Die meisten Lutheraner distanzierten sich nach den Erlebnissen der Jahre 1546–52 rasch von derartigen Ansichten. Außerdem ließ die offizielle Anerkennung ihrer Religion im Augsburger Frieden von 1555 ein allgemeines Widerstandsrecht weniger notwendig erscheinen als zuvor. Auch die Ausbreitung des Calvinismus schwächte die lutherische Opposition gegen den Kaiser ab, denn der neue Glauben gewann seine Konvertiten fast ausschließlich auf Kosten der Lutheraner. Deren Loyalität zum Reich wurde zudem durch die Weigerung des Kaisers gestärkt, an der Seite Spaniens und der anderen katholischen Konfliktparteien in die Bürgerkriege Frankreichs und der Niederlande einzugreifen. Die Lutheraner lehnten die calvinistische Auffassung ab, die Massaker der Bartholomäusnacht hätten einen Angriff auf alle Protestanten bedeutet. Die französischen Hugenotten, so das Gegenargument, müssten sich ihr Unglück selbst zuschreiben – immerhin seien sie es gewesen, die gegen ihren König zu den Waffen gegriffen hätten. Als religiöse Minderheit in der Minderheit tendierten die Calvinisten schon eher dazu, zur Verteidigung ihrer Interessen auch Mittel in Erwägung zu ziehen, die der Reichsverfassung zuwiderliefen. Die wachsende Militanz im katholischen Lager sowie Zweifel an den Führungsqualitäten Rudolfs II. brachten manche Lutheraner dazu, sich ihnen anzuschließen. Eine wirkliche Radikalisierung erfolgte dann aber nur, weil die Habsburger ihre protestantischen Untertanen derart bedrängten, dass einige von ihnen zu der Ansicht gelangten, das Widerstandsrecht gelte auch für den Adel und sogar die Bürger, sofern diese unter Verfolgung litten.
3. Die Casa de Austria
Besitz und Dynastie
Dem Haus Österreich hat man in der Geschichte, die wir erzählen wollen, für gewöhnlich die Rolle des Schurken zugewiesen. Die zu ihrer Zeit viel gelesene Darstellung des Dreißigjährigen Krieges von C. V. Wedgwood erschien 1938, im Jahr des Münchner Abkommens, und zeichnete den englisch-schottischen König Jakob I. als einen schwachen Herrscher, der angesichts einer drohenden Diktatur der Habsburger diese zu beschwichtigen suchte. Der tschechische Historiker Josef Polišenský erlebte die Besetzung Prags durch die Truppen des nationalsozialistischen Deutschland aus nächster Nähe. Später sollte er das Versagen der westeuropäischen Mächte, den böhmischen Aufständischen 1618 beizustehen, explizit mit der Münchner Krise vergleichen, die sich genau 320 Jahre danach ereignet hatte. Die populären Bücher von Günter Barudio zum Thema, Der teutsche Krieg 1618–1648 sowie eine „politische Biografie“ Gustav Adolfs, stellen den Schwedenkönig als einen Vorkämpfer für Frieden und Gerechtigkeit dar, der die „teutsche Freiheit“ gegen die Übermacht der Habsburger verteidigt habe. Die ältere deutsche Forschung gab sich sogar noch parteiischer und zögerte nicht, den Kaiser mit einer „katholischen Tyrannenherrschaft“ in Verbindung zu bringen, mit der er die Kräfte des Lichts und des Fortschritts in der Geschichte habe auslöschen wollen. Es ist zudem eher von Nachteil gewesen, dass die besten englischsprachigen Studien über diese Zeit sich hauptsächlich mit den spanischen Habsburgern beschäftigen, den österreichischen Zweig der Familie aber vernachlässigen – obwohl gerade dessen Probleme zentral waren, was die Gründe, den Verlauf und den Ausgang des Dreißigjährigen Krieges anbetrifft.
Der beispiellose Erfolg der Habsburger war das Ergebnis einer langen Vorgeschichte. Den größten Teil des Spätmittelalters hindurch hatte die Dynastie gegenüber stärkeren Wettbewerbern um Macht und Einfluss im Reich das Nachsehen gehabt. Der Erwerb der Kaiserkrone 1438 hatte das Haus Habsburg dann mit einem Mal in den Mittelpunkt des Geschehens katapultiert; seine wirkliche Macht bezog es jedoch aus der Anhäufung immer weiterer Territorien und Königreiche zwischen 1477 und 1526. Die wichtigste unter diesen Erwerbungen war Spanien, das 1516 durch Erbschaft an die Habsburger fiel – just in jenem weltgeschichtlichen Moment, in dem die Spanier begonnen hatten, ein ganzes Weltreich zu erobern. Die Regierung dieses riesigen Reiches blieb dennoch ein regelrechter Familienbetrieb mit zahlreichen Akteuren. Nicht nur mangelte es den Habsburgern an der nötigen Expertise und den Ressourcen, um in ihrem Imperium ein einheitliches, zentralisiertes Herrschaftssystem zu errichten: Sie strebten eine solche Zentralisierung noch nicht einmal an. Schließlich kam mit jeder Eroberung, jedem neu erworbenen Territorium auch ein neuer Herrschaftstitel in den Besitz der Familie. Und das mehrte wieder ihre Macht und ihr Prestige unter den gekrönten Häuptern Europas. Der wichtigste habsburgische Titel auf einer langen Liste war zweifellos die Kaiserwürde, die jedoch nur zwischen 1519 und 1558 – in der Person Karls V. – mit der spanischen Krone verbunden war. Karl gebot über ein Reich, in dem, wie es so schön heißt, die Sonne niemals unterging – in dem aber auch kein Problem fehlte, mit dem sich die Welt der Frühen Neuzeit konfrontiert sah: Glaubensspaltung, rapider demografischer und wirtschaftlicher Wandel, Begegnungen mit unbekannten Ländern und Menschen, internationale Konflikte. Diesen und anderen Herausforderungen begegneten die Habsburger, indem sie neue Zweige ihres „Familienunternehmens“ eröffneten – ein Prozess, der, wie in Kapitel 2 bereits deutlich wurde, in den 1540er-Jahren schon in vollem Gange war und beim Tod Karls V. zur offiziellen Teilung des Hauses Habsburg führte.
Karls Bruder und Nachfolger, Kaiser Ferdinand I., führte die Geschicke des österreichischen Familienzweiges fort, der zumindest offiziell als die ranghöhere der beiden Linien galt – immerhin waren dort neben der Kaiserkrone auch noch die beiden Königskronen Böhmens und Ungarns verblieben. Karls Sohn, Philipp II., erhielt Spanien und das spanische Kolonialreich, dazu die Niederlande, die – als Burgundischer Reichskreis – nominell noch immer Teil des Heiligen Römischen Reichs waren, sowie die habsburgischen Besitzungen in Italien, die in vielen Fällen ebenfalls unter der Jurisdiktion des Reiches standen. Der niedrigere Status der spanischen Habsburger wurde durch ihren Ressourcenreichtum mehr als wettgemacht: Die Niederlande waren eine wahre Wirtschaftsmacht, und aus Südamerika hatte das Silber nach Europa zu strömen begonnen (siehe Kapitel 5). Im Gegensatz dazu musste Ferdinand sich mit den komplexen Problemen des Heiligen Römischen Reiches herumschlagen – eines Reiches, über das er weithin nur indirekt herrschte und das nur vergleichsweise wenig zum Kampf gegen die Türken beitrug, die bereits weite Teile Ungarns überrannt hatten. Im Verlauf von Ferdinands Regierungszeit verfünffachte sich die österreichische Staatsschuld; bei seinem Tod 1564 hatte sie zehn Millionen Gulden erreicht, was den Einnahmen aus fünf Jahren entsprach. Zur Bedienung dieser Schuld mussten 1,5 Millionen Gulden im Jahr aufgewandt werden, während die Verteidigung der östlichen Grenzen eine weitere Million Gulden kostete. Der Kaiser hinterließ persönliche Schulden in Höhe von 1,5 Millionen Gulden und war bei seinem Tod zudem mit den Soldzahlungen an seine Soldaten um eine weitere Million Gulden im Rückstand.35 Ferdinands posthume Lösung dieses Problemkomplexes bestand in der weiteren Aufspaltung des Herrscherhauses. In seinem Testament vermachte er die Kaiserwürde der Linie seines ältesten Sohnes und schuf zwei nachrangige Linien für dessen jüngere Brüder. Kurzfristig brachte diese Regelung den Habsburgern eine Festigung ihrer Herrschaft ein, erlaubte sie es doch, die Regierungslast auf den Schultern dreier Erzherzöge zu verteilen. Die Größenvorteile des ungeteilten Territoriums gingen jedoch verloren, als Ferdinands Schulden unter den drei neuen Herrschern aufgeteilt wurden – nun mussten sie alle drei in ihren Territorien die Steuern erhöhen, um ihren Anteil daran begleichen zu können. Die Zentrifugalkräfte, die schon jetzt in der weitgehenden Autonomie der einzelnen Länder steckten, nahmen in dem