Der Dreißigjährige Krieg. Peter H. Wilson. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Peter H. Wilson
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783806241372
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gegeben war, sich voll und ganz dem Gemeinwohl zu widmen.102

      Diese Ideale fanden 1588 ihren praktischen Ausdruck in einem formellen Bündnis der abtrünnigen Provinzen, das die Autonomie einer jeden wahrte, gewisse Befugnisse aber an eine Versammlung von „Generalstaaten“ delegierte, in der jede Provinz eine Stimme haben sollte. Die Generalstaaten traten ab 1593 täglich in Den Haag zusammen, blieben jedoch ein reines Diskussionsforum, da alle wichtigen Entscheidungen von den sieben Provinzstaaten gesondert ratifiziert werden mussten. Ein Gegengewicht hierzu bildete das Amt des Statthalters Moritz von Oranien, dessen Einfluss eher auf gesellschaftlichem Prestige beruhte denn auf formaler Autorität und durch seine Verbindungen zum europäischen Hochadel und seine persönliche Hofhaltung unterstrichen wurde. Von der Finanz- und Militärverwaltung abgesehen, blieben die zentralen Institutionen der jungen Republik auf das Nötigste beschränkt; das meiste wurde dezentral, in den Provinzen und Gemeinden, entschieden. Das machte zwar jeden Entscheidungsprozess zu einer schwerfälligen Angelegenheit, funktionierte aber dennoch, weil es der Republik gelang, ihre lokalen Glieder in einen gemeinsamen Rahmen einzubinden. Nachdem sie die Einmischung Philipps II. in ihre Angelegenheiten deutlich zurückgewiesen hatten, brauchten die lokalen Oligarchen schlicht und einfach die Republik, um eine Rückkehr der Spanier an die Macht zu verhindern.

      Das phänomenale Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum Hollands war es, das den frisch geschlüpften Staat während seines langen Unabhängigkeitskampfes am Leben hielt. Die Bevölkerung der nördlichen Provinzen verdoppelte sich zwischen 1520 und 1650; schon 1600 hatte sie die Zahl von 1,5 Millionen erreicht, die zwischen 1572 und 1621 durch den Zustrom zusätzlicher 150 000 Flüchtlinge aus dem Süden weiter anschwoll.103 Holland mit seinen 760 000 Einwohnern im Jahr 1650 war die weitaus größte der Provinzen; Friesland (160 000 Einwohner) folgte mit großem Abstand. Drenthe, die kleinste, hatte nur 22 000. Holland war außerdem die am stärksten städtisch geprägte Provinz. Allein in Amsterdam lebten 175 000 Menschen; auf 22 weitere Städte verteilten sich noch einmal 365 000. Die dreifache Bündelung von Menschen, Geld und Talent befeuerte das Wirtschaftswachstum und brachte den Niederländern bis 1590 den Spitzenplatz im Welthandel ein. Diese Vorrangstellung beruhte hauptsächlich auf der Seefahrt, wobei gleichermaßen an den Schiffbau und den Warentransport aus Europa und der ganzen Welt zu denken ist. Die Zeitgenossen faszinierte ganz besonders der Handel mit den Kolonien, aber die Hauptaktivitäten der niederländischen Schifffahrt spielten sich nach wie vor in Nord- und Ostsee ab. Die Fischereiflotte der Niederländer im Jahr 1634 umfasste 2250 Boote, während zugleich weitere 1750 Schiffe im Ostsee- und Mittelmeerhandel eingesetzt waren, gegenüber gerade einmal 300 im Handelsverkehr mit den Kolonien. Die Schiffe im europäischen Handel konnten bis zu vier Fahrten im Jahr unternehmen; eine einzige Reise nach West- oder Ostindien nahm dagegen zwei Jahre in Anspruch. Ein großer Teil des Handels mit den Kolonien stand in engem Zusammenhang mit der europäischen Wirtschaft. So fuhren beispielsweise 800 Schiffe zwischen 1599 und 1605 in die Karibik, um dort Salz aus Venezuela an Bord zu nehmen, das in Europa zur Haltbarmachung von Fisch aus der Nordsee benötigt wurde. Natürlich war insbesondere der Gewürzhandel hochprofitabel: Die 2710 Tonnen Gewürze, die um die Wende zum 17. Jahrhundert in den Häfen der Niederlande jährlich gelöscht wurden, waren 137 Tonnen Silber wert, während die 125 000 Tonnen Ostseegetreide, die im selben Zeitraum pro Jahr importiert wurden, gerade einmal 88 Tonnen Silber kosteten.104

      Die Vormachtstellung der Niederländer im Seetransport ließ ihre Republik zu dem Umschlagplatz schlechthin für europäische wie Kolonialwaren werden und kurbelte die Nachfrage auch nach ihren eigenen Produkten an, darunter Stoffe, Salzfisch und andere Lebensmittelerzeugnisse. Der ständige Warenstrom, der durch ihre Häfen lief, brachte den niederländischen Kaufleuten einen Löwenanteil des europäischen Handelsvolumens ein – denn wen fragte man, wenn man ein bestimmtes Produkt bei sich zu Hause nicht bekam? Die Niederländer. Indem sie so nach allen Seiten Engpässe behoben, zogen die niederländischen Handelshäuser Investitionen und Kredite an sich, was Amsterdam die Nachfolge der traditionellen Finanzzentren Antwerpen und Genua antreten ließ. Die Amsterdamer Wechselbank, gegründet 1609, wuchs und gedieh – im Gegensatz zu vielen anderweitigen Gründungsversuchen dieser Art –, weil sie auf die beträchtlichen Ressourcen privater Investoren und umliegender Gemeinden zurückgreifen konnte. Aus ihrer günstigen Position heraus konnten die Niederländer zudem billigere und langfristige Kredite aufnehmen, was den von ihrer Regierung gezahlten Zins zwischen 1600 und 1640 von zehn Prozent auf die Hälfte drückte.105 Dadurch gewann das niederländische Finanzsystem eine Stabilität, von der seine Konkurrenten nur träumen konnten. Jedes Jahr bewilligten die Generalstaaten einen Zentralhaushalt für die nächsten zwölf Monate, dessen Volumen nach einem festen Schlüssel auf die einzelnen Provinzen umgelegt wurde. Eine zentrale Staatskasse gab es nicht; stattdessen wurden einer jeden Provinz bestimmte Ausgabenposten zugeteilt, die sie dann aus ihren eigenen Steuereinnahmen begleichen musste. An diesem Punkt machte sich der große Einfluss Hollands bemerkbar, denn es trug allein 60 Prozent der Staatsausgaben, während die verbliebenen Provinzen den Rest unter sich aufteilten – Overijssel beispielsweise zahlte für gerade einmal vier Prozent des Gesamthaushalts. Trotz des wirtschaftlichen Wachstums und der damit verbundenen Einnahmesteigerungen blieb die Finanzlast jedoch sehr hoch, und die Niederländer zahlten im Kampf um ihre politische Freiheit zweifellos sehr viel höhere Steuern, als sie dies unter der Knute ihrer früheren spanischen Herren getan hatten.

      Die Händler des Todes Zum Kapital kamen Kanonen, denn die niederländische Wirtschaft stellte neben Finanzdienstleistungen auch wertvolle Rüstungsgüter zur Verfügung: Die Niederlande waren das Zentrum der europäischen Waffenproduktion. Weil sie auch weiterhin über die südlichen Provinzen herrschten, stand den Spaniern die Geschützgießerei von Mecheln zur Verfügung, dazu die Herstellungsstätten für Handfeuerwaffen in Maastricht sowie die Harnisch- und Büchsenmacherwerkstätten von Namur. Bedeutendstes Zentrum der Waffenproduktion im Süden war jedoch das Fürstbistum Lüttich; hier wurde die ganze Palette an Kriegsausstattung hergestellt, vor allem Schusswaffen, Rüstungen und Blankwaffen. All diese Erzeugnisse verkauften die Lütticher an beide Konfliktparteien – zur Wahrung ihrer Neutralität, versteht sich. Auch die nächstgelegenen Reichsstädte, Aachen und Essen, produzierten Schusswaffen, und überhaupt war die ganze Region eine Hauptquelle von Rüstungsgütern für das restliche Europa, wo der Ausstoß an Waffen begrenzt war. Die später berühmte Waffenmanufaktur von Steyr in Oberösterreich wurde erst 1639 gegründet und hatte dann eine Kapazität von nur rund 3000 Musketen im Jahr. Das Zentrum der Schusswaffenproduktion in Deutschland war das thüringische Suhl, dessen 4000 Einwohner zwischen 1620 und 1655 mindestens 70 000 Musketen und 13 000 Pistolen produzierten, zumeist für die kaiserlichen Truppen. Die traditionelle Metallverarbeitung in Solingen und Nürnberg blieb zwar eine Größe in der Blankwaffenherstellung, aber alles in allem lief die Produktion in den nördlichen Niederlanden ihrer mitteleuropäischen Konkurrenz den Rang ab. Amsterdam stellte leichte Waffen, Kanonen, Schießpulver und Rüstungen her, während andere Produktionsorte sich stärker spezialisiert hatten: Aus Delft und Dordrecht kamen leichte Waffen, Gouda lieferte Lunten, Utrecht Harnische und Granaten, während in Den Haag Geschütze gegossen wurden. Allerdings waren es erst ihre weit gespannten Handelsnetzwerke, die den niederländischen Waffenhändlern eine überragende Stellung verschafften. Sie bezogen Salpeter aus Asien und dem Ostseeraum, Schwefel aus Sizilien und von der Insel Elba sowie Roh- und Einzelteile, die dann in der Republik zu fertigen Waffen zusammengebaut wurden.

      Die Kombination von hoher Bevölkerungsdichte, Waffenproduktion und kurzen Kommunikationswegen machten die südlichen wie die nördlichen Niederlande für all diejenigen so attraktiv, die sich für den Kriegsfall wappnen wollten. Sowohl die spanische Obrigkeit in Brüssel als auch die niederländische in Den Haag stellten zuweilen überzählige Waffen aus ihren Magazinen zur Verfügung, damit die einheimischen Waffenhändler auch bei Engpässen ihre Lieferzusagen an befreundete Mächte einhalten konnten. Die niederländischen Rüstungserzeugnisse waren derart gefragt, dass die Händler niemals Rabatte gaben; aber die niederländische Regierung veräußerte manchmal zu günstigen Preisen Teilbestände aus ihren Arsenalen an Verbündete. Der Zugang der Niederländer zu Krediten und allerlei Warenlagern erlaubte es ihnen, für die Interessenten regelrechte Angebotspakete zu schnüren. So lieferten sie 1622 der Armee des Herzogs Christian von Braunschweig-Wolfenbüttel vollständige Sätze aus Waffen, Harnischen, Gürteln, Pulver, Lunten, Kugeln, Spitzhacken