Hansen. Paul Schaffrath. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Paul Schaffrath
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783870623272
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waren. Fertige Stahlskelette aus den Hochöfen des Ruhrgebiets hatten den Bau beschleunigt. Irgendwann war man trotzdem wieder zu Holzpfählen und Holzbalken zurückgekehrt, die einem Feuer länger standhalten konnten als Stahl. Und Wasser zum Löschen im Notfall gab es ja genug.

      Irgendwo mitzubauen, das wäre auch ein schöner Beruf. Claus ging langsam weiter. Ein paarmal mußte er Schauerleuten ausweichen, die gerade ein kleineres Schiff im Binnenhafen entluden und Ballen auf einer Schulter zu einem Haus gegenüber schleppten. Die Sachen schienen schwer zu sein, denn regelmäßig nahmen die Männer ihre Schirmmützen ab und wischten sich über die Stirn.

      Schließlich blieb er vor einem Gebäude stehen. Über dem doppelportaligen Haupteingang stand in goldenen Messingbuchstaben »Harry Petersen Kaffeeimport«. Am linken Torflügel aus poliertem schwarzen Holz war ein Stellenangebot befestigt: »Junger Mann für Lagerarbeiten und mehr gesucht. Bei Herrn Konrad (1. Stock) melden.« Die Tüchtigen werden schon Glück haben, dachte er, und stieß die Tür auf.

      Konsul Petersen schob den Schreibtischstuhl zurück und stand aufgrund seines deutlich zu großen Bauches etwas mühsam auf. Er achtete nicht so sehr auf seine Figur, weil er gutes Essen liebte, was es ja endlich wieder gab. Endlich stimmte jedoch nicht so ganz; bereits seit Anfang der fünfziger Jahre ging es mit der deutschen Wirtschaft steil bergauf – wie auch mit seiner Firma. Er konnte sich mit seiner großen Kaffeerösterei alles leisten, was er wollte. Zuletzt hatte er vor drei Jahren in Blankenese eine prächtige Villa an der Elbchaussee gekauft. Geld war genug da.

      Er trat ans Fenster und ließ das letzte Gespräch mit seinem Kompagnon Revue passieren. Andrea Russo war vor fünf Jahren im Rahmen des 1955 zwischen der Bundesrepublik und Italien geschlossenen Anwerbeabkommens zur Beschaffung ausländischer Arbeitskräfte als Hilfsarbeiter nach Hamburg gekommen und hatte sich über verschiedene Firmen hochgearbeitet. Vor vier Jahren war er mit einem großen Geldbetrag als Teilhaber in Petersens Firma eingestiegen. Russos Lebenslauf und seine Referenzen waren gut; und in Zeiten des deutschen Wirtschaftswunders war es leicht, rasch zu Geld zu kommen. Und er konnte arbeiten. Daß er darüber hinaus über ein großes Organisationstalent verfügte, war ein Glücksfall gewesen.

      Fast schien es dem Konsul, als könne er sich beruhigt auf sein Altenteil zurückziehen, aber mit Mitte fünfzig fand er sich dafür doch noch zu jung.

      Unten wurde gerade die Ladung eines kleinen Schiffes gelöscht, und die Arbeiter trugen Ballen ins Nachbarkontor. Petersen verfolgte den Weg eines jungen Mannes, der geistesabwesend durch das Treiben auf Kehrwieder strich und zweimal mit einem der Schauerleute zusammenstieß. Schließlich blieb er vor der Kaffeerösterei stehen und schien das von Herrn Konrad angebrachte Schild zu studieren. Der junge Mann sah nach oben, und Petersen trat einen Schritt zurück, um nicht als neugieriger Beobachter bemerkt zu werden. Kurz darauf ging er aber erneut ans Fenster.

      Der junge Mann war verschwunden.

       Über philanthropische Unternehmer

      Bonn, April 2019. Hinnerk hatte bestens geschlafen. Über Airbnb hatte er sich noch von Hamburg aus ein unauffälliges Zimmer im zweiten Stock eines Hauses in der Friedrichstraße besorgt, so daß er mit falschem Namen und falscher Kreditkarte hatte buchen können und nicht nach seinem Ausweis gefragt wurde, wie es jetzt immer häufiger bei Übernachtungen in normalen Herbergen der Fall war. Außerdem besaß das Personal hinter der Empfangstheke eines Hotels meist ein gutes Gedächtnis, was das Aussehen einiger etwas aus dem Rahmen fallender Gäste anging. Und mit seiner Größe und den blonden Haaren war er schon auffällig. Anonym zu bleiben, war auf jeden Fall besser.

      Der Hüne warf die Barbourjacke über und schloß die Zimmertür ab. Wie immer befestigte er ein längeres Haar zwischen Türwange und Türblatt, um ungebetene Gäste bei seiner Rückkehr feststellen zu können. Man mußte für alle Gelegenheiten gewappnet sein.

      Gestern abend, nachdem er seinen kleinen Auftrag erledigt hatte, war ihm ein französischer Bäcker in der Nähe aufgefallen. Vielleicht gab es dort ein anständiges Frühstück.

      Tatsächlich hatte das »C’est-la-vie« schon geöffnet. Mit einem Pain au chocolat, einem Croissant und einem großen Milchkaffee von der Theke machte Hinnerk es sich in einer Ecke bequem, von der aus er die Eingangstür unauffällig im Blick behalten konnte. Alte Angewohnheit; man mußte stets mit allem rechnen.

      Auf seinem Handy studierte er den Bonner Stadtplan und legte sich im Geist den Fußweg zu seinem nächsten Auftragsort zurecht; die dazugehörige Adresse war heute morgen per SMS gekommen. Jetzt mußte er nur noch auf den Einsatzbefehl warten. Da er wie immer vorbereitet war – die Pistole war gereinigt, das Magazin vorhanden und das Handy aufgeladen –, konnte auch dieses Mal nichts schiefgehen.

      Hinnerk sah seine Tätigkeit als ehrliche Arbeit an, die der Gemeinschaft zugute kam. Wer sich nicht an Regeln hielt, mußte bestraft werden. Das erledigte er, bislang stets zur Zufriedenheit seines Auftraggebers. Gemeinschaft verstand er allerdings als diejenige, der er und Onkel Alberto angehörten. Dennoch traf Marc Aurels Lebensmaxime, auf die er in einer Zeitschrift gestoßen war und die er ausgeschnitten zu Hause über sein Bett gehängt hatte, auch auf ihn zu: »Arbeite! Aber nicht wie ein Unglücklicher oder wie einer, der bewundert oder bemitleidet werden will. Arbeite oder ruhe, wie es das Beste für die Gemeinschaft ist.«

      Hinnerk biß ein Stück vom Schokoladenmilchbrötchen ab und trank einen großen Schluck Kaffee. Er ließ sich noch einmal seinen gestrigen Einsatz durch den Kopf gehen. Bestimmt hatte man den Toten schon entdeckt. Die kleine Uhr auf seinem Handy zeigte 08:33 an. Schade, daß es noch keine App zum Abhören des Polizeifunks gab. Es war immer gut zu wissen, was der Gegner gerade machte. Aber ihn würden sie, wie sonst auch, nicht entdecken. Dafür war er einfach zu unauffällig. Selbst große Leute wurden übersehen, wenn sie es darauf anlegten, und unsichtbar zu werden – darin war er Meister. Nur in Hotels mußte man, wie gesagt, aufpassen.

      Okay, noch der heutige Einsatz, und dann würde er wieder nach Hamburg zurückfahren. Vielleicht sogar per Flix-Train. Die Beschreibung der Reise in die alte Hansestadt auf der Seite des Unternehmens klang gemütlich: alte Waggons der Bundesbahn, Sechser-Abteile, Fenster, die sich öffnen ließen, nur wenige Haltepunkte unterwegs – Nostalgie war etwas, das Hinnerk schätzte. Spaßeshalber warf er einen Blick auf die Abfahrtszeiten des Zuges aus Köln: 15:01 Uhr, das konnte er sogar schaffen. Wenn die Einsatz-SMS rechtzeitig kam.

      Schneider stand draußen vor der Lagerhalle und rauchte.

      »Du wirst mir immer unsympathischer«, sagte Krüger. »Nicht nur, daß du dauernd deine Frauen wechselst, jetzt hast du auch noch eine neue Zigarettenmarke.« Er deutete auf den dunkelbraunen Glimmstengel.

      »Zigarillo«, sagte Schneider. »Und du bist mal schön ruhig. Wenn ich dich an deine Zigarren erinnern darf …«

      »Das kann man beim besten Willen nicht als Rauchen bezeichnen, zweimal im Jahr. Und dann nur eine halbe. Und nur unter Zuhilfenahme von Rotwein. Oder Whisky. Und außerdem darf Carmen nicht dabei sein, weil sie sonst etwas von den Gefahren von Alkohol und Rauch sagt. Und ohne Carmen ist das Leben nur halb so schön. Also rauche ich nicht. Jedenfalls nicht richtig.«

      Schneider sah seinen Freund etwas neidisch an. Eigentlich wäre er auch gerne fest liiert, nicht nur teilweise und das nur manchmal. Andererseits schien das Glück immer auf der anderen, nie auf der eigenen Straßenseite zu lauern. Um es zu erhaschen, mußte man die Straße überqueren. Er seufzte und warf den nur zu einem Drittel gerauchten Zigarillo auf den Boden. Mit der Fußspitze erstickte er die Glut.

      »Das wird aber auf die Dauer teuer«, sagte der Praktikant und trat neben die beiden Kommissare. »Der schöne Zigarillo. Aber bei Ihrem Gehalt spielt das sicher keine Rolle.«

      Krüger studierte das Gesicht des jungen Mannes, der für die Lagerhalle viel zu intelligent aussah. »Wie heißen Sie eigentlich?«

      »Fabian. Fabian Schmücker.«

      »Und was machen Sie beruflich?« fragte Schneider.