Die Angst Dr. Ambergs steigerte sich. Jetzt war er sicher, dass seine Kinder in größter Gefahr waren. Und mit ihnen Florence!
Im Laufschritt eilte der Arzt in die Garage, fuhr seinen Wagen heraus und brauste davon. Er raste durch die Stadt und wurde erst etwas langsam, als die letzten Häuser hinter ihm lagen. Aufmerksam sah er sich nach allen Seiten um. Doch er sah nichts Verdächtiges. Keinen abgestellten Wagen, keine Spuren, die darauf hinwiesen, dass sich hier irgendwo ein Drama abgespielt hatte.
In kürzester Zeit erreichte er Sophienlust. Natürlich wusste er genau, dass der Park und das angrenzende Gelände abgesucht worden waren. Trotzdem sah er sich noch einmal sorgfältig um. Dann ließ er sich bei Denise von Schoenecker melden.
»Leider haben wir noch nichts erfahren können«, meinte die charmante Frau bekümmert. »Wir sind sehr in Sorge. Es gab keinen Anruf, keinen Hinweis. Die Polizei hat Grenzkontrollen eingerichtet und sucht darüber hinaus auch fieberhaft in der näheren Umgebung.«
»Die Polizei.« Helmut Amberg verzog das Gesicht, als habe er Essigwasser getrunken. Er hätte den Beamten einen äußerst wichtigen Hinweis geben können, doch er wagte es nicht. Mit keinem, nicht einmal mit Frau von Schoenecker konnte er darüber sprechen. Denn der Fremde hatte ihn eindringlich gewarnt.
Aus lauter Angst hielt sich der Arzt auch jetzt an diese Drohung. Er war Denise von Schoenecker gegenüber sehr zurückhaltend und verabschiedete sich nach wenigen Minuten. Langsam fuhr er über die Feld- und Waldwege rings um Sophienlust. Vorbei am Försterhaus und am See, an dem einige hübsche Wochenendhäuser standen. Wie hätte er ahnen können, dass eines davon der Familie Buchholz gehörte? Verschlafen und unbewohnt träumten die Holzhäuser an ihrem idyllischen Standort vor sich hin. Erst im Sommer würde es hier lebendig werden. Jetzt war es noch zu früh dazu.
Im Schrittempo fuhr Dr. Amberg über die unebenen Wege. Oft stieg er aus, um von einem Hügel aus eine bessere Übersicht zu haben. Doch ringsum war alles friedlich. Nichts deutete darauf hin, dass ein Verbrechen geschehen war.
Jetzt bog Dr. Amberg mit dem Wagen um eine Kurve. Etwa hundert Meter vor ihm ging ein Mann mitten auf dem Weg. Er wich nicht zur Seite, schaute sich auch nicht um. Zielstrebig wanderte er weiter. Seine Rechte hielt einen derben Stock umspannt.
Helmut Amberg gab etwas Gas, ließ den Motor kurz aufheulen. Doch der Mann vor ihm beeindruckte das überhaupt nicht. Stur setzte er einen Fuß vor den anderen.
Da es keine Ausweichmöglichkeit gab, blieb Dr. Amberg nichts übrig, als zu hupen. Jetzt wandte sich der Fußgänger um und sagte ärgerlich. »Wissen Sie nicht, dass diese Wege für jeden Kraftfahrzeugverkehr gesperrt sind?«
»Doch, doch. Aber es ist mir gleichgültig.«
»Es kann Ihnen aber einen hübschen Strafzettel einbringen.«
»Das ist mir auch egal.« Erst jetzt sah sich der Arzt den Mann genauer an. Irgendwo hatte er ihn schon gesehen. »Sind Sie nicht aus Sophienlust? Der …, der …« Er suchte nach dem richtigen Namen. Inzwischen hatte er seinen Wagen zum Stehen gebracht und schaltete jetzt den Motor aus.
»Justus«, half der andere aus. Eigentlich war er alles andere als erfreut, dass er aufgehalten wurde.
»Ich bin Dr. Amberg. Meine beiden Kinder Dany und Sanny waren in Sophienlust.«
Jetzt fiel es dem guten Justus wie Schuppen von den Augen. Sein mürrisches Gesicht glättete sich. Freundlichkeit kam in seine kleinen gutmütigen Augen. »Ich glaube, da haben wir denselben Weg. Sie suchen die Kinder, und ich Florence Theger.«
»Warum ausgerechnet Sie?«, fragte Helmut verblüfft. Ein bisschen verständnislos musterte er den Alten.
»Sie muss gefunden werden«, stöhnte Justus. »Ehe es zu spät ist«, fügte er leise hinzu.
»Derselben Meinung bin ich auch«, murmelte Helmut. Dennoch betrachtete er den anderen mit leichtem Misstrauen. Welche Veranlassung gab es für den alten Justus, sich ganz allein auf den Weg zu machen? Wusste er etwas? Hatte er vielleicht sogar eine Spur?
»Wollen Sie einsteigen?«, fragte Dr. Amberg und öffnete gleichzeitig die Tür zum Beifahrersitz.
»Warum nicht? Vier Augen sehen mehr als zwei. Oh, ich hab eine Wut auf den Kerl, der Frau Theger und die Kinder entführt hat. Wenn ich ihn erwische, wird er mir dafür büßen.«
»Wenn wir ihn nur schon hätten.« Dr. Amberg ließ seinen Wagen langsam wieder anrollen.
*
»Was …, was ist das?«, stotterte Dany und sah fragend zu Florence auf.
»Dein Bauch brummt wie mein Teddybär«, erklärte Sanny dem Brüderchen.
Es klang ulkig. Doch Florence konnte jetzt nicht darüber lächeln. »Du hast Hunger«, flüsterte sie und drückte das Kind noch enger an sich.
»Sanny hat auch Hunger«, wisperte das blonde Mädchen.
Florence horchte ins Halbdunkel. Nichts regte sich. Vor etwa zehn Minuten hatte der Mann in der Lederjacke das Ferienhaus verlassen. War er draußen? Hielt er sich vielleicht unten am See auf?
»Wenn ihr ganz ruhig bleibt, werde ich einmal nachsehen, ob ich etwas Genießbares finde.« Vorsichtig gab Florence die Kinder frei, stellte sie auf die Beine. Sofort fassten sich die Geschwister ängstlich an den Händen. Mit großen Augen beobachteten sie, wie Florence vorsichtig und lautlos zum Fenster schlich. Sie blinzelte durch die Ritzen des Ladens, stellte sich auf die Zehenspitzen, um mehr sehen zu können.
Draußen war alles ruhig und menschenleer. Was würde sein, wenn sie mit aller Kraft um Hilfe rief? Würde sie jemand hören? Im Sommer kamen sicher viele Leute hierher, aber jetzt verirrte sich kaum jemand in diese Gegend.
Ob ich es probiere?, überlegte Florence. Doch was ist, wenn der Fremde, der vielleicht nur draußen am Haus lehnt, hereinkommt, wenn er in Wut gerät? Dann würde er vielleicht sogar jene Drohung wahrmachen, vor der sie so viel Angst hatte. Nein, es war doch vernünftiger, ruhig und gefasst zu warten. Wahrscheinlich suchte man längst nach ihr und den Kindern. Würde es gelingen, dieses unscheinbare Versteck aufzustöbern? Das Ferienhaus war umgeben von alten Bäumen, das kleine Grundstück war durch eine Hecke abgegrenzt. Das alles wirkte so unberührt, dass nur durch Zufall jemand auf die Idee kommen würde, dass das Haus bewohnt sei.
Vorsichtig schlich Florence weiter. Erschrocken zuckte sie zusammen, als die Dielen knarrten. Sie öffnete eine Tür, hinter der sich die Kochnische befand. Ein kleiner Propangasherd und einige Hängeschränke, das war alles, was hier zu finden war.
Nebenan hörte Florence die kleine Sanny flüstern: »Mami, kommst du wieder? Bitte, komm zurück. Wir haben gar keinen Hunger mehr.«
»Sofort, Liebling, sofort.«
Florence nahm all ihren Mut zusammen und öffnete die Tür des nächsten Hängeschrankes. Geschirr gab es darin, doch keine Spur von etwas Essbarem. Die junge Frau zog am nächsten Griff. Töpfe, Pfannen, sonst nichts. Auch im letzten Schrank befanden sich nur Geräte.
Mit fliegenden, zitternden Händen suchte Florence weiter. Es musste ihr gelingen, etwas für die Kinder aufzutreiben! Jetzt ließ sie jede Vorsicht außer acht. Eine Schublade nach der anderen zog sie auf, durchsuchte den ganzen Raum. Endlich fand sie eine Büchse, in der ein paar Kekse waren.
Florence war richtig glücklich. Sie stellte fest, dass das Gebäck noch genießbar war und teilte es zwischen Dany und Sanny auf.
»Du musst aber auch davon essen, Mami«, bettelte Sanny und schob Florence ein Stück Keks zwischen die Lippen.
Florence dachte mit Schrecken daran, dass dies vielleicht das letzte war, was sie in der nächsten Zeit bekommen werden. Nicht einen Happen wollte sie davon den Kindern wegessen. Deshalb tat sie nur so, als beiße sie ab,