»Damit Sie mich verpfeifen? Damit meine alte Dame sieht, dass ich tatsächlich nichts tauge? Damit sie einen Grund hat, alle Vollmachten wieder zurückzuziehen? Wenn ich etwas ganz anderes tue, wird kein Mensch davon erfahren. Draußen liegt ein Boot. Der See ist tief und am Grund schlammig. Das, was er geschluckt hat, gibt er nicht wieder her.«
»Das werden Sie nicht tun«, behauptete Florence so ruhig, dass ihr französischer Akzent überhaupt nicht mehr zur Geltung kam. »Sie können es gar nicht, weil Sie nicht so gemein und brutal sein können. Die Kinder würden Ihnen leidtun. Außerdem würden Sie Ihr ganzes restliches Leben lang nicht mehr froh werden. Sie würden nie vergessen können, was Sie getan haben.«
Der Mann schwieg. Sein Gesicht war finster. Ja, er wusste, dass die junge Frau recht hatte. Er würde es tatsächlich nicht fertigbringen.
»Sie sind kein schlechter Mensch«, fuhr Florence fort. »Sie sind nur verbittert. Doch was haben diese armen Kinder damit zu tun?« Besorgt sah sie auf die Kinder, die noch immer fest schliefen.
»Ja, ja, schon gut. Ich weiß es ja.« Der Mann winkte ärgerlich ab. »Gehen Sie, bevor es dunkel wird und bevor ich es mir anders überlege!«
Florence sprang auf. Sie vergewisserte sich noch einmal durch einen raschen Seitenblick, dass der Mann sie nicht am Weggehen hindern würde, und weckte dann die Kleinen sanft auf. Den kleinen Dany, der noch schlaftrunken war und nicht ganz zu sich kam, nahm sie auf den Arm. Sanny führte sie an der Hand.
Der Mann, vor dem sie sich so sehr gefürchtet hatten, schloss auf. Sie waren frei!
*
Florence war so glücklich, dass sie die ganze Welt hätte umarmen können. Sie spürte weder Hunger noch Müdigkeit. Sie ging so leicht, als hätte ihr Körper kein Gewicht.
»Wohin gehen wir?«, fragte Sanny und wischte sich die Äuglein aus.
»Nach Sophienlust.« Florence wäre gern gerannt. Aber sie musste Rücksicht nehmen auf Sanny, deren kurze Beinchen noch nicht so rasch laufen konnten. Dany war auf ihrem Arm inzwischen wieder eingeschlafen.
»Ist Vati auch dort?«
»Vielleicht, mein Schatz.«
»Warum können wir nicht zu ihm nach Hause gehen?« Die Stimme des kleinen Mädchens klang weinerlich. Es dachte an jene Zeit, in der die Mutti noch zu Hause gewesen war, und wünschte sich, dass es wieder so sein würde.
»Nicht ungeduldig sein, Sanny. Irgendwann wird er uns mitnehmen, und dann bleiben wir für immer bei ihm.« Florence spürte, dass ihre Worte nicht überzeugen konnten. Denn sie selbst war ihrer Sache jetzt nicht mehr sicher. Vielleicht mochte Dr. Amberg sie überhaupt nicht? Vielleicht scheute er auch vor einer neuen Heirat zurück?
Erst jetzt wurde Florence bewusst, dass sie den Kindern etwas versprochen hatte, was sie wahrscheinlich nicht würde halten können. Dany und Sanny waren noch zu klein, um zu begreifen, dass die Umstände an dieser Notlüge schuld gewesen waren. Die Kinder würden sehr enttäuscht sein.
Jetzt kam auch langsam der Schock für Florence. Sie wurde sich bewusst, welcher Gefahr sie gerade entronnen waren. Ihre Knie wurden weich und zittrig. Es fiel ihr schwer, sich auf den Beinen zu halten. Tränen der Erschöpfung perlten lautlos aus ihren schönen Augen, als sie keuchend stehen blieb. Die Finger, die Sannys Händchen umschlossen, wurden schlaff und kraftlos.
Erstaunt sah das Kind hoch. »Was hast du, Mami?«, flüsterte es erschrocken.
»Ich bin ein bisschen müde«, stöhnte Florence.
»Aber wir sind noch nicht da.« Besorgt schaute Sanny den Weg zurück. Noch konnte man den See in der Ferne sehen. Von Sophienlust aber war noch lange nichts zu erblicken.
»Wir gehen gleich weiter. Nur ein bisschen ausruhen!« Sogar das Sprechen fiel Florence jetzt schwer. Pfeifend ging ihr Atem. Schmerzhaft fühlte sie das Pochen ihres Herzens.
»Du kannst dich auf mich stützen«, erbot sich Sanny.
»Danke, mein Kleines.« Langsam wankte Florence mit dem Kind auf dem Arm weiter. Es fiel ihr unendlich schwer, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Der Weg nach Sophienlust kam ihr jetzt unerreichbar weit vor. Immer wieder musste sie stehenbleiben. Und nun kam auch noch die Angst hinzu. Die Angst, dass es sich der Mann im Ferienhaus doch noch anders überlegen könnte, dass er zurückkomme, um sie erneut mitnehmen zu können. Immer häufiger sah sich Florence ängstlich um, immer schreckhafter wurde sie. All das Schlimme, das sie in den letzten Stunden erlebt hatte, klang jetzt in ihr nach. Sie mussten Sophienlust erreichen. Erst dort würden sie in Sicherheit sein.
Doch jetzt musste Florence sich setzen. Für einen Augenblick wenigstens. Vorsichtig ließ sie sich mit Dany im Gras nieder.
Sanny kuschelte sich sofort an ihre Seite. »Dort kommt jemand.« Sie deutete mit ausgestrecktem Ärmchen auf den Weg, der hier ein wenig bergauf führte.
Florence fuhr erschrocken zusammen. Hastig wandte sie den Kopf. Doch zu ihrer Erleichterung sah sie nicht einen einzelnen Mann, sondern eine kleine Gruppe. Kinder waren es, die den Weg herunterkamen. Jetzt begannen sie zu rennen.
»Tante Florence? Tante Florence!«, schallte es über die einsamen Wiesen.
»Die Kinder von Sophienlust!« Voll Freude drückte Florence die kleine Sanny an sich. »Ich glaube, der liebe Gott hat sie uns geschickt.« Voll Dankbarkeit sandte sie einen Blick zum Abendhimmel. Noch nie war sie so froh gewesen, Menschen zu sehen, wie in diesem Augenblick.
Sanny befreite sich energisch und lief den Freunden entgegen. »Ein ganz böser Mann hat uns mitgenommen und eingeschlossen« berichtete sie aufgeregt. »Aber wir haben gar keine Angst gehabt, weil Mami bei uns war. Nur jetzt ist sie müde. Da war kein Bett, und sie konnte nicht schlafen.« Sanny plapperte unaufhörlich.
Pünktchen umarmte die Kleine, »Sanny, du meine Güte, wir hätten nicht gedacht, dass wir euch finden würden. Wenn wir euch jetzt mitbringen, schimpft Tante Isi bestimmt nicht, dass wir so spät noch weggelaufen sind.«
»Weißt du schon, dass Tante Florence meine Mutti ist? Und Danys Mami auch.« Sanny sah Pünktchen nachdenklich an.
»Da hat Fabian doch recht gehabt«, staunte Nick und nahm Florence vorsichtig den schlafenden Jungen ab. »Wenn er nicht krank geworden wäre, hätten wir früher kommen können.«
»Ich bin ja so froh, Kinder, euch wiederzusehen.« Florence stemmte sich mühselig hoch. Der Gedanke, nun nicht mehr allein zu sein, gab ihr neue Kraft. Nun würde der Mann in der Lederjacke den Kindern nichts mehr anhaben können. Nun war alles gut.
»Und wir erst«, prustete Irmela. »Wir haben uns Sorgen um Sie gemacht. Alle in Sophienlust und in Schoeneich.«
»Am meisten Justus«, verriet die kleine Vicky und kicherte fröhlich. »Er hat überhaupt nichts mehr gegessen. Nicht einmal Magdas Schweinebraten und die Kartoffelklöße.«
»Stütze dich auf mich, Tante Florence. Ich bin fast so stark wie Nick«, erbot sich Steffen, als sich die Gruppe anschickte, den Rückweg anzutreten.
Florence nahm das Angebot an. Aufgeregt berichteten die Kinder nun von den Ereignissen der letzten Stunden.
»Auf dem Parkplatz stand ein richtiges Polizeiauto«, erzählte Angelika aufgeregt.
»Und die Polizisten sind im Park herumgelaufen und haben hinter jeden Busch geschaut«, ergänzte Vicky lebhaft.
Florence schluckte. Die Kinder erzählten von allen, nur nicht von Dr. Amberg. Dabei hätte sie gerade dieser Bericht interessiert.
Sanny drückte sich an die Seite ihrer ›Mami‹ und griff liebebedürftig nach deren Hand. »Und Papi?«, nahm sie Florence die entscheidende Frage ab.
»Dein Papi hat auch gesucht nach euch. Er war sehr traurig. Was glaubst du, wie sehr er sich freuen wird, wenn wir euch jetzt zurückbringen.« Man hörte Nicks Stimme an, wie stolz er war. Eingehend erkundigte er sich jetzt bei Florence, wie sich alles zugetragen