Hat er nicht durch die an Ihnen und Ihrem Gatten versuchten Verbrechen alle Rechte der Verwandtschaft verwirkt? fragte Tarzan. Die Tatsache, dass Sie seine Schwester sind, hat ihn nicht davon abgehalten, zu versuchen, Ihre Ehre zu beschmutzen. Sie brauchen keine Rücksicht mehr auf ihn zu nehmen, gnädige Frau.
Ach, sagte sie, es kommt noch der andere Grund in Betracht. Wenn ich ihm als meinem Bruder keine Rücksicht schulde, so kann ich doch nicht so leicht die Furcht verbergen, die ich vor ihm habe, weil er eine gewisse Episode aus meinem Leben kennt.
Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort:
Ich glaube, es ist am besten, ich erzähle Ihnen alles, denn ich fühle, dass ich es Ihnen früher oder später doch einmal sagen würde. Ich wurde in einem Kloster erzogen. In dieser Zeit lernte ich einen Mann kennen, den ich für einen Ehrenmann ansah. Ich wusste damals noch wenig oder gar nichts von den Menschen und der Liebe. Ich bildete mir in meinem unerfahrenen Kopfe ein, dass ich diesen Mann liebte, und auf sein Drängen brannte ich mit ihm durch. Wir wollten uns heiraten.
Ich war genau drei Stunden mit ihm zusammen, und zwar am hellen Tage und in der Öffentlichkeit – auf Eisenbahnstationen und im Zuge. Als wir unseren Bestimmungsort erreichten, wo wir getraut werden sollten, stiegen mit uns zugleich zwei Polizisten aus, die ihn verhafteten. Auch mich hielten sie an, aber als ich ihnen meine Geschichte erzählt hatte, ließen sie mich frei, doch musste ich in Begleitung einer Nonne in das Kloster zurückkehren.
Wie es scheint, war der Mann, der um mich geworben hatte, durchaus kein Gentleman, sondern ein Deserteur, der auch von den bürgerlichen Gerichten gesucht wurde. Er war der Polizei aller Länder Europas bekannt.
Die Sache wurde von der Leitung des Klosters vertuscht. Nicht einmal meine Eltern erfuhren davon. Aber später lernte Nikolaus den Gauner kennen und erfuhr von ihm die ganze Geschichte. Jetzt droht er mir, er werde sie dem Grafen erzählen, wenn ich nicht tue, was er wünscht.
Tarzan lachte.
Sie sind doch noch wie ein kleines Mädchen. Die Geschichte, die Sie mir erzählt haben, kann Ihren Ruf nicht im Geringsten beflecken, und wenn Sie nicht in Ihrem Herzen noch ein junges Mädchen wären, so würden Sie sich das selbst sagen. Gehen Sie noch heute Abend zu Ihrem Gatten und erzählen Sie ihm die ganze Geschichte, genau so, wie Sie mir sie berichtet haben. Wenn ich mich nicht sehr irre, wird er Sie wegen Ihrer Angst auslachen und dann sofort die nötigen Schritte unternehmen, um diesen Ihren kostbaren Bruder ins Gefängnis befördern zu lassen, wo er hingehört.
Ich wünschte nur, ich hätte den Mut dazu, sagte sie, aber ich bin ängstlich. Ich habe früh gelernt, die Männer zu fürchten. Zuerst meinen Vater, dann Nikolaus, dann die Väter im Kloster. Fast alle meine Freundinnen fürchten ihre Gatten, wie sollte ich da nicht auch den meinen fürchten?
Ich sehe nicht recht ein, weshalb die Frauen die Männer fürchten sollen, sagte Tarzan mit einem nachdenklichen Ausdruck im Gesicht. Ich bin mehr vertraut mit dem Dschungelvolk, und dort ist öfters das Umgekehrte der Fall, ausgenommen bei den Schwarzen, und diese stehen meiner Meinung nach noch eine Stufe tiefer als das Tier. Nein, ich kann nicht verstehen, weshalb zivilisierte Frauen den Mann fürchten sollen, da dieser doch geschaffen ist, sie zu beschützen. Ich könnte mich nicht an den Gedanken gewöhnen, dass ein Weib mich fürchten würde.
Ich glaube auch nicht, mein Freund, dass irgendein Weib Sie fürchten würde, sagte Olga de Coude leise. Ich kenne Sie erst seit kurzer Zeit, und es mag närrisch sein, das zu sagen, aber Sie sind von allen Männern, die ich je gekannt habe, der einzige, den ich wohl nie fürchten würde. Das ist merkwürdig, zumal Sie sehr kräftig sind. Ich war erstaunt, mit welcher Leichtigkeit Sie Nikolaus und Pawlowitsch in jener Nacht aus meiner Kabine hinausbefördert haben. Das war einfach großartig.
Als Tarzan sie eine Weile darauf verließ, wunderte er sich über den festen Handdruck, mit dem sie ihn verabschiedete, und über den nachdrücklichen Ton, mit dem sie ihm das Versprechen abnahm, morgen wiederzukommen.
Die Erinnerung an ihre halbverschleierten Augen und ihren reizenden Mund, als sie ihn bei seinem Fortgehen lächelnd ansah, verließ ihn den ganzen Rest des Tages nicht. Olga de Coude war wirklich eine schöne Frau, und Tarzan war ein einsamer junger Mann, dessen Herz sich nach Liebe sehnte.
Als die Gräfin nach dem Fortgang Tarzans sich im Zimmer umwandte, stand sie plötzlich Nikolaus Rokoff gegenüber.
Seit wann bist du hier? schrie sie, indem sie erschrocken zurückwich.
Schon länger als dein Geliebter, antwortete er, indem er einen boshaften Blick auf sie warf.
Halt ein! befahl sie. Wie konntest du es wagen, mir so etwas zu sagen, – deiner Schwester!
Gut, liebe Olga, wenn er nicht dein Geliebter ist, so will ich mich entschuldigen, aber es ist nicht dein Fehler, wenn er es nicht ist. Hätte er nur ein Zehntel meiner Weiberkenntnis, so lägst du jetzt in seinen Armen. Er ist ein dummer Narr, Olga. Jawohl, all deine Reden und Handlungen waren eine offene Einladung an ihn, und er schien das nicht einmal zu merken.
Die Gräfin hielt sich die Ohren zu.
Ich will dich nicht mehr anhören, sagte sie. Es ist unverschämt von dir, mir so etwas zu sagen! Du kannst mir drohen, so viel du willst – du weißt, dass ich eine anständige Frau bin. Von heute an sollst du es nicht mehr wagen, mich zu behelligen, denn ich werde Raoul alles erzählen. Er wird schon wissen, was er zu tun hat, und dann nimm dich in acht!
Du wirst ihm nichts sagen, erklärte Rokoff. Ich weiß jetzt Bescheid in dieser Sache, und mit Hilfe eines deiner Diener, dem ich vertrauen kann, wird nichts fehlen in dem Bericht für deinen Mann, sobald die Zeit gekommen sein wird, ihm die Sache zu unterbreiten. Die andere Affäre stimmt gut damit überein. Wir haben jetzt etwas Greifbares in Händen, Olga. Eine wirkliche Affäre – und du bist ein treues Weib. Schäme dich, Olga.
Dabei lachte der brutale Mensch.
So kam es, dass die Gräfin ihrem Gatten nichts erzählte und dass sich die Sache im Vergleich zu früher noch verschlimmerte. Während die Gräfin früher nur eine unbestimmte Furcht hatte, nahm diese jetzt fassbare Gestalt an. Es mag auch sein, dass ihr Gewissen sie noch mehr als nötig vergrößerte.
Die verfehlte Verschwörung
Seit einem Monat verkehrte Tarzan regelmäßig bei der schönen Gräfin de Coude, die er verehrte und die ihn immer gerne kommen sah. Oft fanden sich auch andere Mitglieder der kleinen Gesellschaft ein, die sie