Noch immer zauderte Nicolas Starkos, obwohl er entschlossen war, die Wohnung in allen Teilen zu sehen; es bedrückte ihn jedoch ein unbehagliches Gefühl über das, was in ihm vorging, als er jetzt doch etwas wie Gewissensbisse verspürte. Er fühlte sich bewegt, doch auch fast gereizt. Es erschien ihm, als ob das väterliche Dach vor ihm verschwinden könne, wie ein Protest gegen ihn, wie ein letzter Fluch, der ihn traf.
Bevor er sich in das Haus selbst begab, wollte er um dasselbe ganz herumgehen. Die Nacht war finster. Niemand sah ihn und »er sah und erkannte sich fast selbst nicht«. Bei hellem Tage hätte er sich wohl kaum hierher gewagt. In tiefer Nacht fühlte er sich mutiger, dem Ansturm seiner Erinnerungen zu trotzen.
So ging er denn schleichenden Schrittes, gleich einem Verbrecher, der sich die Örtlichkeit ansieht, an welcher er einen schwarzen Plan zur Ausführung bringen will, längs der Außenwand hin, um die Ecken, welche zum Teil durch Moose verhüllt waren, betastete mit der Hand die losen Steine, um sich zu überzeugen, ob in dieser Leiche von Haus doch vielleicht noch etwas Leben wohne, und lauschte dann, ob dessen Herz noch schlage. Auf der Rückseite sah alles noch düsterer aus. Die schrägen Strahlen des schon untergehenden Mondes konnten nicht hierher dringen.
Langsam hatte Nicolas Starkos seine Runde gemacht. Die finstere Wohnung bewahrte eine Art beunruhigendes Schweigen. Man hätte glauben können, sie läge unter dem Banne eines Zauberers. Jetzt kehrte er nach der Westseite derselben zurück und näherte sich der Tür, um diese aufzustoßen, wenn sie nur durch einen Drücker geschlossen war, oder sie mit Gewalt zu öffnen, wenn ein altes Schloss an derselben sie noch fester zuhielt.
Da drang ihm aber das Blut zu den Augen. Er sah »rot«, wie man sagt, aber feuerrot. Das Haus, welches er noch einmal besuchen wollte, wagte er jetzt nicht mehr zu betreten. Es war ihm, als müsse sein Vater oder seine Mutter mit ausgestreckten Armen auf der Schwelle erscheinen und ihm fluchen, ihm, dem verlorenen Sohn, ihm, dem schlechten Bürger, dem Verräter an seiner Familie, an seinem Vaterland.
Jetzt öffnete sich wirklich langsam die Tür. Ein Weib erschien auf der Schwelle. Sie trug maniatische Kleidung, einen baumwollenen Rock mit schmaler roter Kante, ein Leibchen von dunklerer Farbe, das um die Taille zugeschnürt war, und auf dem Kopf eine große bräunliche Haube, umwunden mit einem Seidentuch in griechischen Nationalfarben.
Diese Frau hatte ein sehr energisches Gesicht mit großen schwarzen Augen von fast wilder Lebhaftigkeit, gebräunten Teint, gleich den Fischerfrauen der Küste, dazu war sie groß von Gestalt und hielt sich, obwohl sie schon über sechzig Jahre zählte, stolz aufrecht. Andronika Starkos war es. Mutter und Sohn, welche seit so langer Zeit körperlich und geistig getrennt gelebt hatten, standen sich jetzt Auge in Auge gegenüber.
Nicolas Starkos hatte doch kaum erwartet, hier seiner Mutter zu begegnen. Die Erscheinung derselben flößte ihm einen merkwürdigen Schrecken ein.
Andronika streckte einen Arm gegen ihren Sohn aus, untersagte ihm das Betreten des Hauses und rief mit einer Stimme, welche die Worte selbst noch grausamer erscheinen ließ: »Niemals wird Nicolas Starkos wieder den Fuß in das Haus seines Vaters setzen! … Niemals!«
Erschüttert durch diese Anrede, wich der Sohn ein wenig zurück. Die, welche ihn unter dem Herzen getragen, trieb ihn jetzt von sich, wie man einen Verräter verjagt. Noch einmal wagte er einen Schritt vorwärts. Eine Handbewegung – eine Drohung und Verwünschung zugleich – hemmte seinen Fuß.
Nicolas Starkos wandte sich nach rückwärts, verließ die Umzäunung, eilte nach dem steilen Weg, der zum Strand hinabführte, und floh, was ihn die Füße tragen konnten, als ob eine unsichtbare Hand sich ihm auf die Schulter gelegt hätte, die ihn weitertrieb.
Regungslos auf der Schwelle ihres Hauses stehenbleibend, hatte Andronika ihn im Dunkel der Nacht verschwinden sehen.
Zehn Minuten später war Nicolas Starkos seiner soweit wieder Herr geworden, dass ihm niemand die vorhergegangene Erregung anmerkte; so erreichte er den Hafen, pfiff Gozzo herbei und sprang in das leichte Boot. Die von Gozzo ausgewählten Männer befanden sich schon an Bord der Sacoleve.
Ohne ein Wort zu sprechen, bestieg Nicolas Starkos das Verdeck der »Karysta« und bedeutete seinen Leuten durch ein Zeichen, augenblicklich die Anker zu lichten. Sein Befehl war schnell ausgeführt, da ja nur die zum Hissen bereitliegenden Segel aufgespannt zu werden brauchten. Der sich jetzt erhebende Landwind erleichterte die Ausfahrt aus dem Hafen.
Fünf Minuten später glitt die »Karysta« sicher und still durch die enge Wasserstraße, ohne dass von den Leuten an Bord, noch von den Bewohnern Vitylos ein Laut hörbar geworden wäre.
Die Sacoleve hatte indes noch kaum eine Meile zurückgelegt, als ein rötlicher Flammenschein den Kamm des Felsenstrandes erleuchtete.
Es war die Wohnung der Andronika Starkos, welche bis auf den Grund niederbrannte. Die Hand der Mutter hatte dieses Feuer selbst angelegt. Sie wollte nichts von der Stelle übriglassen, an der einst ihr Sohn geboren worden war.
Noch drei Meilen weit hin konnte der Kapitän die Augen nicht abwenden von dem Feuer, das auf dem Boden von Magne emporloderte, und er verfolgte es im Dunklen, bis der letzte Schein desselben erlosch.
Andronika hatte gesagt:
»Niemals wird Nicolas Starkos den Fuß wieder in das Haus seines Vaters setzen! … Niemals!«
Drittes Kapitel – Griechen gegen Türken
In vorhistorischer Zeit, als die feste Erdrinde sich nach und nach unter der Einwirkung innerer neptunischer und vulkanischer Kräfte dauernd gestaltete, verdankte Griechenland sein Entstehen einer Umwälzung, welche diesen Teil des Erdbodens über das Niveau des Meeres erhob, während diese im Archipel gleichzeitig einen Teil des früheren Festlandes verschlang, dessen oberste Spitzen jetzt nur noch in Form von Inseln emporragen. Griechenland liegt tatsächlich in der vulkanischen Linie, welche sich von Cyprien bis Toscana hinzieht.1
Es scheint, als ob die Griechen von ihrem unbeständigen Boden