Heimlich wollte sie fahren und sich erst einmal erkundigen, was aus dem jungen Bauern geworden war. Vielleicht war er längst verheiratet, und dann wäre es für beide peinlich gewesen, stünde Andrea plötzlich vor der Tür.
Und morgen sollte es losgehen. Die hübsche Sekretärin würde lügen, wenn sie behauptete, daß sie nicht aufgeregt sei. Die letzten Stunden des Arbeitstages wollten nicht vergehen, und als sie am Abend ins Bett ging, konnte sie lange nicht einschlafen.
Wie wird’s wohl werden, unser Wiedersehen?
Diese Frage stellte sie sich, und sie ließ Andrea nicht mehr los.
*
»Na, Loisl, schaust ja schon wieder ganz gesund aus«, meinte Sebastian Trenker, als er den selbsternannten Wunderheiler von St. Johann im Krankenhaus besuchte.
Der Alte saß auf dem Bett, trug ein Nachthemd, das die Schwestern ihm gegeben hatten, und schaute den Bergpfarrer mit mürrischem Gesicht an.
»Das liegt ganz sicher net an der Medizin hier«, behauptete er. »Sondern daran, daß mein Körper all die Jahre ein gutes Immunsystem entwickelt hat, und das kommt allein’ von meinen Wundermitteln!«
Sebastian verkniff sich ein Lächeln. Daß der Brandhuber seine angeblich heilenden Salben, Tees und andere Mixturen an gutgläubige Menschen zu überhöhten Preisen verkaufte, war ihm von jeher ein Dorn im Auge. Aber daß der Quacksalber seine Mixturen selbst schluckte, glaubte er keinen Moment.
»Jetzt laß mal dein Kräuterzeugs«, entgegnete er, »und nimm brav, was die Schwestern dir verabreichen. Aber ich bin net hergekommen, um über Medikamente mit dir zu reden, sondern über die Behandlungskosten. Dr. Winkler hat mir die Summe genannt, die dein Aufenthalt hier ungefähr kosten wird. Da ich weiß, daß du net der arme Bursche bist, als den du dich ausgibst, würd’ ich gern’ von dir erfahren, wie du dir’s mit dem Bezahlen gedacht hast.«
Alois Brandhuber sah Sebastian an, als wäre der Geistliche der Teufel persönlich.
»Ich hab’ nix«, grantelte er. »Das hab’ ich doch schon gesagt.«
»Tisch mir hier keine Lügenmärchen auf«, sagte der gute Hirte von St. Johann heftiger, als er es eigentlich wollte. »Mit deinem Kräuterkram verdienst’ net schlecht, und ausgegeben wirst’ das Geld net haben. Überhaupt kannst froh sein, daß du noch am Leben bist. Das hast dem Dr. Wiesinger und den Ärzten hier zu verdanken.«
Der Brandhuber-Loisl hatte wirklich Glück gehabt. Toni Wiesinger, der Dorfarzt von St. Johann, hatte eigentlich vorgehabt, den Alten wegen eines Mittels zur Rede zu stellen, das Loisl an Grippekranke verkauft hatte. Einer von diesen Kunden war zu Toni in die Praxis gekommen und hatte gefragt, ob der Arzt ihm nicht nachträglich ein Rezept dafür ausstellen könne. Die Medizin sei doch so teuer, und er wollte versuchen, das Geld von seiner Krankenkasse zurückzubekommen.
Empört hatte Dr. Wiesinger das Ansinnen des Mannes zurückgewiesen und die Flasche gleich behalten, um deren Inhalt untersuchen zu lassen. Die Analyse hatte gezeigt, daß es sich keineswegs um ein wirksames Grippemittel handelte, sondern um ein Gemisch aus Kräutern und Wurzeln, das mit viel Alkohol versetzt worden war und eigentlich nur dazu taugte, in den Abfluß gegossen zu werden.
Als der Arzt dann zu der Hütte kam, in der Loisl hauste, schien der Alte nicht zu Hause zu sein. Dr. Wiesinger fand indes die Hintertür unverschlossen, und als er sie öffnen wollte, lag der Wunderheiler bewußtlos dahinter.
Im Krankenhaus stellte man fest, daß es kein Schlaganfall war, wie zuerst angenommen. Loisl selber erzählte später, er sei gestürzt und habe das Bewußtsein verloren. Tatsächlich hatte er sich so schwer verletzt, daß er mindestens zwei Tage dagelegen hatte, ohne wieder zu sich zu kommen. Dr. Wiesinger rettete ihm im letzten Moment das Leben.
Sebastian Trenker sah ihn an und schüttelte den Kopf.
»Hör’ zu, Loisl«, sagte er. »Ich steh’ dem Dr. Winkler im Wort, weil ich ihm gesagt hab’, daß ich dafür grade steh’, daß du zahlst. Also bring’ mich jetzt net in eine unmögliche Situation. Ich will noch warten, bis du in der nächsten Woche entlassen wirst, aber dann müssen wir ein ernstes Wort miteinander reden.«
»Ist schon recht«, murmelte der Alte schließlich. »Ich zahl’ ja schon.«
»Na also«, nickte der Bergpfarrer zufrieden. »Dann fahr’ ich jetzt wieder. Wenn’s meine Zeit zuläßt, komm’ ich die Woche noch mal wieder vorbei. Ansonsten hol’ ich dich dann ab. Dr. Winkler hat versprochen, mich anzurufen, wenn du entlassen wirst. Dann pfüat di’, bis dahin.«
Ohne eine Antwort auf seinen Gruß abzuwarten, verließ Sebastian das Krankenzimmer und ging über den Flur der Station. Aus dem Ärztezimmer kam ihm Dr. Winkler entgegen.
»Ah, Hochwürden, ich grüße Sie«, sagte der Arzt. »Na, haben S’ mal wieder unsren Lieblingspatienten besucht?«
Sebastian schmunzelte.
»Wie führt er sich denn so?« erkundigte er sich.
Dr. Winkler machte eine vage Handbewegung.
»Na ja, wenn man davon absieht, daß er immer über das Essen schimpft und die Medikamente nicht einnehmen will, eigentlich ganz gut«, antwortete er.
»Ich hab’ übrigens das Problem mit der Bezahlung der Behandlungskosten angesprochen«, erklärte Sebastian. »Der Loisl scheint eingesehen zu haben, daß er zahlen muß. Sie brauchen sich also wegen der Rechnung keine Gedanken zu machen.«
»Das hätte ich ohnehin nicht«, lachte der Arzt. »Höchstens unser Verwaltungsdirektor. Aber der kann dann ganz schön harte Mittel ergreifen, wenn jemand zahlungsunwillig ist.«
»Gott sei Dank hat sich das ja erledigt«, sagte Sebastian und reichte dem Arzt die Hand. »Also, ich schau’ wieder rein, wenn ich Zeit hab’.«
Zufrieden fuhr er nach St. Johann zurück. Es war ein herrlicher Sommertag, und das Leben schien unbeschwert. Sebastian wünschte, daß es immer so heiter weitergehen möge. Allerdings wußte er auch, daß es immer wieder Probleme gab, bei denen seine Hilfe gebraucht wurde.
Er dachte an die beiden jungen Paare, denen er erst vor kurzem zu ihrem Glück verholfen hatte. Schon bald sollten in St. Johann die Hochzeitsglocken läuten, und vielleicht überwogen ja die freudigen Ereignisse die weniger schönen.
Als er daran dachte, ahnte er allerdings nicht, daß sich schon bald etwas über seinem geliebten Dorf zusammenbrauen würde, das ein dunkles Geheimnis an den Tag bringen sollte…
*
Je näher Andrea Hofmann dem Wachnertal kam, um so schneller klopfte ihr Herz. Sie war am frühen Morgen in Nürnberg losgefahren, und bis zu ihrem Ziel waren es nur noch ein paar Kilometer. Jetzt fuhr sie eine Bergstraße hinauf und lenkte ihren Wagen rechts in eine Parkbucht. Sie stieg aus und ging zur anderen Seite hinüber. Von dort aus hatte sie einen herrlichen Blick ins Tal hinunter und konnte St. Johann schon sehen.
Hätte ich es doch nicht tun sollen? Wird er mich überhaupt wiedersehen wollen? Was, wenn es inzwischen eine Frau Mäder auf dem Hof gibt?
Diese Fragen stellte sie sich immer wieder, aber inzwischen war es zu spät, um wieder umzukehren.
Lange Zeit stand Andrea so da und schaute ins Tal und zur anderen Seite hinüber, wo die Berge in den Himmel ragten. Immer wieder hatte sie sich in all den Jahren ihre erste Begegnung mit Georg in Erinnerung gerufen. Aus einer Laune heraus, hatte sie sich dazu entschlossen, im Wachnertal Urlaub zu machen. Früher war sie gerne mit einer Freundin an die See gefahren, oder auch ins Ausland. Rom, Madrid und Paris hatten sie gesehen. Doch dann heiratete die Freundin, und Andrea war auf sich allein gestellt, wenn es um die Urlaubsplanung ging.