Der Dreißigjährige Krieg. Peter H. Wilson. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Peter H. Wilson
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783806241372
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der jeweils anderen Seite Bericht zu erstatten. Dieses sozialdisziplinierende Element des Calvinismus gefiel den Fürsten und Stadtoberen des späten 16. Jahrhunderts, die es mit einem kaum lösbar erscheinenden Problemkomplex von Inflation, Übervölkerung, Unterbeschäftigung und Armut zu tun hatten. Sicher: Lutheraner und Katholiken strebten ebenfalls Konformität und moralische Erneuerung an; aber die einmalige Kombination des Disziplinierungsdrangs mit anderen Bestandteilen der calvinistischen Theologie sorgte dafür, dass deren Anhänger sich als die einzig wahren Erben der frühen Christen fühlten.

      Dass der Calvinismus international agierte, seine Anhänger über ganz Europa verstreut waren und sich nirgendwo in der Mehrheit befanden, leistete deren Fundamentalismus weiteren Vorschub. Die deutschen Lutheraner hatten sich auf eine national-humanistische Tradition berufen können, der zufolge Wahrheitsliebe und Aufrichtigkeit echte „teutsche“ Tugenden darstellten, während die Menschen im Ausland (vor allem südlich der Alpenlinie) durch ihre „welsche“ Verschlagenheit gekennzeichnet seien. Dänen und Schweden teilten diese traditionelle Ansicht weitgehend und konnten so, ganz wie ihre deutschen Glaubensbrüder, ihre neuen lutherischen Kirchen mit einer „nationalen Auflehnung“ gegen Rom in Verbindung bringen. Im Gegensatz dazu breitete sich der Calvinismus in einzelnen Städten und Adelshäusern aus, wodurch ihm die Ausbildung eines definitiven Zentrums versagt blieb. Jede neue Calvinistengemeinde verließ sich, was Rat und Hilfe betraf, auf andere, bereits etablierte. Als naheliegende Identifikationsfigur für die Calvinisten des deutschen Raums bot sich der pfälzische Kurfürst an – immerhin einer der einflussreichsten Fürsten des Reiches –, der den Einfluss Genfs ab den 1580er-Jahren merklich zurückdrängte. Zwischen 1560 und 1610 studierten mehr als 200 ungarische und 500 französische Studenten an der Heidelberger Universität, was das Ansehen der Kurpfalz bei den Calvinisten im Ausland noch erhöhte. Zur Ansiedlung von hugenottischen und anderen calvinistischen Glaubensflüchtlingen aus Frankreich und den Niederlanden gründete der Kurfürst zudem die Stadt Frankenthal, nachdem in den Heimatländern der Geflohenen 1562 beziehungsweise 1566 Religionskriege ausgebrochen waren. Da die Calvinisten dazu neigten, die Geschehnisse ihrer Gegenwart anhand biblischer Vorbilder zu deuten, identifizierten sie sich selbst mit dem Volk Israel. Glaubensflüchtlinge und Studenten verband die Erfahrung eines harten, unsteten Lebens auf den Landstraßen Europas sowie schließlich der Ankunft in einer neuen Gemeinschaft und Heimat. Die auf solcher Grundlage geknüpften Beziehungen überdauerten, auch wenn einzelne Personen nach Hause zurückkehrten oder weiterzogen. Die calvinistischen Gläubigen betrachteten ihre je eigenen, lokalen Beschwernisse als Teil eines allgemeinen Kampfs zwischen Gut und Böse. Das galt besonders, nachdem eine spanische Einmischung in die Bürgerkriege Frankreichs und der Niederlande den Eindruck verstärkt hatte, den international verstreuten „Erwählten“ stehe eine ebenso internationale katholische Verschwörung gegenüber, die jene auf Schritt und Tritt zu vernichten suche.

      Die Grenzen der Konfessionalisierung Die Herausbildung rivalisierender Konfessionen im westlichen Christentum des 16. Jahrhunderts lässt vermuten, dass die europäische Gesellschaft jener Zeit in religiösen Fragen immer tiefer gespalten war. Zahlreiche Facetten des täglichen Lebens wurden nun konfessionalisiert, was unsichtbare Mauern zwischen oder sogar innerhalb von Gemeinschaften errichtete. Bald konnte man die Konfession eines Menschen fast schon an seinem Namen ablesen: „Maria“ und „Josef“ wurden unter Katholiken immer beliebter, während die Calvinisten diese und andere Namen als Ausdruck von Heiligenverehrung ablehnten. Sie bevorzugten Namen aus dem Alten Testament: „Abraham“, „Daniel“, „Zacharias“, „Rachel“, „Sarah“ und andere. Martin Luthers Bibelübersetzung trug zur Verbreitung einer auf dem sächsisch-meißnischen Kanzleideutsch basierenden Schriftsprache in ganz Mittel- und Norddeutschland bei. Im oberdeutschen Raum bewirkten die Bemühungen der Jesuiten um eine standardisierte hochdeutsche Schriftsprache Vergleichbares, nur eben auf katholischer Seite. Wenn nun ein Landesherr – und damit sein ganzes Territorium – die Konfession wechselte, dann wechselte auch die Schriftsprache. Man hat Entsprechendes sogar bei einzelnen Konvertiten nachgewiesen, etwa bei dem bereits erwähnten Schriftsteller Grimmelshausen, der, lutherisch erzogen, während des Dreißigjährigen Krieges zum katholischen Glauben übertrat. Andere Kunstformen waren zumindest teilweise ebenfalls konfessionalisiert. Das Theater zum Beispiel lehnten die Calvinisten strikt ab, während die Lutheraner es in ihren Schulen und die Jesuiten auf ihren Kollegien einsetzten. Katholische Predigten kreisten um die Muttergottes und die Heiligen, während Lutheraner und Calvinisten vorzugsweise moraltheologische Fragen erörterten.27

      Nirgends waren die Unterschiede zwischen den Konfessionen jedoch augenfälliger als auf dem Gebiet von Zeitmessung und Kalenderrechnung. Papst Gregor XIII. ordnete 1582 gleich mehrere Kalenderreformen an. So folgte auf den 4. Oktober dieses Jahres kurzerhand der 15. Oktober – ganze zehn Tage „fielen aus“, um aufgelaufene Unregelmäßigkeiten des traditionellen julianischen Kalenders zu beheben. Außerdem sollte, um den Kalender zu vereinheitlichen, der 1. Januar Neujahrstag werden; zuvor hatte es lokal unterschiedliche Regelungen für den Jahresanfang gegeben, der teils auf Weihnachten oder Ostern gefallen war, teils aber auch auf den 25. März (Mariä Verkündigung) oder andere Termine. Bis 1584 übernahmen die Katholiken in den deutschen und allen habsburgischen Territorien des Reiches den neuen, „gregorianischen“ Kalender. Im protestantischen Europa sprachen sich zwar Gelehrte wie der Mathematiker und Astronom Johannes Kepler für die Reform aus; doch die lutherische und reformierte Geistlichkeit lehnte alles, was aus Rom kam, ab – mancher einfältigere Protestant glaubte gar, die „Papisten“ wollten ihm zehn Tage seines Lebens stehlen. Die Diskrepanz zwischen den beiden Kalendern wurde vor allem im Heiligen Römischen Reich deutlich, wo Lutheraner und Katholiken seit dem Augsburger Religionsfrieden auch offiziell zusammenlebten. Neun Zehntel der Einwohner Augsburgs waren Lutheraner, aber der Religionsfrieden hatte die Stadt – zumindest der Form nach – zu einer konfessionell paritätischen gemacht: Katholiken und Protestanten teilten sich Posten und Ämter. Nach schwierigen Verhandlungen führte der Augsburger Magistrat schließlich 1586 den gregorianischen Kalender ein, aber die Protestanten der Stadt hielten weiterhin „ihren“ Sonntag und besuchten Gottesdienste in Kirchen jenseits der Stadtgrenze.

      Vieles deutet jedoch darauf hin, dass der Konfessionalisierungsprozess der Gesellschaft damals noch nicht so weit fortgeschritten war, wie es etwa im frühen 18. Jahrhundert der Fall war. In Augsburg beispielsweise waren gemischtkonfessionelle Ehen und soziale Kontakte zwischen Katholiken und Protestanten nichts Ungewöhnliches – zumindest vor der schwedischen Besatzungszeit in den 1630er-Jahren. Protestanten und Katholiken zechten in denselben Wirtshäusern, ohne dass deshalb gleich interkonfessionelle Massenschlägereien aktenkundig geworden wären. In den Gesellenherbergen des Handwerks erfolgte die Trennung der Konfessionen erst nach dem Westfälischen Frieden, als die Stadtoberen das paritätische Prinzip juristisch auf die Spitze trieben. Belege von anderen Orten legen nahe, dass die pragmatische Haltung der Augsburger Bürger keine Ausnahme war.28 Manche Menschen bekannten nach außen hin die eine Konfession, während sie hinter verschlossenen Türen eine andere praktizierten. Wieder andere suchten sich aus unterschiedlichen Quellen die Glaubenssätze und -praktiken zusammen, die ihnen am sinnvollsten und für ihren Alltag tauglichsten erschienen – ganz egal, ob die entstehende Mischung sich mit irgendeiner Orthodoxie deckte. Wer Handel trieb, stellte nicht selten den Profit über die Religion: Wenn ein Andersgläubiger etwas kaufen wollte, sollte man ihn wegschicken? Und obwohl es beinahe unmöglich war, der allgegenwärtigen Zensur zu entgehen, bot der politische Flickenteppich des Alten Reiches doch ausreichende Schlupflöcher, um alle Arten von Meinungen unters Volk zu bringen beziehungsweise kennenzulernen.

      Vielleicht am wichtigsten war jedoch der Umstand, dass diese Gesellschaft, deren Denken und Handeln unzählige Fundamentalisten der unterschiedlichsten Bekenntnisse ihren Stempel aufdrücken wollten, nicht erst mit der Reformation ins Dasein getreten war, sondern über ein reiches vorreformatorisches Erbe verfügte. Das humanistische Bildungsideal, das sich im 15. Jahrhundert in ganz Europa verbreitet hatte, prägte noch immer Schulen und Universitäten, gelehrte und literarische Gesellschaften, ganz unabhängig von der Konfession. Die Unterrichtsinhalte mögen sich unterschieden haben, aber die allseits vergleichbare Form des Unterrichts sorgte doch für eine gewisse gemeinsame Basis. Die Reichen und Mächtigen jedenfalls hielten weiterhin an der Tradition fest, im Zuge ihrer Ausbildung verschiedene Bildungsinstitutionen zu besuchen; auch hier spielte die Konfession oft keine Rolle.