Der Dreißigjährige Krieg. Peter H. Wilson. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Peter H. Wilson
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783806241372
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der gesamten Nordseeküste dominierte eine einzige Landschaftsform, herrschten ähnliche Gesellschaftsformen und politische Kulturen vor, wiewohl der östliche Teil dieser Region innerhalb der Reichsgrenzen lag, während der Rest nun zur Republik der Vereinigten Niederlande gehörte. Die Menschen beiderseits der Grenze schätzten die weitgehende Autonomie ihrer bäuerlichen Dorfgemeinschaften, die sie als „friesische Freiheit“ hochhielten. Die Friesen am östlichen Rand der Region verloren diese Freiheit, als Mitte des 16. Jahrhunderts der dänische König ihre Dörfer im heutigen Holstein seinem Reich einzuverleiben begann. Die Friesen im äußersten Westen bemühten sich, sie in einer eigenen Provinz der neuen Republik der Vereinigten Niederlande zu bewahren. Zwischen diesen beiden Rändern lag die Grafschaft Ostfriesland, die erst 1464 Teil des Heiligen Römischen Reiches geworden war und von dem aus bescheidenen Anfängen hervorgegangenen Geschlecht der Cirksena regiertwurde, das 1660 in den Reichsfürstenstand aufsteigen sollte. Wie so viele deutsche Territorien im späten 16. Jahrhundert – namentlich Jülich-Kleve, Hessen, Baden, Kurköln und Straßburg (siehe Kapitel 7) – wurde auch Ostfriesland von inneren Streitigkeiten erschüttert. Obschon keine dieser Auseinandersetzungen zu einem ausgewachsenen Krieg führte – weder in Ostfriesland noch in den anderen genannten Gebieten –, so betrafen sie doch allesamt auch Streitpunkte, die die Interessen ausländischer Mächte berührten, weshalb sich eine oder andere der beteiligten Parteien um Unterstützung an diese wandte. Die Geschichte dieser Konflikte haben vielerorts Lokalhistoriker geschrieben – oder auch solche, die das große Panorama der europäischen Beziehungen in den Blick nehmen wollten und dazu neigten, lokale Auseinandersetzungen nur als Auslöser oder Brennpunkte für Konflikte zwischen den Großmächten zu betrachten. Diese beiden Perspektiven müssen aber kombiniert werden, denn die tatsächliche Bedeutung jener Lokalkonflikte lag in ihrer Neigung, auswärtige Großmächte Schritt für Schritt immer tiefer in die inneren Angelegenheiten des Heiligen Römischen Reiches hineinzuziehen. Die Intervention von außen war stets nur als zeitlich begrenzt gedacht und sollte andere, verfeindete Parteien von einer Einmischung abhalten. Auf eine „Ausstiegsstrategie“ verschwendete man wenig Gedanken, und wenn man erst einmal in die Sache hineingeraten war, konnte man schwerlich den Rückzug antreten, ohne dass das entstehende Machtvakuum von verfeindeten Kräften aufgefüllt wurde.

      Die Entwicklungen in Ostfriesland veranschaulichen erstens diese allgemeine Problematik; zweitens bilden sie aber auch den Hintergrund für andere wichtige Geschehnisse im deutschen Nordwesten, auf die Kapitel 10 noch genauer eingehen wird. Wie viele weltliche Herrscherdynastien in Norddeutschland nahm die Familie Cirksena schon im frühen 16. Jahrhundert den lutherischen Glauben an. Dies blieb auch der Glaube des ärmsten Drittels ihrer Untertanen, die in einer kargen Moor- und Heidelandschaft unter der direkten Herrschaft des Grafen lebten. Die restlichen zwei Drittel Ostfrieslands waren wohlhabender, weil das dortige Marschland mit seinen fruchtbaren Böden einen marktorientierten Ackerbau über die reine Subsistenz hinaus erlaubte. Die Marschbauern sicherten sich schließlich Sitz und Stimme in den Landständen und zwangen den Grafen, jegliche künftige Pachtzinserhöhung zu verbieten. Zusammen mit den wenigen ansässigen Adligen konvertierten diese selbstbewussten Bauern zum Calvinismus und schlossen ein Bündnis mit den Bürgern von Emden, der einzigen größeren Stadt in ganz Ostfriesland. Strategisch günstig an der Mündung der Ems in die Nordsee gelegen, war Emden der am weitesten westlich gelegene Nordseehafen und wickelte einen großen Teil des westfälischen Außenhandels ab. Nach dem Ausbruch des Niederländischen Aufstandes erlebte die Stadt einen wahren Boom, da viele Kaufleute einen sichereren Standort für ihre Handelshäuser suchten, aber auch viele Flüchtlinge in Emden ein neues Leben beginnen wollten. Nach und nach verband sich der calvinistische Glaube immer enger mit der Opposition der Emdener Bürger und ihrer Verbündeten, der reicheren Bauern, gegen die Versuche der lutherischen Cirksena, ihrer landesherrlichen Autorität größere Geltung zu verschaffen.

      Als 1599 Enno III. Cirksena in Amt und Würden kam, begannen die Niederländer, sich Sorgen zu machen, denn der neue Graf von Ostfriesland schien fest entschlossen, seinen Willen durchzusetzen – wesentlich entschlossener, als seine Vorgänger es gewesen waren. Außerdem hatte er Verwandte in spanischen Diensten. Der gescheiterte Versuch Moritz’ von Nassau, Dünkirchen einzunehmen, beschwor das Schreckgespenst einer neuen spanischen Seekriegsstrategie herauf, die den Handel und mit ihm das Fundament der niederländisch-republikanischen Unabhängigkeit bedrohte. Schon längst waren Freibeuter von Dünkirchen aus im Ärmelkanal unterwegs und brachten immer wieder niederländische Handelsschiffe auf. Wenn sie auch noch den Hafen von Emden würden nutzen können, fürchtete man in Den Haag, dann wäre womöglich der Ostseehandel bedroht. Die Generalstaaten überredeten deshalb 1602 die Emdener Bürgerschaft, eine niederländische Garnison in ihrer Stadt zuzulassen, die später noch durch den Vorposten Leerort ergänzt wurde, eine Festung, die ein Stück weit die Ems hinauf gegenüber der Stadt Leer gelegen war, den einzigen Zugang nach Ostfriesland aus Richtung Südwesten – über Marsch und Heide – abriegelte und den Niederländern ab 1611 als Stützpunkt diente.

      Emden wurde nun zu einem Zentrum des politischen und religiösen Radikalismus und einem der wenigen Orte in Deutschland, an dem die Calvinisten jene presbyterial-synodale Kirchenverfassung mit ihren flachen Hierarchien einführten, die für ihre Glaubensbrüder im europäischen Ausland so typisch war. Die Stadt Emden stellte 1604 den Juristen Johannes Althusius als ihren Stadtsyndikus ein, wobei ausdrücklich dessen berühmt-berüchtigtes Werk Politica den Ausschlag gegeben hatte, in dem Althusius die These vertrat, Magistraten stehe gegenüber „tyrannischen“ Fürsten ein Widerstandsrecht zu – das hatte weithin für Aufsehen gesorgt.118

      Ein Zermürbungskrieg Die Spanier steckten vor Ostende in ihren Gräben fest. Der Krieg in den Niederlanden hatte sie seit 1582 jedes Jahr 1500 gefallene Soldaten gekostet, von den Verlusten unter ihren wallonischen, italienischen und deutschen Söldnern ganz zu schweigen. Bei der vierjährigen Belagerung von Ostende starben noch einmal 40 000 Mann. Erst unter dem Kommando von Ambrogio Spinola gelang es den Spaniern im September 1604, die Stadt einzunehmen. Spinolas im Vorjahr erfolgte Berufung auf diesen Posten war symptomatisch für die finanziellen und militärischen Probleme der Spanier. Er stammte aus Genua, dem Zentrum des spanischen Kredit- und Logistiknetzes. Sein jüngerer Bruder hatte beim Aufbau der spanischen Flandernflotte nach der Eroberung von Dünkirchen 1583 eine entscheidende Rolle gespielt, aber Ambrogio war in der Heimat geblieben, hatte geheiratet und das Bankhaus der Familie geführt. Wie viele Bankiers verdankte er seinen Erfolg einer Diversifizierung der Geschäftsbereiche: Einem seiner Söhne verschaffte er den Kardinalshut, indem er Truppenaushebungen finanzierte, ebenso war er aber auch stark im spanischen Mittelmeerhandel involviert.

      Das Bankhaus Spinola häufte so ein Betriebskapital von zwei Millionen Dukaten an, was es Ambrogio erlaubte, für seinen König bis 1602 13 000 Soldaten anzuwerben und auszurüsten. Seine eigenen Interessen waren mit jenen der spanischen Krone verschmolzen: Der König war angesichts der großen Kriegsanstrengungen auf Finanziers wie ihn angewiesen, während Spinola den militärischen Erfolg auch deshalb suchte, weil jede Niederlage auf dem Schlachtfeld ein Risiko für seine Bonität bedeutete. Die Eroberung Ostendes bestätigte, dass seine Ernennung zum Befehlshaber keine Fehlentscheidung gewesen war; 1605 wurde er offiziell der Nachfolger Albrechts von Habsburg als Oberkommandierender der Flandernarmee. Was im Desaster hätte enden können, wurde zu einer effizienten Partnerschaft. Beide waren vernünftige Männer, und dank seines Taktgefühls und seiner Befähigung erwarb sich Spinola bald den Respekt seiner routinierteren Untergebenen.

      Spinola kehrte zu der alten Strategie zurück, die Niederländer an ihrem östlichen Flügel zu umgehen, indem er mit 15 000 Mann in das Ijsselgebiet vorstieß, um viele der dort 1597 verlorenen Städte zurückzuerobern, darunter 1606 auch Rheinberg. Es gelang ihm allerdings nicht, den inneren Verteidigungsgürtel der Republik zu durchbrechen, während die Niederländer auf ein im November 1598 seitens der Spanier gegen sie verhängtes Handelsembargo mit der Eröffnung eines uneingeschränkten Freibeuterkrieges reagierten. Tatsächlich trifft die Wortwahl es genau, denn das niederländische Vorgehen war durchaus dem „uneingeschränkten U-Boot-Krieg“ des Deutschen Reichs im Ersten Weltkrieg vergleichbar, und wie dieser war es heftig umstritten. Kleine Schiffe wurden mit Kaperbriefen ausgestattet, was sie zum Aufbringen feindlicher