Die Pickwickier. Charles Dickens. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Charles Dickens
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783961183319
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sauste der Wagen in rasender Eile.

      Hübsche Situation, dachte Mr. Pickwick, als er einen Augenblick Zeit zum Überlegen hatte. Hübsche Situation für den Präsidenten des Pickwick-Klubs. Dumpfige Chaise – fremde Pferde – fünfzehn Meilen in der Stunde – und Mitternacht!

      Die ersten drei oder vier Meilen fiel kein Wort zwischen den beiden Herren, da jeder zuviel mit seinen eignen Gedanken beschäftigt war. Dann aber, als die warm gewordnen Pferde gleichmäßiger gingen, wurde auch Pickwick durch die Raschheit der Bewegung fröhlicher gestimmt und vermochte nicht länger, wortlos dazusitzen.

      "Ich glaube, wir werden sie sicher einholen", begann er.

      "Ich hoffe", versetzte sein Gefährte.

      "Eine schöne Nacht", sagte Mr. Pickwick, nach dem klaren Vollmond aufblickend.

      "Um so schlimmer", entgegnete Wardle, "denn sie haben für ihren Vorsprung den Vorteil der Helligkeit gehabt, der uns abgehen wird, da der Mond höchstens noch eine Stunde im Himmel bleibt."

      "In der Dunkelheit wird's wohl mit der Geschwindigkeit hapern, oder?"

      "Jedenfalls", versetzte Mr. Wardle trocken.

      Mr. Pickwicks Begeisterung begann sich ein wenig abzukühlen, als er über die Unbequemlichkeiten und Gefahren der Reise nachdachte, auf die er sich so unüberlegt eingelassen hatte. Ein lautes Rufen des Stallburschen auf dem Leitgaul riß ihn aus seinen Betrachtungen.

      "Ö – ö – ö – ö!"

      "Ö – ö – ö – ö!" wiederholte der zweite Stallbursche.

      "Ö – ö – ö – ö!" stimmte der alte Wardle laut mit ein und beugte sich mit dem halben Körper zum Kutschenfenster hinaus.

      "Ö – ö – ö – ö!" schrie Mr. Pickwick am kräftigsten von allen, obgleich er durchaus nicht wußte, warum.

      Und während dieses vierfachen "Ö" machte der Wagen alt.

      "Was gibt's?" fragte Mr. Pickwick.

      "Wir sind an einem Schlagbaum und werden hier etwas von den Flüchtigen hören", erklärte der alte Wardle.

      Nach Verlauf von fünf Minuten, die unter Klopfen und Schreien vergingen, trat endlich ein Greis, nur mit Hemd und Unterhosen bekleidet, aus dem Schlagbaumhäuschen und schob die Barre zurück.

      "Wie lange ist's, seit eine Postkutsche hier durchkam?" fragte Mr. Wardle.

      "Wie lange?"

      "Jaja, wie lange."

      "Kann's nicht genau sagen. Gar lang wird's nicht sein, aber auch nicht gar kurz. – Na, so zwischendrin, denke ich."

      "Aber eine Chaise ist doch vorbeigekommen?"

      "O ja, 'ne Chaise ist vorbeigekommen."

      "Aber wie lange ist's her, guter Freund?" mischte sich Mr. Pickwick ein. "Vor einer Stunde vielleicht?"

      "So was mag's gewesen sein."

      "Oder zwei Stunden?" fragte der Postillion auf dem Handpferd.

      "Können auch zwei Stunden sein", entgegnete der Greis gedankenvoll.

      "Fort, Jungens!" rief Mr. Wardle ärgerlich. "Haltet euch nicht mit dem alten Dummkopf auf."

      "Dummkopf?" brummte der Greis mit einem Grinsen, schob den Balken halb vor und trat in die Mitte des Weges, um dem Wagen nachzusehen, der in der Ferne immer kleiner und kleiner wurde. "Lange noch kein solcher, wie der da drinnen. Verliert er da seine zehn Minuten und geht so gescheit fort, wie er gekommen ist. Wenn jeder Schlagbaumwärter seine Guinee nur halb so gut verdient, wie ich, wirst du die Chaise vor Michaeli nicht einholen, alter Schmerbauch."

      Mit einem weiteren Grinsen schloß der Greis den Schlagbaum vollends, trat in sein Haus und schob den Riegel hinter sich zu.

      Inzwischen raste der Wagen mit gleichbleibender Geschwindigkeit weiter, bis er am Ende des Stationsbereichs anlangte. Der Mond ging, wie Mr. Wardle richtig vorhergesagt, bald unter, und große Ballen schwarzer Wolken, die schon seit einiger Zeit den Himmel umdüstert hatten, sammelten sich schnell zu einer einzigen dunkeln Masse. Große Regentropfen, die hin und wieder an die Wagenfenster schlugen, schienen den Reisenden eine stürmische Nacht zu verkünden. Der Wind blies ihnen entgegen, fegte in furchtbaren Stößen die schmale Straße daher und heulte greulich in den Chausseebäumen. Mr. Pickwick wickelte sich tiefer in seinen Mantel, drückte sich behaglich in eine Ecke des Wagens und sank in ein gesundes Schläfchen, aus dem er erst wieder erwachte, als der Wagen haltmachte und die Stallknechtsklingel nebst dem Melderuf: "Rasch! Pferde vor!" erscholl.

      Wieder gab es eine Verzögerung. Die Postjungen lagen in einem so geheimnisvoll tiefen Schlaf, daß man bei jedem fünf Minuten brauchte, um ihn zu wecken. Der Pferdeknecht hatte den Stallschlüssel verlegt, und als er endlich gefunden war, verwechselten die Postillione die Geschirre, so daß das Geschäft des Vorspannens wieder aufs neue begonnen werden mußte. Wäre Mr. Pickwick allein gewesen, so würden diese vielen Hindernisse der Fortsetzung der Fahrt für diese Nacht ein Ende gesetzt haben, aber der alte Mr. Wardle war nicht so leicht zu entmutigen. Er legte überall so rührig mit Hand an, knuffte hin und wieder einen der Burschen, zog da eine Schnalle an und legte dort eine Kette ein, so daß der Wagen in weit kürzerer Zeit, als sich unter so vielen Schwierigkeiten hätte erwarten lassen, zur Abfahrt bereitstand.

      Dann ging die Reise – allerdings unter nicht besonders günstigen Auspizien – wieder weiter. Die nächste Station war fünfzehn Meilen entfernt, die Nacht finster, der Sturm heftig, und der Regen schüttete in Strömen. Es war unmöglich, unter solchen Verhältnissen rasch vorwärts zu kommen. – Ein Uhr hatte es bereits geschlagen, und man brauchte fast zwei Stunden, um die Haltestelle zu erreichen. Hier ließ jedoch ein Lichtblick alle Hoffnungen wieder aufleben.

      "Wann ist diese Chaise angekommen?" rief der alte Wardle, sprang aus dem Wagen und deutete auf ein Fuhrwerk, das, kotbespritzt, im Hofe stand.

      "Vor nicht ganz einer Viertelstunde, Sir", antwortete der Stallknecht, an den die Frage gerichtet war.

      "Ein Herr und eine Dame?" fragte Wardle mit fast atemloser Hast.

      "Ja, Sir."

      "Der Herr groß – dünn – lange Beine?"

      "Ja, Sir."

      "Dame ältlich – schmales Gesicht – etwas mager – wie?"

      "Ja, Sir."

      "Beim Himmel, sie sind's, Pickwick!" rief der alte Herr.

      "Sie wären schon früher angekommen, wenn ihnen nicht ein Zugstrang gerissen wäre", erklärte der Stallknecht.

      "Sie sind's", rief Mr. Wardle. "Beim Zeus, sie sind's! Geschwind. – Ein Vierspänner! Wir holen sie ein, noch ehe sie die nächste Station erreichen. Jedem eine Guinee, Jungens. – Rührt euch! – Flott, flott! – So; brave Burschen."

      Geschäftig rannte der alte Herr im Hof hin und her und befand sich dabei in einer Aufregung, die sich sogar Mr. Pickwick mitteilte. Eigenhändig half der Gelehrte beim Anschirren mit und machte sich auf eine ganz wundersame Weise mit den Rossen und den Rädern zu schaffen, fest überzeugt, durch seine Mitwirkung die Vorbereitungen zum schleunigen Aufbruch wesentlich zu fördern.

      "Hinein! Hinein!" rief Mr. Wardle, stieg in den Wagen, zog den Tritt nach und schloß den Schlag. "Kommen Sie, beeilen Sie sich."

      Und noch ehe Mr. Pickwick wußte, was geschah, fühlte er sich durch ein Zerren des alten Herrn und durch einen Schub des Stallknechts zu der andern Tür hinein in den Wagen befördert. Und schon ging es wieder weiter.

      "Na, das ist wenigstens 'n Tempo", rief der alte Herr frohlockend.

      "Ich bin in meinem Leben noch nie so gerüttelt worden", entgegnete Mr. Pickwick.

      "Macht nichts, wird bald vorüber sein. Nur nicht die Ruhe verlieren."

      Mr. Pickwick verstaute sich, so gut er konnte, in seiner Ecke, und der Wagen rollte, schneller als je, dahin.