Vielleicht scheint es nun so, dass ich, weil ich diese Studien zitiere, Ihnen empfehlen würde, Ihre Hunde nicht zu kastrieren. Das entspricht nicht meiner Absicht. Möglicherweise haben Sie zwei Rüden, die sich bekämpfen, und einen davon zu kastrieren wäre nutzbringend. Oder die Kastration Ihrer Hündin würde die Aggressionsprobleme bei Ihrem gemischtgeschlechtlichen Pärchen beenden. Das Thema ist kompliziert und verdient durchaus nähere Betrachtung – die allerdings den Rahmen dieses Buches sprengen würde. Über viele Jahre hinweg haben Verhaltensexperten, wie auch ich es bin, automatisch die Kastration empfohlen, sobald Aggression im Spiel war – besonders bei Rüden. Aber jede Situation ist anders. Ich bin keine Tierärztin und kann keinen medizinischen Rat anbieten. Ich möchte Sie dazu ermuntern, eigene intensive Nachforschungen bezüglich der möglichen Auswirkungen einer Kastration bei Ihrer eigenen Hunderasse anzustellen (die Forschung zeigt uns gerade, dass gesundheitliche Auswirkungen rassetypisch sein können) und ebenso dazu, in welchem Alter dies die wahrscheinlich geringstmöglichen negativen Auswirkungen auf die Gesundheit hätte. Sprechen Sie mit einem guten Tierarzt und einem Hundeverhaltensexperten, um eine fundierte Entscheidung treffen zu können.
Sollten Sie sich für die Kastration bei einem Ihrer Hunde entschließen, so lassen Sie die Hunde nicht direkt danach wieder zusammenkommen. Eine meiner Freundinnen hatte zwei junge Rüden, beides Mischlinge aus nordischen Rassen und beide unkastriert, aus dem Tierschutz übernommen. Die Hunde kamen bestens miteinander aus – bis sie einen von ihnen kastrieren ließ und ihn zurück ins Haus brachte. Der andere Hund griff ihn beinahe sofort an. Ob es daran lag, dass der kastrierte Hund nach der Tierklinik gerochen hat? Oder vielleicht daran, dass er sich nicht gut fühlte und Schwäche zeigte? Es könnte noch andere Ursachen gehabt haben, wie etwa Territorialverhalten. Man kann unmöglich sagen, warum das passiert ist, aber bei derartigen Situationen täuscht man sich zugunsten der Vorsicht lieber einmal mehr. Gönnen Sie Ihrem veränderten Hund Zeit zur Heilung und Ruhe, ehe Sie Ihren Hunden wieder vollen Zugang zueinander gewähren. Sobald der kastrierte Hund wieder der Alte ist, benutzen Sie nur zur Sicherheit ein Trenngitter oder sehr lockere Leinen, wenn Sie die beiden wieder zueinander führen.
Wenn ein Hund krank oder schwach ist, könnte ein anderer Hund beginnen, ihm gegenüber Aggressionen an den Tag zu legen. Hunde sind opportunistisch, und sofern sich eine Gelegenheit bietet, mehr Kontrolle zu gewinnen, dann nutzen manche diese Gelegenheit. Oder vielleicht wird auch der kranke Hund aggressiv. Das wäre verständlich, da es normal ist, empfindlich zu sein und man in Ruhe gelassen werden möchte, wenn man sich unwohl fühlt. Ein anderes gesundheitsbezogenes Thema hat mit Schmerzen zu tun. Wenn ein Hund Schmerzen hat, kann er etwas gegen Aufforderungen zum Spielen haben oder sich angegriffen fühlen, wenn ihn ein anderer Hund anrempelt oder anspringt. Darum könnte möglicherweise ein Hund, der Arthrose entwickelt, zum Beispiel gegenüber einem anderen Hund plötzlich ohne ersichtlichen Grund aggressiv reagieren, während dieses Verhalten in Wirklichkeit die Antwort auf Schmerz ist.
Wenn keiner Ihrer Hunde offensichtlich krank ist oder Schmerzen hat, aber die Unruhe in Ihrem Heim ganz plötzlich einsetzt und zum Beispiel nach Jahren der Harmonie einer plötzlich und aus heiterem Himmel den anderen attackiert, ist es Zeit für einen Besuch beim Tierarzt. Nehmen Sie beide Hunde mit und lassen sie untersuchen. Es gibt medizinische Gründe, die mit aggressivem Verhalten in Verbindung gebracht werden und das Verhalten des Angreifers erklären können – eine Schilddrüsenfehlfunktion zum Beispiel, ein Leber-Shunt oder ein eingeklemmter Nerv, um nur einige zu nennen.
Oder es könnte sein, dass der Hund, der angegriffen wird, krank ist, und der einzige, der es bemerkt, der andere Hund ist. Falls die Probleme zwischen Ihren Hunden schon Jahre andauern, ist eine medizinische Untersuchung nicht so dringend erforderlich. Allerdings wäre, sofern Ihre Hunde in letzter Zeit weder eine Untersuchung der Blutwerte noch eine körperliche Untersuchung hatten, jetzt ein guter Zeitpunkt dafür. Sie könnten auch gleich eine Zahn – und chiropraktische Vorsorgeuntersuchung mit durchführen lassen. Falls sich Ihr Tierarzt ursächlicher Zusammenhänge zwischen körperlichen Problemen und dem Verhalten nicht bewusst sein sollte, so suchen Sie nach einem, der besser informiert ist.
Lassen Sie uns den Tatsachen ins Gesicht sehen: Wir sind alle netter, wenn wir nicht total gestresst sind. Die Art und Weise, wie wir mit anderen interagieren, wird stark davon beeinflusst, wie wir uns in dem Moment fühlen. Da ist es nicht verwunderlich, dass die gleiche Dynamik auch bei Hunden wirkt. Ein Hund, der sich zerrissen fühlt, wird sehr viel wahrscheinlicher etwas krummnehmen und mit Aggression darauf reagieren, was ein anderer Hund tut, als einer, der entspannt ist. Die Anzahl der Dinge, die bei Hunden Stress auslösen kann ist endlos, genau wie bei uns Menschen. Nur einige der möglichen Faktoren sind Unwohlsein, eine Mahlzeit verpasst haben, von einem Besucher umgeben zu sein, dessen Anwesenheit Angst auslöst – und sogar das Wetter! Eine in Peking durchgeführte Studie5) zeigte einen starken Zusammenhang zwischen heißem Wetter und der Anzahl von Leuten, die wegen eines Hundebisses zur Notaufnahme kamen. Woraus man schloss, dass Hunde bei heißem Wetter gestresst und empfindlich werden können, genau wie es bei Menschen auch sein kann. Viele Hunde werden auch angespannt und nervös an Tagen, an denen es stark windet oder gewittert.
Wenn wir die Elemente betrachten, die zu aggressiven Vorfällen beitragen, ist es wichtig, dass man den Mechanismus des Auslösers versteht. Ein Auslöser (oder Trigger) ist all das, was Ihren Hund dazu veranlasst, auf bestimmte Weise zu reagieren. Eine Situation zwischen zwei Hunden, bei der Aggression mit im Spiel ist, könnte durch Fressen, Spielzeug, und jede Menge anderer Dinge ausgelöst werden. Aber manchmal löst etwas, das es im Normalfall nicht tut, aufgrund einer Anhäufung von Auslösern Aggression aus. Der Cattle Dog Rex und die Australian Shepherd Hündin Kona zum Beispiel leben zusammen und verstehen sich normalerweise gut miteinander. Eines Tages hatte Rex einen Termin beim Tierarzt. Auf Anraten des Tierarztes bekam er kein Frühstück zu fressen. Rex war auf der Fahrt zum Termin im Auto nervös. In der Klinik wurde er geimpft und bekam Blut abgenommen. Dieses Erlebnis überforderte ihn und er schnappte nach der Tierarzthelferin, die ihm einen Maulkorb anlegte – das war verständlich, verursachte aber noch mehr Stress. Als Rex dann endlich nach Hause kam, war Kona aufgeregt, als sie ihn sah und warb um ein Spiel, indem sie ihn ansprang. Rex, der normalerweise mit einem Spielangebot seinerseits antwortet, knurrte und schnappte nach ihr. Was war hier passiert? Eine Anhäufung von Auslösern! In diesem Fall waren die Auslöser Rex‘ fehlendes Frühstück, Ängstlichkeit im Auto und Stress in der Tierarztpraxis. Auslöser um Auslöser kam solange hinzu, bis Rex auf untypische Art und Weise auf typische Umstände reagierte. Stellen Sie sich eine Auslöser-Anhäufung vor wie einen Sturm, der in Aggressionen resultieren kann, wo sonst keine sind. Daher ist es, wenn Sie Ihr Verhaltenstagebuch führen, so enorm wichtig, dass Sie nicht nur die Situationen mit Aggression aufzeichnen, sondern auch, was diesen voranging.
Als Nächstes werden wir spezielle Auslöser und Faktoren näher erforschen, die zur Lage Ihres Hundes beitragen könnten.
1 Neilson JC, Eckstein RA, Hart BL. Effects of castration on problem behaviors in male dogs with reference to age and duration of behavior. JAVMA 1997; 211(2):180-183.
2 Duffy, Deborah L., Serpell, James A. (2006, November). Non-reproductive effects of spaying and neutering on behavior in dogs. Proceedings of the Third International Symposium on Non-Surgical Contraceptive Methods for Pet Population Control. Alexandria, Virginia.
3 Behavioral and Physical Effects of Spaying and Neutering Domestic Dogs (Canis familiaris) Summary of findings detailed in a Masters thesis submitted to and accepted by Hunter College by Parvene Farhoody in May 2010. ©2010 Parvene Farhoody