Alle Liebe dieser Welt. Marie Louise Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie Louise Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788711718377
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Etage des Hotels »Königshof« auf sie zu warten. Sie hatte das Bedürfnis, ihren Bericht so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.

      »Morgen erster Verhandlungstag im Mordprozeß Carola Groß«, gellte die Stimme eines Zeitungsverkäufers durch den Verkehrslärm am Stachus. »Die schöne Annabelle … Opfer einer eifersüchtigen Ehefrau?«

      Im Vorbeigehen erstand Ellen Krone eine Zeitung und warf, während sie weitereilte, einen Blick auf das Titelblatt. Es zeigte das Foto einer jungen Frau mit glattem, gepflegtem Gesicht, leicht schräg stehenden Augen, hohen Backenknochen und einem vollen Mund. Langes blondes Haar betonte das Nixenhafte ihrer Erscheinung. Es war ein Gesicht, das nicht nur Ellen Krone, sondern auch jedem Zeitungsleser seit langem vertraut war – das Gesicht der ermordeten Annabelle Müller.

      Ellen Krone las die Schlagzeile, überflog den Artikel, der nichts Neues enthielt, sondern sich darauf beschränkte, längst bekannte Tatsachen noch einmal möglichst raffiniert zu servieren.

      Sie faltete die Zeitung zusammen, ließ sie, bevor sie den »Königshof« betrat, in einen Papierkorb fallen – sie wollte ihren Mann durch ihr Interesse an diesem Fall nicht noch mehr verärgern.

      Als sie das Restaurant im ersten Stock betrat, sah sie mit einem Blick, daß ihr Mann die gleiche Zeitung aufgeschlagen vor sich hatte. Er saß an einem der hohen Fenster, von denen man einen guten Überblick über den ganzen Platz hatte, mit dem Gesicht dem Eingang zugewandt, und er bemerkte ihren Eintritt, noch bevor sie sich seinem Tisch genähert hatte.

      Er sprang auf und legte die Zeitung beiseite. »Hat es geklappt?« fragte er.

      Sie schüttelte den Kopf. »Leider nein.«

      »Verdammt«, entfuhr es ihm.

      »Ich habe wirklich alles versucht«, fügte sie sehr leise hinzu.

      »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Möchtest du etwas trinken?«

      »Ja, bitte, eine Tasse Kaffee.«

      Er rückte ihr den Sessel zurecht, und sie setzte sich, knöpfte ihre Jacke auf, zog ihre Handschuhe aus. »Es tut mir so leid«, sagte sie.

      Er gab seine Bestellung auf und setzte sich ihr gegenüber. »Ich hätte es dir gern erspart«, sagte er, »aber wenn es denn sein soll …«

      »Es gäbe noch eine Möglichkeit«, meinte sie, »wenn ich krank würde …« Ihre Augen leuchteten auf, sie war von ihrer eigenen Idee begeistert. »Ich fühle mich tatsächlich seit einiger Zeit nicht ganz wohl! Ich bin sicher, wenn ich zu einem Arzt ginge …«

      Er unterbrach sie. »Dazu ist es jetzt zu spät.«

      »Aber wieso denn? Ein Attest müßte das Gericht doch überzeugen …«

      »Nein«, sagte er, »du würdest dich nur verdächtig machen. Der Vorsitzende weiß ja schon, daß du dein Amt als Geschworene nicht übernehmen willst.«

      »Das macht doch nichts«, entgegnete sie, »was kann mir schon passieren?«

      »Hör auf damit«, sagte er. »Glaube mir, es ist zu spät.«

      Mehr als durch seine Worte war sie durch seinen Ton betroffen. Sie liebte ihn sehr, und sie glaubte ihn gut zu kennen. Aber in diesem Augenblick hatte sie das Gefühl, einem Wildfremden gegenüberzusitzen.

      Für die Schwurgerichtsverhandlung gegen Carola Groß war der größte Saal des Landgerichts bestimmt worden. Dennoch bot er für die andrängende Masse der Neugierigen und Sensationslustigen nicht Platz genug.

      Als Ellen Krone zehn Minuten vor neun Uhr eintraf, war der Eintritt für das Publikum schon gesperrt. Nur Journalisten und sachkundige Beobachter, die eigens für diesen Prozeß in München zusammengekommen waren, wurden noch eingelassen, für sie hatte man ganze Reihen reserviert.

      Ellen Krone empfand ein prickelndes Gefühl von Wichtigkeit, als sie ihre Ladung einem Justizbeamten vorwies und von ihm in das Zimmer hinter dem Sitzungssaal gewiesen wurde. Die meisten Geschworenen waren schon anwesend. Sie hatten sich um eine schlanke, grauhaarige Frau gruppiert, die unverkennbar das große Wort führte.

      Ellen Krone taxierte sie, ihrem selbstbewußten Auftreten und ihrer befehlsgewohnten Stimme nach, als Lehrerin im Ruhestand.

      Landgerichtsrat Dr. Mergentheimer stand mit den beiden anderen Richtern zusammen. Alle drei waren schon in ihren schwarzen Talaren. Er begrüßte Ellen Krone, die ihm ihre Ladung und ihren Ausweis zeigte, mit betonter Herzlichkeit.

      »Fein, daß Sie also doch gekommen sind, Frau Krone«, sagte er mit einem lächelnden Augenzwinkern.

      Ellen Krone ärgerte sich, daß sie errötete, sie fand ihr eigenes Benehmen albern und schulmädchenhaft, sie war froh, als der Landgerichtsrat sich dem nächsten Ankömmling zuwandte.

      »Herr Kasimir Kaiser, Lagerverwalter«, sagte er, »ja, geht in Ordnung!« Er reichte dem Geschworenen seine Papiere zurück.

      Dieser Name paßte so wenig zu seinem Träger, einem mageren, unscheinbaren kleinen Mann, daß Ellen Krone ihm unwillkürlich einen erstaunten Blick zuwarf, den Kasimir Kaiser mit so viel kalter Arroganz erwiderte, daß sie sofort zur Seite blickte.

      Kasimir Kaiser zog seinen Mantel aus, hängte ihn an den Kleiderständer und blieb betont abseits von den anderen stehen, ein süffisantes Lächeln um die schmalen, blutleeren Lippen, die Hände in den Hosentaschen. Er sah aus wie ein Mann, der sich aller Welt überlegen fühlt, sein Urteil längst gefaßt hatte und die bevorstehende Gerichtsverhandlung für einen ganz überflüssigen Firlefanz hielt.

      Kein angenehmer Zeitgenosse, schoß es Ellen Krone durch den Kopf, arme Carola Groß!

      Sie überlegte noch, ob sie sich den anderen Geschworenen vorstellen sollte, als Landgerichtsrat Mergentheimer das Wort ergriff.

      »Meine Damen und Herren«, sagte er, »glauben Sie mir, es ist noch viel zu früh, den Fall zu diskutieren, geschweige denn, sich ein Urteil zu bilden. Bitte, Frau Breuer!«

      Die schlanke, grauhaarige Frau fuhr zusammen, sah ihn fast schuldbewußt an.

      »Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit«, erklärte Landgerichtsrat Mergentheimer lächelnd. »Ich möchte Sie bitten, Sie alle bitten, zu vergessen, was Sie in den Zeitungen über den Mordfall, über Schuld oder Unschuld der Angeklagten gelesen haben. Sie dürfen ruhig unterstellen, daß wir, meine beiden Kollegen und ich, weit besser über die Tatsachen und die Indizien, die in diesem Prozeß zur Sprache kommen werden, orientiert sind als sämtliche Journalisten und Zeitungsleser … und dennoch würden wir uns niemals anmaßen, den Ausgang des Prozesses schon jetzt, ehe er begonnen hat, vorauszusagen …«

      Kasimir Kaiser räusperte sich, machte ein Gesicht, als wollte er etwas entgegnen, hüllte sich dann aber, als er alle Blicke auf sich gerichtet sah, doch in Schweigen, lächelte nur vielsagend.

      »Sie, meine Damen und Herren Geschworenen, haben die schwere Aufgabe, Recht zu finden und Recht zu sprechen, Sie müssen über das Schicksal eines Menschen entscheiden, und ich bin überzeugt, Sie können es nur, wenn Sie sich ehrlich bemühen, völlig unvoreingenommen in die Verhandlung einzutreten!« fuhr der Landgerichtsrat fort. »Alles, was Sie wissen wollen, werden Sie im Gerichtssaal hören … damit nicht genug, Sie haben das Recht, selber Fragen an die Angeklagte und an die Zeugen zu stellen, wenn Sie den Eindruck haben, daß der eine oder andere Punkt noch näher geklärt werden müßte …« Er sah sich im Kreis der Geschworenen um. »Ich denke, Sie werden zugeben, daß Sie dadurch eine weit bessere Informationsmöglichkeit erhalten, als die Zeitungen je bieten können …«

      »Sehr schön«, schloß Landgerichtsrat Mergentheimer, »ich sehe, wir haben uns verstanden!« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Es ist soweit!«

      Die drei Richter setzten ihre Barette auf, der Landgerichtsrat öffnete die Tür zum Sitzungssaal, und – die Berufsrichter voran – zogen sie ein.

      Das aufgeregte Stimmengewirr in dem großen Saal verstummte augenblicklich. Scharrend und Stühle rückend, erhob sich das Publikum, dann trat atemlose