»Wahrscheinlich net vor morgen abend«, antwortete sie. »Die Hütte steht droben am oberen Wald. Die Felder gehören zum Hof, und Sie haben ja gehört, was der Franz wegen der Wildschweine gesagt hat. Der Förster hat letzte Woche die Abschußgenehmigung erteilt, weil die Viecher wirklich Überhand nehmen. Der Georg hat Vorräte mitgenommen und sich für länger eingerichtet.«
Sebastian erhob sich.
»Ich wollt’ ihn ja eigentlich sprechen«, sagte er. »Aber vielleicht ist’s auch ganz gut, wenn er erst einmal in aller Ruhe nachdenkt und wieder zu sich kommt.«
»Glauben S’ denn, daß es wieder was wird, mit den beiden?« fragte die Magd. »Ich würd’s mir sehr wünschen, denn die Andrea ist ein patentes Madl und was sie noch net weiß, um Bäuerin zu werden, das würd’ ich ihr schon beibringen.«
»Ich bin sicher, daß es zwischen ihnen wieder in Ordnung kommt«, sagte Sebastian zuversichtlich. »Aber manchmal dauert es halt etwas länger. Und wenn Andrea nach drei Jahren zurückgekommen ist, dann net ohne Grund.«
Liesl lächelte.
»Geb’s Gott, daß Sie recht behalten«, hoffte sie.
Der Bergpfarrer sagte ihr noch ein paar aufmunternde Worte und verabschiedete sich. Auch wenn er den Bauern nicht angetroffen hatte, so war sein Besuch auf dem Mäderhof doch nicht vergeblich gewesen. Was er über Georgs Verhalten erfahren hatte, verriet ihm, daß er Andrea keineswegs vergessen hatte, wie sie glaubte.
Natürlich mußte seine Reaktion auf ihre Anwesenheit im Wachnertal einen Grund haben, und den galt es, herauszufinden. Aber wenn sie ihm tatsächlich egal gewesen wäre, dann hätte der Mäderbauer viel gelassener sein können.
Sebastian fuhr ins Dorf zurück und suchte die Pension auf. Er erzählte Andrea von seinem Besuch und von dem, was er von Liesl Lindhoff erfahren hatte.
»Ich seh’s keineswegs so, daß der Georg nix mehr von dir wissen will«, sagte er, als er das enttäuschte Gesicht der jungen Frau sah. »Ganz im Gegenteil, er ist bloß überrascht, daß du dich nach all der Zeit wieder gemeldet hast, und wird in aller Ruhe darüber nachdenken müssen. Also Kopf hoch, und gib die Hoffnung net auf.«
»Wenn Sie es sagen, Hochwürden«, nickte die Sekretärin, »dann muß ich es wohl glauben.«
Der Bergpfarrer verabschiedete sich.
»Ich würd’ mich freuen, wenn du heut’ abend ins Pfarrhaus kämst«, sagte er beim Hinausgehen. »Der Max und die Claudia werden auch da sein, und nachher geh’n wir auf den Tanzabend. Hast’ Lust dazu?«
»Sehr gern’«, antwortete Andrea erfreut. »Vielen Dank, es wird bestimmt sehr schön.«
*
Hubert Hirschler saß auf der Bank vor dem Haus und blickte stolz auf das junge Madl, das mit einem Arm voller Wiesenblumen durch die Einfahrt kam.
»Grüß dich, Großvater«, sagte Franzi und beugte sich zu ihm und gab ihm einen Kuß auf die Wange.
»Schöne Blumen hast’ mitgebracht«, meinte der Altbauer.
»Die sind für die Großmutter«, antwortete die Enkelin. »Sie hat sie doch immer so gern’ gemocht. Ich bring’ sie nach dem Essen zum Grab.«
Hubert Hirschler klopfte auf die freie Fläche neben sich.
»Hock’ dich ein bissel her«, sagte er. »Wir haben uns lang’ net unterhalten. Wie geht’s in der Schule?«
»Prima.«
Franzi Hirschler setzte sich neben ihn. Sie war achtzehn Jahre alt und ein hübsches Madl. Lange, dunkle Haare bedeckten ihre schmalen Schultern. Manchmal band sie sie auch zu Zöpfen. Das aparte Gesicht war weich, besaß aber die gesunde Farbe eines Menschen, der in den Bergen aufgewachsen war. Sie hatte unverkennbare Ähnlichkeit mit ihrer verstorbenen Großmutter – einer der Gründe, warum der Altbauer sie immer wieder liebevoll und bewundernd ansah.
Die Enkelin besuchte das Gymnasium in der Stadt. Nach dem Abitur wollte sie studieren, und das Fach, das sie sich ausgesucht hatte, erstaunte die ganze Familie.
Architektin wollte sie werden!
»Ihr wißt doch, daß ich mit der Landwirtschaft nix am Hut hab’«, erwiderte Franzi, als ihre Eltern entsetzt auf ihre Eröffnung, den Hof nicht übernehmen zu wollen, reagierten.
Was einmal aus dem Hirschlerhof werden sollte, interessierte sie nicht. Wenn es nach ihr ging, konnten die Eltern ihn später einmal verkaufen und sich zur Ruhe setzen. Seltsamerweise hatte sie dabei Unterstützung von ihrem Großvater erhalten, der sie über alles liebte und sie bei ihren Plänen unterstützte.
Enkelin und Großvater saßen eine ganze Weile zusammen und unterhielten sich, dann sagte Franzi, sie wolle die Blumen ins Wasser stellen, damit sie nicht schon vor dem Friedhofsbesuch vertrockneten, und nach dem Mittagessen schauen. Sie ging ins Haus, und Hubert Hirschler stand auf, um vor dem Essen noch ein paar Schritte zu spazieren. Fünfundsiebzig Jahre war er jetzt und immer noch rüstig. An seinem sechzigsten Geburtstag hatte er sich auf das Altenteil zurückgezogen und den Hof seinem Sohn überschrieben. Gerne hätte er seinen Lebensabend noch länger an der Seite seiner Frau verbracht, aber Maria war vor vier Jahren verstorben, und es war ein herber Schlag für die ganze Familie gewesen.
Der Altbauer ging ein Stück die Straße hinunter. Prächtig stand das Korn auf den Feldern, und Stolz wurde in ihm wach, als er zurückschaute.
Damals, als er auf den Hof einheiratete, stand es gar nicht gut um den Betrieb. Es waren schlechte Zeiten, der Krieg noch nicht lange vorbei. Aber er hatte es angepackt und seinen Schwiegereltern gezeigt, was in ihm steckt. Der Sohn hatte das Werk seines Vaters fortgesetzt, und der Hirschlerhof stand wirtschaftlich auf einer soliden Basis.
Natürlich bedauerte Hubert es, daß der Hof eines Tages in fremde Hände kommen würde. Aber er verstand auch Franzis Wunsch, ihn nicht übernehmen und einen ganz anderen Weg einschlagen zu wollen. Er aber wollte jetzt nicht daran denken. Wenn es einmal soweit war, würde er ohnehin nicht mehr sein.
Als er zurückkam, stand das Essen schon auf dem Tisch. Samstags gab es meistens einen kräftigen Eintopf, und Hubert lobte die Enkelin wieder einmal für ihre Kochkünste.
Nach dem Mittag zog er sich in den Anbau zurück, den er und sein Sohn seinerzeit errichtet hatten, als Hubert Hirschler Vinzent den Hof überschrieb. Dort legte sich der Altbauer auf das Sofa, schloß die Augen und wanderte in Gedanken in der Zeit zurück.
Vieles hatte er in seinem Leben erfahren und durchgemacht. Und so manches davon hatte ihn geprägt. Indes gab es nichts, was er bedauerte, auch wenn etwas darunter war, das hin und wieder sein Gewissen belastete.
Unwillig richtete Hubert sich auf, als er an den Anhänger denken mußte. Ein flaches Stück Metall. Gold war es freilich, mit einer schönen Gravur darauf. Nicht mehr wert als achtzig Mark. Aber das war damals viel Geld gewesen. Und doch hatte er diesem Anhänger sein ganzes Glück zu verdanken. Ohne ihn wäre er nicht das geworden, was er heute war.
Ein wohlhabender Mann, ein erfolgreicher Bauer, angesehen bei Freunden und Nachbarn.
Trotzdem war der Gedanke an das Schmuckstück unangenehm. Denn damit war auch etwas verbunden, das Hubert Hirschler zeitlebens vor anderen verborgen hatte, und er wünschte sich, daß es niemals ans Licht der Sonne kommen möge.
Er sank auf das Sofa zurück und versuchte, an etwas anderes zu denken. Doch die Erinnerungen kamen quälend zurück. Er wälzte sich unruhig hin und her, und stand schließlich wieder auf.
Es kam öfter vor, daß er daran denken mußte. Aber in der letzten Zeit geschah es noch viel häufiger. Der Altbauer versuchte zu ergründen, was der Grund dafür sein könnte.
Mußte er Angst haben?
Nein, eigentlich war es unmöglich. Der einzige Mensch, der die Wahrheit kannte, war irgendwo untergetaucht, wo ihn und seine Geschichte niemand kannte, oder er weilte längst nicht mehr