Sam nickte bejahend.
Mr. Wardle öffnete die Tür, und alle drei traten in demselben Augenblick ins Zimmer, als Mr. Jingle, der inzwischen zurückgekehrt war, eben der alten Jungfer die Lizenz zeigte.
Miß Rachel stieß einen lauten Schrei aus, warf sich in einen Sessel und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Mr. Jingle knüllte die Lizenz zusammen und steckte sie in seine Rocktasche. Die unwillkommenen Gäste traten in die Mitte des Zimmers.
"Sie sind ein – ein netter Schurke!" rief Mr. Wardle, atemlos vor Zorn.
"Mein werter Herr – mein werter Herr!" ermahnte der kleine Mann und legte seinen Hut auf den Tisch. "Bitte, bedenken Sie doch, Ehrenkränkung, Entschädigungsklage. Beruhigen Sie sich, mein werter Herr, pardon ..."
"Wie konnten Sie sich unterstehen, meine Schwester aus meinem Hause zu entführen?" rief Mr. Wardle.
"Ja – ja – sehr gut", sagte der kleine Mann. "Das können Sie fragen. Wie konnten Sie sich unterstehen, Sir? Nun, Sir?"
"Wer, zum Teufel, sind denn Sie?" fragte Mr. Jingle mit einer Heftigkeit, daß der kleine Herr unwillkürlich einige Schritte zurückwich.
"Wer er ist, Sie Halunke?" schrie Mr. Wardle dazwischen. "Mein Rechtsbeistand ist er, Mr. Perker von Grays Inn. Perker, ich will, daß man diesen Kerl gerichtlich verfolgt – er muß zur Rechenschaft gezogen werden – ich will – ich will – Gott verdamm mich – ich will ihn zugrunde richten, den Schuft. Und du", fuhr Mr. Wardle, sich plötzlich an seine Schwester wendend,_ fort, "du, Rachel, was soll das heißen, daß du in einem Alter, wo du doch schon endlich klug sein könntest, mit einem Landstreicher davonläufst, Schande über deine Familie bringst und dich selber unglücklich machst? Setz deinen Hut auf und komm nach Hause! Schaffen Sie geschwind eine Mietkutsche her und bringen Sie die Rechnung dieser Dame, hören Sie? Sie!"
"Sogleich, Sir", versetzte Sam, der auf Mr. Wardles ungestümes Klingeln mit einer Schnelligkeit erschienen war, die annehmen ließ, daß er den ganzen Vorgang durch das Schlüsselloch mit angesehen hatte.
"Setz deinen Hut auf!" wiederholte Mr. Wardle. "Nichts da", sagte Jingle. "Das Zimmer verlassen, Sir, nichts zu schaffen hier – Dame kann tun, was sie will – mehr als einundzwanzig Jahre."
"Mehr als einundzwanzig?" rief Mr. Wardle verächtlich. "Jawohl, mehr als einundvierzig."
"Das bin ich nicht", sagte die alte Jungfer, deren Entrüstung über den Entschluß, in Ohnmacht zu fallen die Oberhand gewann.
"Allerdings nicht", versetzte Mr. Wardle. "In ein paar Stunden bist du fünfzig."
Sofort stieß die Tante einen lauten Schrei des Entsetzens aus und sank besinnungslos zusammen.
"Ein Glas Wasser!" rief der menschenfreundliche Mr. Pickwick der Wirtin zu.
"Ein Glas Wasser?" sagte Mr. Wardle leidenschaftlich.
"Bringen Sie einen Zuber und gießen Sie ihn ihr über den Kopf. Es wird ihr guttun. Sie hat eine derartige Abkühlung reichlich verdient."
"Pfui, Sie Unmensch!" rief die mildherzige Wirtin. "Die Ärmste!" Und unter freundlichem Zureden benetzte sie, von ihrem Dienstmädchen unterstützt, die Schläfen der ohnmächtigen Jungfrau mit Essig, rieb ihr die Hände, kitzelte ihr die Nase, löste ihr das Mieder und wandte die sonstigen üblichen Belebungsmittel an, mit denen mitleidige Frauen Damen beizuspringen pflegen, die sich bemühen, in Krämpfe und Ohnmachten zu fallen.
"Die Kutsche steht bereit, Sir", meldete Sam in der Türe.
"Also los!" rief Mr. Wardle. "Ich werde sie die Treppe hinuntertragen." Sofort erneuerten sich die Krämpfe mit verdoppelter Heftigkeit.
Die Wirtin war eben im Begriff, einen heftigen Protest gegen dieses Verfahren einzulegen, und hatte sich auch bereits durch die unwillige Frage, ob sich Mr. Wardle vielleicht für den Herrn der Schöpfung halte, Luft, gemacht, als Mr. Jingle sich ins Mittel legte.
"Hausknecht", sagte er, "holen Sie mal einen Polizeibeamten."
"Halt! Halt!" rief der kleine Mr. Perker. "Überlegen Sie sich das, Sir, überlegen Sie sich das."
"Habe nichts zu überlegen", versetzte Mr. Jingle. "Sie ist großjährig – möchte sehen, wer sich untersteht, sie fortzunehmen – gegen ihren Willen."
"Ich will nicht fort", flüsterte die alte Jungfer. "Mit meiner Einwilligung nicht." (Anschließend bekam sie einen schauerlichen Rückfall.)
"Meine werten Herren", sagte der kleine Mann leise und nahm Mr. Wardle und Mr. Pickwick heimlich beiseite. »Meine werten Herren, wir sind da in einer bösen Situation. Es ist ein äußerst schlimmer Fall; ja, ja, tatsächlich! Wir haben nämlich durchaus kein Recht, meine Herren, die Handlungsweise dieser Dame irgendwie zu gängeln. Ich habe Sie im voraus darauf aufmerksam gemacht, werter Herr, daß wir uns auf einen Vergleich gefaßt machen müßten."
Es trat eine kurze Pause ein.
"Und welche Art von Vergleich würden Sie vorschlagen?" fragte Mr. Pickwick.
"Je nun, mein werter Herr, unser Freund ist in einer unangenehmen Lage. Wir müssen zufrieden sein, mit einem Geldopfer davonzukommen."
"Ich will lieber alles über mich ergehen lassen, als diese Schmach geduldig hinnehmen und meine Schwester in ihrer Blindheit in ihr eigenes Unglück rennen sehen", sagte Mr. Wardle.
"Ich glaube, es wird sich machen lassen", entgegnete der kleine Geschäftsmann. "Mr. Jingle, wollen Sie einen Augenblick mit uns ins nächste Zimmer kommen?"
Mr. Jingle war bereit, und die vier begaben sich in eine leere Stube daneben.
"Nun, Sir", begann der kleine Mann, nachdem er sorgfältig die Tür geschlossen hatte, "es gibt da keinen andern Weg, die Angelegenheit in Ordnung zu bringen – treten Sie einen Moment hierher, Sir, hierher, ans Fenster, wir können da unter vier Augen sprechen, Sir – so, Sir, ich bitte, nehmen Sie Platz, Sir. Also, unter uns gesagt, werter Herr, es ist doch klar, daß Sie diese Dame nur um ihres Geldes willen entführt haben. Runzeln Sie nicht die Stirn, Sir, runzeln Sie nicht die Stirn; wir sprechen doch unter uns, und unter dem "wir" verstehe ich nur Sie und mich. Wir sind beide Männer von Welt und wissen recht wohl, daß dies bei unsern Freunden dort nicht der Fall ist, was?" Mr. Jingles Gesicht heiterte sich allmählich auf, und ein Blinzeln des Einverständnisses zuckte für einen Moment um sein linkes Auge.
"Sehr gut, sehr gut", sagte der kleine Mann, als er den Eindruck, den seine Worte gemacht hatten, gewahrte. "Nun verhält sich die Sache indessen so, daß die Dame außer ein paar hundert Pfund nur wenig oder gar nichts besitzt, bis ihre Mutter einmal stirbt, und die ist ja noch eine sehr rüstige alte Dame, mein lieber Herr ..."
"Alte", wiederholte Mr. Jingle kurz und nachdrücklich.
"Nun ja", gab der Anwalt mit einem leichten Hüsteln zu. "Sie haben ganz recht, mein werter Herr, sie ist ziemlich alt.
Aber sie stammt aus einer alten Familie, mein werter Herr, ich meine alt im eigentlichen Sinne des Wortes. Der Urahne dieser Familie kam nach Kent, als Julius Cäsar in Britannien einfiel, und seitdem ist, mit Ausnahme eines einzigen, das unter einem der Heinriche enthauptet wurde, kein. Glied dieser Familie vor dem fünfundachtzigsten Jahre gestorben. Und die alte Dame ist jetzt erst dreiundsiebenzig, mein werter Herr." Der kleine Mann hielt inne und nahm eine Prise Tabak.
"Nun, und?" fragte Mr. Jingle.
"Nun, und, mein werter Herr? Darf ich Ihnen eine Prise anbieten? Nicht? Ah, um so besser. – Kostspielige Angewohnheit. Nun, mein werter Herr, Sie sind ein hübscher junger Mann. Ein Mann von Welt, könnten Ihr Glück machen, wenn Sie Vermögen hätten, wie?"
"Nun, und?" sagte Mr. Jingle wieder.
"Verstehen Sie nicht, was ich meine?"
"Nicht ganz."
"Meinen Sie nicht – nun, mein werter Herr, ich stelle es Ihnen nur anheim, aber meinen Sie nicht, daß fünfzig Pfund und Freiheit besser wären als Miß Wardle und ein langes