»Wisst ihr was«, sagte Lomir frustriert, als sie die Treppe erreichten, »ich habe wirklich langsam die Nase voll von staubigen Löchern. Seid ihr sicher, dass Karcharoth hier gelebt hat?«
»Absolut«, sagte Pintel. »Gendig hat keinen Zweifel daran gelassen.«
»Wie kommt es dann, dass wir noch keinerlei Anzeichen dafür gefunden haben?«
»Die Festung ist riesig«, sagte Pintel. »Selbst wenn er nur ein einziges Stockwerk bewohnt hat, hatte er dort mehr als genug Platz. Und in diesem einen Stockwerk waren wir noch nicht.«
»Unsere Suche hat am falschen Ende begonnen«, sagte Nardon.
»Was, wenn nach seinem Tod alle Anzeichen seiner Existenz hier gelöscht wurden?«, fragte Lomir.
»Dann«, sagte Krona, »haben wir einen Haufen Zeit und Geld für die Überfahrt verschwendet und können uns ärgern.«
»Ich glaube nicht, dass es so war«, widersprach Pintel nachdenklich. »Wer sollte ein Interesse haben, das zu tun? Man hat sich ja schon zu Karcharoths Lebzeiten kaum mehr für ihn interessiert, nachdem er einmal hier untergebracht war.«
»Wir werden sehen«, sagte Krona. »Wir haben ja noch ein paar staubige Löcher übrig, in die wir unsere Nase stecken können. Treppe rauf oder runter?«
»Runter«, sagte Pintel. »Oben kommt nur wieder so ein Balli-Dingsbums.«
Niemand war überrascht, als ein weiteres dunkles, staubiges Stockwerk sich vor ihnen öffnete. Drei breite Gänge führten in unterschiedliche Richtungen aus der Treppenhalle hinaus. Sie wählten den zu ihrer Linken und stießen wie erwartet auf eine Reihe alter, verrottender Holztüren. Gleich die erste aber hielt eine Überraschung bereit.
»Pintel«, sagte Fenrir. »Hier haben wir etwas.«
Nicht nur Pintel folgte seinem Ruf: auch die anderen, alarmiert durch Fenrirs angespannten Ton, waren sofort zur Stelle.
Ihr Licht fiel auf Mobiliar in diesem Raum, das ohne Zweifel jüngeren Datums war, denn es war grau vor Staub, aber keineswegs zerfallen. Lange Tische standen dort und Regale an den Wänden und Vorratstruhen mit zurückgeklappten Deckeln.
»Keiner fasst etwas an«, warnte Pintel und setzte vorsichtig einen Fuß in den Raum. »Es sieht mir aus wie ein Labor.« Er hob seine Laterne und schritt vorsichtig die langen Tische ab. Staubige Glaskolben tauchten aus der Dunkelheit auf, Röhren und Schalen, Räucherpfannen, Mörser, Löffel und Spieße. An den Wänden waren Leisten befestigt, an denen auf großen Haken undefinierbare Bündel hingen. In der Mitte des Raumes befand sich ein großer Arbeitstisch, beladen mit aufgeschlagenen Büchern, brüchigen Papierrollen und einer Flut von beschriebenen Blättern. Magnetisch angezogen steuerte Nardon auf den Tisch zu und beleuchtete den Fund.
»Jemand hat hier in aller Eile nach etwas gesucht«, sagte er, eine nachdenkliche Falte über der Nase. »Seht ihr? Eines der Bücher ist runtergefallen. Kein Mann des Wissens schmeißt Bücher auf den Boden.«
»Ratten?«, schlug Krona vor, die sich nun auch in den Raum wagte.
»Nein. Ratten hätten das Papier restlos aufgefressen und außerdem ihren Kot hinterlassen.« Er zog ein Tuch aus der Manteltasche, ging in die Hocke und wischte vorsichtig den Buchdeckel ab.
»Nichts anfassen, hat er gesagt«, warnte Krona.
»Es ist ein Buch«, sagte Nardon. »Was soll passieren? Ich habe noch nie von Büchern gehört, die beißen.«
»Ich schon«, sagte Pintel aus dem hinteren Teil des Raumes, und Nardon zog schnell die Hand zurück. Immerhin hatte er genug Staub entfernt, um den Titel entziffern zu können, der in stumpfen Goldlettern auf dem Deckel geprägt war: »Morgals Großes Bestiarium«, las er vor. »Davon habe ich gehört. Das ist ein Standardwerk, nicht wahr?«
»Die derzeit vollständigste Auflistung aller arkanen Kreaturen, die je erschaffen wurden«, sagte Pintel. »Wobei die Auflage veraltet sein dürfte. Sie bringen alle paar Jahre eine neue heraus.«
»Ich weiß nicht«, sagte Krona, »aber bin ich die Einzige, die das nervös macht?«
»Arkane Kreaturen müssen registriert werden«, erklärte Pintel. »Sonst könnte jeder Zauberer in seinem Keller irgendwelche Monster züchten und sie auf die Nachbarn loslassen.«
»Das meine ich nicht«, sagte Krona. »Hier ist ein Labor, und hier liegen solche Bücher. Das meine ich.«
Nardon hatte sich mittlerweile erhoben und untersuchte die Hinterlassenschaften auf dem Schreibtisch. Die Papiere waren bedeckt mit einer schrägen, klaren Handschrift.
»Es ist Orda«, sagte Nardon. »Die alte Sprache der Zauberer. Sie ist dem Zwergischen ein bisschen ähnlich, aber vielleicht versteht Pintel schneller als ich, worum es geht. Pintel?«
»Orda war nicht meine Stärke auf der Akademie«, erklärte der keine Zauberer, der vorsichtig an einer ausgebrannten Räucherschale schnupperte. »Ich habe es nach zwei Jahren wieder abgewählt. Ich bin der Ansicht, die moderne Zauberei braucht kein Orda. Es gibt aber genug Zauberer der alten Schule, die ihre Aufsätze nur in dieser Sprache verfassen. Aus Prinzip, sozusagen.«
Nardon holte tief Luft und blies vorsichtig den Staub von einem großen Bogen Papier.
»Zeichnungen«, meldete er. »Die Handschrift der Legende ist die gleiche wie die auf den Notizzetteln. Es ist ein … oh.«
»Was?«, sagte Krona alarmiert.
»Wie soll ich das beschreiben?«, sagte Nardon. »Kommt und seht selbst. Eine Art … Bauplan?«
Die übrigen Gefährten traten zu Nardon an den Tisch. Er hielt die Fackel hoch, und sie betrachteten schaudernd die anatomische Zeichnung eines Wesens, irgendwo zwischen Ratte, Insekt und Mensch. Es war auf die Hinterbeine aufgerichtet und hatte dünne, geäderte Flügel zur Seite aufgespreizt. Eine zähe Flüssigkeit troff von Beißwerkzeugen, die selbst auf dem brüchigen Papier messerscharf aussahen. Lange, gebogene Krallen reckten sich dem Betrachter entgegen. An Teilen des Körpers waren die unter der Haut liegenden Schichten dargestellt: Muskeln, Sehnen, Knochen. Rund um die Zeichnung befanden sich Zeilen von Schrift, mathematische Gleichungen und rätselhafte Symbole.
»Mittlerweile finde ich es wirklich gut, dass man ihn weggesperrt hat«, sagte Krona.
»Ich habe hier auch etwas«, meldete Pintel. Sie gingen hinüber zu dem kleinen Zauberer, der in eine dunkle Ecke zwischen zwei Regalen starrte. Einige Schritte weiter führte ein dunkler Durchgang in einen Nebenraum. Krona warf einen Blick in diese Richtung, ließ sich dann aber doch von Pintels Fund fesseln: ein Haufen Knochen, den jemand offenbar säuberlich in die Ecke gekehrt hatte, Krona erkannte Wirbel und Rippen und einen Schädel, der seltsam verformt war und fingerlange, gebogene Reißzähne aufwies.
»Was war das?«, fragte Lomir mit angewidertem Gesichtsausdruck. »Weder Mensch noch Tier, oder?«
»Trotzdem ist es aufrecht gegangen«, sagte Nardon, der sich über den Knochenhaufen beugte. »Man kann das an diesem Oberschenkelknochen erkennen. Vielleicht das Monster von der Zeichnung, oder ein ähnliches …«
Krona wandte sich ab. Der dunkle Durchgang beunruhigte sie, sie fühlte sich aus den Schatten beobachtet, obwohl kein Geräusch aus der Dunkelheit drang. Sie fasste ihre Fackel fester, die beinahe heruntergebrannt war und immer noch qualmte, hob ihr Schwert und näherte sich vorsichtig dem Durchgang. Ihr Fackellicht traf eine Rückwand und erzeugte zuckende Schatten. Alles war still, nichts wollte sich auf sie stürzen.
»Krona?«, hörte sie Fenrir hinter sich. »Hast du etwas entdeckt?«
»Nein«, sagte sie und schaute durch die Türöffnung in den Nebenraum. »Und ich hoffe, dass es so bleibt. Hier ist eine Art Nebenraum. Jemand hat mit Kreide auf dem Boden herum gekrakelt. Das …«
»… ist alles«, sagte Krona.
Etwas stimmte nicht.
Sie