Mehr als 200 Jahre nach Lavoisier stellte sich heraus, dass der Kohlenstoff mit noch weiteren Überraschungen aufwarten kann. Kohlenstoff existiert nämlich nicht nur in den reinen Formen Diamant und Graphit. 1985 wurde eine völlig andere Form einer C-Verbindung entdeckt: Das Fulleren. Der merkwürdige Name leitet sich von dem noch seltsameren ursprünglichen Namen Buckminsterfulleren ab, benannt nach dem Architekten Richard Buckminster Fuller22, der fantastische Kuppeln entwarf, die aus Fünf-und Sechsecken zusammengesetzt waren.
Die Entdeckung des ersten Fullerens basierte auf einem Zufall. Es war das unerwartete Nebenprodukt eines komplizierten Versuches. Um langkettigen Kohlenwasserstoffen auf die Spur zu kommen, wie sie im Inneren von Sternen entstehen, wurden die Prozesse im Inneren eines Gasplaneten simuliert. Bei der Auswertung des Experiments entdeckte man Moleküle aus exakt 60 Page 46Kohlenstoffatomen. Ein chemisches Retortenbaby, das sich in allem von der bis dato bekannten Kohlenstoffchemie unterschied. Kohlenstoff kann sehr vielfältige Strukturen mit einer extrem unterschiedlichen Anzahl von Kohlenstoffatomen annehmen. Die Tatsache, dass all diese Moleküle exakt 60 Atome enthielten, deutete darauf hin, dass es sich um eine spezielle Struktur, eine Art geschlossene Einheit, handelte. (Leider ist das nichts, was man so einfach unter dem Mikroskop untersuchen kann.)
Die Versuche wurden in mehreren Varianten wiederholt, und die geheimnisvollen 60-C-Moleküle tauchten dabei immer wieder auf. Die einzig logische Erklärung für 60 reine C-Atome war ein fußballähnliches Molekül, bestehend aus 12 Fünfecken und 20 Sechsecken. Harold Kroto und seine Mitarbeiter an der Rice University in Texas beschrieben die Struktur als »… ein Polygon mit 60 Ecken und 32 Oberflächen … dieses Objekt wird für gewöhnlich wie ein Fußball … beschrieben.« Dieser »Fußball«, abgebildet »on Texas grass«, wurde unter Chemikern zu einer Ikone. Auch der Titel des Artikels blieb unvergesslich: 60-C: Buckminsterfulleren.23 Die Zeitschrift Nature stellte im November 1985 ihre Titelseite für eine Abbildung des ikonischen Kohlenstofffußballs zur Verfügung.
Wie durch einen Zufall entstand zur gleichen Zeit in der Wüste von Arizona die ultimative, von Menschenhand geschaffene Fulleren-Kuppel. Die Zeichnung und die Pläne für Biosphäre 2 waren allerdings bereits gemacht, als das Fulleren das Cover des Wissenschaftsmagazins schmückte. Das Gebäude selbst entstand jedoch erst 1987. Biosphäre 224 war der Versuch, ein sich selbst erhaltendes, Page 47intaktes Ökosystem in einer Glaskuppel zu schaffen. Das aufsehenerregende Gebäude beinhaltete 1900 m2 Regenwald, 850 m2 Meer mit einem Korallenriff, 1300 m2 Savanne, 1400 m2 Wüste und 2500 m2 Ackerland. Integriert war ein fortschrittliches Zirkulationssystem für Luft und Wasser. Die Energie wurde durch die Sonneneinstrahlung durch das Glas gewonnen. Am 26. September 1991 schlossen sich die Türen hinter den vier Männern und vier Frauen, die zwei Jahre in dieser Blase verbringen sollten. Streng genommen war Biosphäre 2 damit auch ein soziales Experiment, bei dem vieles überraschend gut funktionierte und das sowohl in biologischer als auch in sozialer Hinsicht. Die acht Menschen kamen gut mit dem zurecht, was sie selbst im Glashaus anbauten und ernteten, und auch das Zusammenleben bot keine größeren Probleme. Der Kohlenstoffkreislauf hingegen war deutlich schwerer zu handhaben.
Während in der Biosphäre 1, also auf der Erde, die Konzentration an CO2 und O2 seit vielen Tausend Jahren auffallend konstant ist, gab es bei den Gaskonzentrationen in dem geschlossenen Ökosystem ein stetes Auf und Ab. Die Tagesschwingungen der CO2-Konzentration konnten 600 ppm übersteigen, mit niedrigen Werten am Tag (wenn die Pflanzen CO2 aufnahmen) und hohen Werten in der Nacht. Noch drastischer wurde es im Winter während der geringsten pflanzlichen Aktivität. Die CO2-Konzentration erreichte in dieser Zeit mit 4.500 ppm einen Wert, der dem Zwölffachen des Niveaus auf der Außenseite entsprach. Da man sich im Inneren eines Treibhauses mit einem Lüftungssystem befand, trug das CO2 nicht zur Erwärmung bei, und als Gas ist CO2 nicht giftig.
Negativ war allerdings die zunehmende Müdigkeit bei den acht Bewohnern der Kuppel, die allerdings nicht auf Page 48die hohe CO2-Konzentration, sondern auf den geringen Sauerstoffgehalt zurückzuführen war, der von 21 Prozent auf 4,5 Prozent gesunken war. Dieser Wert entspricht einem Aufenthalt in 4000 Metern Höhe, wo Gedanken und Bewegungen wie durch Sirup gebremst werden. Ein Erklärungsansatz war, dass der kohlenstoffhaltige Boden CO2 abgab und gleichzeitig wegen des bakteriellen Abbaus organischer Materialien O2 verbrauchte. Das Fundament bestand überdies aus kalkhaltigem Beton; dieser fixierte CO2 infolge einer Reaktion frei, der wir noch mehrfach begegnen werden: Ca(OH)2+CO2→CaCO3+H2O.
Diese Reaktion wirkte sich nicht sonderlich auf den extrem hohen CO2-Gehalt der Kuppelatmosphäre aus. Sie fungierte aber über den im CO2 gebundenen Sauerstoff als zusätzlicher O2-Fänger. Zusätzlich stieg auch die Konzentration des dritten großen Treibhausgases an, nämlich des Lachgases (N2O). Die Konzentration erreichte mit der Zeit lebensbedrohliche Werte, wodurch sich der interne Stickstoff-Kreislauf veränderte. Schließlich musste man regelrecht mogeln und Frischluft in die Kuppel blasen, um weitermachen zu können. Es ist nicht einfach, die Natur zu kopieren, aber trotz aller Fehler und Einschränkungen war Biosphäre 2 ein beeindruckender Versuch.
Einige Jahre nach meinen eigenen, bescheidenen Studien des Kohlenstoffzyklus am See in den Norwegischen Wäldern, besuchte ich selbst Biosphäre 2. Die Wüste Arizonas ist ein krasser Gegensatz zu dem feuchten, kohlenstoffreichen System in den nordischen Wäldern, da allein der kohlenstoffreiche Waldboden und die meterdicken Moorschichten bei kaltem und feuchtem Klima große Kohlenstoffspeicher darstellen. Die trockene, heiße Wüste Arizonas ist hingegen, wie alle Wüsten, extrem kohlenstoffarm. Im Sand ist nicht viel Kohlenstoff, und das wenige, was in den genügsamen Kakteen und Kreosotbüschen gebunden ist, wird beinahe vollständig an die Atmosphäre abgegeben, wenn die Pflanzen in dem heißen Page 49Klima absterben. Deshalb war der Kontrast zwischen der sonnenverbrannten Landschaft auf der Außenseite und der feuchten Fruchtbarkeit im Inneren von Biospäre 2 ein wirklich beeindruckendes Erlebnis. Die Kuppel mit ihren kleinen Ökosystemen ist noch heute intakt und einen Besuch wert. Sollte die Glaskuppel eines Tages verschwinden, wird es nur wenige Jahre dauern, bis all der lebenspendende Kohlenstoff, der unter der Kuppel so lange geschützt war, in der Sonne oxidiert wird und gemeinsam mit dem Wasser in der Atmosphäre verschwindet. So gesehen kann diese als düstere Metapher für ein Worst-Case-Szenario für »Biosphäre 1« (die Erde) angesehen werden, auch wenn dort der Treibhauseffekt eine der größten Bedrohungen darstellt. Zugegeben, ich bin, ausgehend vom Fulleren, etwas abgeschweift, aber Biosphäre 2 ruft uns in Erinnerung, wie sehr wir einen ausbalancierten Kohlenstoffkreislauf mit den richtigen Konzentrationen von Sauerstoff, Methan und Lachgas zu schätzen wissen sollten – und dass wir das alles auch in der »Biosphäre 1« keineswegs als selbstverständlich ansehen sollten.
Wir können den Extrempunkten Diamant und Graphit als Hauptformen des reinen Kohlenstoffs in der Natur nun also das Fulleren als dritte – äußerst seltene – Form hinzufügen. Diesen drei Reinformen steht eine schier unüberschaubare Menge von Kohlenstoffverbindungen, Kombinationen und Kunststoffen gegenüber. Der Kohlenstoff ist nicht nur das essenzielle Molekül des Lebens, sondern auch der Rohstoff für unzählige neue Hightech-Produkte. Was reine C-Produkte angeht, kann man heutzutage auch Fullerene mit 70 C-Atomen herstellen, und mit den Kohlenstoffnanoröhren und dem einschichtigen Graphen ist ein Füllhorn neuer Anwendungsmöglichkeiten entstanden.25 Einige der neuen wissenschaftlichen Page 50Entdeckungen sind die Früchte langwieriger zielgerichteter Arbeit, während andere reine Zufallsprodukte sind.
Der Traum von einem Kohlenstoffblatt mit der Dicke eines einzigen Atoms war nicht neu, aber als er realisiert wurde, geschah das mehr oder weniger zufällig. Es war im Jahre 2004, als Andre Geim und Konstantin Novoselov, etwas vereinfacht formuliert, eine einzelne Schicht Kohlenstoff mithilfe eines Klebebandes von einem Stück Kohle ablösten.