Hansen. Paul Schaffrath. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Paul Schaffrath
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783870623272
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mehr lange gut. Die Südtiroler hatten seit dem Zweiten Weltkrieg einen »Tirexit« immer mal wieder versucht und waren sogar vor Bombenattentaten nicht zurückgeschreckt, was aber der erzwungenen Einheit von Südtirol und Norditalien keinen Abbruch getan hatte. Irgendwann hatte dann die zweite Generation ihre Bemühungen um Unabhängigkeit eingestellt. Und inzwischen prosperierte die Gegend sogar wieder. Mal sehen, wie lange es dauerte, bis auch die Briten begriffen, daß jede Art Abspaltung in der heutigen Zeit völlig sinnlos war. Sicher länger, als es dauerte, daß aus May December wurde.

      Prüfend faßte Hinnerk in die Tasche seiner Barbourjacke. Die Glock 17 – Kaliber 9mm Parabellum – steckte dort, wo sie sein sollte, der Schalldämpfer daneben. Ursprünglich hatte er sich eine klassische Browning FN High Power besorgen wollen, die noch immer hergestellt wurde. Sie schoß ziemlich genau, war aber auch ziemlich schwer, und immer eine Keule in der Tasche zu tragen, das wollte er nun auch nicht.

      Er blätterte die Zeitung um und wandte sich dem Sportteil zu. Es würde noch dauern, bis seine Zielperson auftauchte.

      Hinnerk, das war doch ein schöner Name für einen blonden Hünen wie ihn, einen Meter neunzig groß, lange Haare, ein Dreitagebart, blaue Segeltuchhose, hellblaues Hemd, grauer Pullover, die Barbourjacke nicht zu vergessen, die ihm fast zu warm war. Wenn er ins Filmgeschäft gegangen wäre, wäre er bestimmt häufig als der Skipper vom Dienst beschäftigt worden. Er grinste.

      Eigentlich hieß er nämlich Michele Maria Modafferi und war Italiener. Glücklicherweise waren seine Eltern zwei Jahre nach seiner Geburt nach Hamburg ausgewandert, um einem seiner zahlreichen Onkel beim Aufbau einer hanseatischen Pizzeriakette zur Seite zu stehen. Nachträglich hatte sich das als Glück herausgestellt, denn ein blonder Mann fiel im Norden entschieden weniger auf als in Süditalien. So galt er als waschechter Hamburger, was er ab und zu durch eingestreute Missingsch-Brocken bei seinen Unterhaltungen unterstrich: Zum Beispiel konnte er zu einer neuen Kellnerin im Restaurant seiner Eltern »Na, min seute Deern?« sagen und ihr freundlich aufs Hinterteil klopfen, was neuerdings leider nicht mehr ging, seit sie in Hollywood alle verrückt geworden waren und »#MeToo!« bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit schrien. Aber auch hier würde er stoisch abwarten, bis sich der Wind wieder zu seinen Gunsten gedreht hatte und die Wogen geglättet waren.

      Jemand hupte.

      Hinnerk sah auf.

      Aber es war nur ein Taxi, das ungeduldig abwarten mußte, bis das Kaffeefahrrad, das immer vor dem Eingang zum Poppelsdorfer Schloß stand, von seinem Besitzer über die Straße geschoben worden war.

      Hinnerk senkte den Kopf und vertiefte sich wieder in den Sportteil. Wo er seinen Auftrag ausführen sollte, hatte er bereits gestern überprüft: »Wwe. Arntz’ Feine Kaffeebohnen« hieß die Firma, die merkwürdigerweise nicht in einem Vorort lag, sondern fast im Zentrum, jedenfalls südwestlich davon, im großen Gründerzeitviertel, das sich Bonn Ende des neunzehnten Jahrhunderts geleistet und das Tausende neuer Arbeitsplätze und Familien zur Folge gehabt hatte. Die Kaffeerösterei in der Königstraße bestand aus dem großen Haupthaus, den Lagerräumen rechts davon, der Brennerei zum hinteren Grundstücksteil hinaus und der Packstation, wo die Ware für den Versand vorbereitet wurde – nicht zu vergessen die Räume für Buchhaltung und Geschäftsleitung. Die Fassaden der Gebäude war im blassen, über die Jahrzehnte mehrfach überstrichenen Mattweiß der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert gehalten.

      Die Villa von Andreas Weyler, dem Besitzer, lag um die Ecke in der Argelanderstraße, zwei Minuten entfernt. Der Mann hatte keine Familie, so daß nach Hinnerks, nun, Eingriff seine Räumlichkeiten ab morgen wieder frei sein würden.

      Der Sportteil bot auch nichts wirklich Interessantes. Hinnerk wandte sich den Kulturnachrichten zu.

      Von irgendwoher schlug eine Kirchturmuhr. Der Italiener von der Waterkant sah auf die Uhr. Schon sechs. In etwa zwei Stunden würde es dunkel sein. Wenn er Weyler im Lager erledigte, würde man ihn bestimmt erst morgen finden – Zeit genug, um in aller Seelenruhe aus Bonn zu verschwinden und die Heimreise anzutreten. Hinnerk fühlte in seiner anderen Jackentasche nach dem Magazin. Lieber auf Nummer sicher gehen. Der Behälter mit den siebzehn Patronen lag da, wo er sich schon bei den anderen viertelstündlichen Überprüfungen befunden hatte. Der blonde Hüne überlegte kurz, ob das Sich-Vergewissern Zeichen seiner Nervosität war, tat den Gedanken aber als unnütz ab. Er war einfach nur sorgfältig, wie immer. Sorgfalt verhalf zum Erfolg. Und bisher war alles stets gut ausgegangen. Der kölsche Satz »Et hätt noch immer jot jejange« hätte sicher in seine Philosophie Eingang gefunden, wenn er ihn gekannt hätte.

      Ein leichter Wind war aufgekommen, und die Zeitung raschelte. Etwas wie Frösteln kannte Hinnerk nicht, dafür war es in Hamburg einfach immer zu zugig, so daß er abgehärtet war. Dauernd wehte dort ein leichter Wind aus Südwest, gegen den sich die Einheimischen mit einem Südwester zu schützen suchten – zumindest die, die mit einem Schiff unterwegs waren. Falls sie über Bord gingen, konnte man sie aufgrund der gelben Farbe des Kleidungsstücks rasch ausmachen – so hatte es ihm jedenfalls seine Mutter in einem ihrer seltenen Anfälle von Humor zu erklären versucht. Die andere Hälfte der Hanseaten ignorierte den Wind an der Elbe wie auch die meisten anderen Dinge im Leben: die Kaufleute aus Bremen beispielsweise, die sich nach Hamburg verirrt hatten, oder den Abstieg des HSV aus der Bundesliga, den man nach dem Wiederaufstieg einfach vergessen würde.

      Ein Herr in Jeans und Lederjacke kam gerade aus Richtung der kleinen Straße gegenüber; Venusbergweg oder so ähnlich, hatte Hinnerk vorhin auf dem Straßenschild gelesen. Er stolperte über eine leere Bierdose, fing sich aber sofort wieder und setzte seinen Weg Richtung Innenstadt fort.

      Der Hüne blätterte die Zeitung wieder um, warf einen Blick auf die nunmehr letzte Seite und faltete das Blatt zusammen. Mit einem eleganten Wurf versenkte er die Ausgabe der größten italienischen Tageszeitung im Papierkorb neben der Bank. Anschließend holte er sein Handy aus der Tasche, ein Smartphone neueren Datums von Motorola, und studierte die eingetroffenen E-Mails. Eine erregte seine Aufmerksamkeit. Sie war mit »Nachschub erbeten« überschrieben und enthielt nur ein paar Stichworte. »Keine Abreise aus Bonn. Anwesenheit vor Ort weiter erforderlich. Nähere Instruktionen folgen.« Zio Alberto war anscheinend dem Telegrammzeitalter noch immer nicht entwachsen. Aber ansonsten war sein Onkel schon in Ordnung.

      Der Stoiker nickte unmerklich. Ein neuer Auftrag bedeutete neues Geld. Vielleicht konnte er sich dann wirklich in den kommenden Jahren zur Ruhe setzen und in Stade endlich ein italienisches Feinschmeckerrestaurant eröffnen. Das Glück ist mit den Tüchtigen!

      Das Handy zeigte neunzehn Uhr. Irgendwie ähnelte die Wartezeit auf der Bank an der Poppelsdorfer Allee der im Wartezimmer einer Arztpraxis. Hatte man sich erst einmal damit abgefunden, daß das Warten viel länger als die Behandlung dauerte, war auch schon beides vorbei.

      Hinnerk stand auf. Sich etwas umzusehen, konnte nicht schaden, rasch noch einen Blick auf das Haus, die Umgebung und den Fluchtweg werfen, bevor es losging.

      In der Barbourjacke warteten die beiden Teile seiner Waffe geduldig auf ihren Einsatz.

       Der Mann, der die Frauen liebt

      Bonn, April 2019. Daß die Leute auch immer ihren Müll überall herumliegen ließen. Für die Bierdose hätte man doch noch das Pfandgeld zurückbekommen. Krüger überlegte kurz, sie aufzusammeln, entschied sich aber dagegen. Für fünfundzwanzig Cent klebrige Finger zu bekommen, wollte er nicht riskieren. Der Herr auf der Bank dagegen hatte es richtig gemacht: Mit einem knappen, kurz gezielten Wurf hatte er seine Zeitung in den Abfallbehälter in etwa anderthalb Meter Entfernung befördert. Es gab doch noch vernünftige Zeitgenossen.

      Der Bonner Kriminalhauptkommissar befand sich auf dem Weg zu einem Treffen mit seinem Kollegen Schneider. Treffen bedeutete, man würde in einer der zahllosen Bonner Kneipen oder in einem Restaurant etwas trinken und vielleicht etwas essen – beziehungsweise heute bestimmt etwas essen, da seine Freundin Carmen ihren monatlichen Buchklubabend hatte und ihm daher keine Vorschriften über Menge und Art seines Abendessens