      Er erkannte, dass es über Nacht wieder geschneit haben musste, da alles mit einer neuen glänzend weißen Puderschicht bedeckt war. Weiter unten konnte er knöcheltiefe Gräben erkennen, die von den Russen im Schnee erzeugt worden waren, als sie sich während ihrer morgendlichen Aufgaben hin und her bewegt hatten.

      Er spähte jetzt direkt auf den Schnee vor seinem Haus hinunter, denn dort befanden sich noch andere Spuren … merkwürdige,