»Woher wollen Sie das überhaupt wissen?«
»Die Kinder sind verschwunden«, keuchte der Arzt.
»Und wer sagt, dass ich damit zu tun habe?«
»Ich! Es kann gar nicht anders sein. Und wenn Sie mir nicht sofort sagen, wo meine Kinder sind und wann ich sie wiederbekomme, dann …« Dr. Amberg bebte vor Zorn.
Der mysteriöse Anrufer hatte aufgelegt.
*
»Es tut dir leid, dass sie nicht mehr da ist, nicht wahr?«, fragte Andrea über den Frühstückstisch hinweg.
Hans-Joachim hörte schlagartig zu kauen auf. »Ja. Aber nicht aus dem Grund, den du dahinter vermutest, sondern deshalb, weil die ganze Geschichte für deine Stiefmutter sehr unerfreulich werden kann. Und natürlich auch der Kinder wegen. Wenn man unschuldige Kinder dazu benutzt, auf andere einen Druck auszuüben, dann halte ich das für das gemeinste Verbrechen, das es geben kann.« Der junge Tierarzt war sehr ernst.
»Bis jetzt weiß man ja gar nicht, ob es tatsächlich so ist. Niemand hat in Sophienlust angerufen, niemand hat ein Lösegeld gefordert. Also muss man doch annehmen, dass die Polizei recht hat, wenn sie behauptet, dass diese Florence mit Dany und Sanny aus egoistischen Gründen nach Frankreich geflüchtet ist.«
Andrea’s wunderschöne blaue Augen schimmerten feucht. Nach der Auseinandersetzung vor einigen Tagen hatte sich das junge Paar nicht mehr richtig ausgesöhnt. Die beiden sprachen wohl miteinander, tauschten sogar einen flüchtigen Gutenachtkuss aus, doch das tiefe gegenseitige Verstehen fehlte.
Hans-Joachim sah seine hübsche Frau lange an. Er wusste genau, dass sie von ihm erwartete, dass er ihrer Meinung zustimmte. Doch das konnte er beim besten Willen nicht. Dafür sagte er: »Ich habe dich lieb, Andrea. Wirklich lieb. Keine andere Frau wird mir je so nahestehen wie du. Wir beide gehören für immer zusammen. Du darfst nicht eifersüchtig sein, Andrea. Es gibt keinen Grund dafür. Diese Florence bedeutet mir nichts. Niemand bedeutet mir etwas, außer dir und Peterle.«
Seine Stimme hatte so offen und ehrlich geklungen, dass sich Andrea diesen Worten nicht länger verschließen konnte. »Es tut mir leid, dass ich mich so dumm und so kindisch benommen habe«, meinte sie leise. Sie stand auf und trat zu ihrem Mann. Stürmisch schlang sie die Arme um seinen Hals und küsste ihn temperamentvoll auf beide Wangen. »Es soll nicht mehr vorkommen, Hans-Joachim. Ich werde mir sehr viel Mühe geben, mich so klug zu verhalten wie Mutti.«
»Ein ausgezeichneter Gedanke.« Der junge Mann zog Andrea innig an sich. Voller Zärtlichkeit streichelte er ihr weiches duftendes Haar und die glatte sonnengebräunte Haut des Gesichts. Er bog behutsam ihren Kopf ein wenig zurück und küsste den lockenden roten Mund.
Es wurde ein sehr langer beglückender Kuss.
»Wenn ich nicht schon vorhin gewusst hätte, dass du nur mich liebst, dann wäre zumindest jetzt jeder Zweifel beseitigt«, meinte Andrea danach mit strahlendem Lächeln.
»Das macht mich richtig froh. Du sollst nicht traurig sein, meine süße bezaubernde Andrea. Ich will dich immer lachen sehen. Dich und Peterle.« Plötzlich presste Hans-Joachim fest die Lippen aufeinander. »Ich darf gar nicht daran denken, was wäre, wenn unser Peterle so verschwinden würde wie Dany und Sanny.«
»Es ist furchtbar«, stimmte Andrea ihm zu.
»Florence hat nichts damit zu tun. Davon bin ich fest überzeugt.«
»Aber wer dann?«
Der Tierarzt zuckte die Schultern. »Wenn wir es nur wüssten!«
*
Etwa zur gleichen Zeit saß die Familie von Schoenecker auf Gut Schoeneich beim Frühstück. Doch niemand hatte richtigen Appetit. Sogar Henrik, das Nesthäkchen, kaute lustlos auf dem Schinkenbrötchen herum.
»Ich hätte es nicht tun sollen«, sprach Denise den Gedanken aus, der sie seit dem vergangenen Tag pausenlos beschäftigte. »Ich hätte Frau Theger nicht einstellen dürfen.«
Alexander setzte ruckartig die Tasse ab. »Du solltest dir keine Vorwürfe machen, Denise. Du hast es gut gemeint, hast der bedauernswerten jungen Frau helfen wollen. Niemand darf dich deshalb leichtsinnig nennen. Ich habe heute schon mit Dr. Solten telefoniert. Er ist wie ich der Ansicht, dass Florence niemals die Täterin sein kann. Dazu ist sie viel zu anständig. Außerdem ist auch das Motiv nicht ganz klar. Dr. Solten hat Frau Theger in Sophienlust besuchen wollen, zufällig an dem selben Tag, an dem auch Dr. Amberg dort war.«
»Ja, ich erinnere mich«, sagte Denise. »Als ich ihm sagte, dass Florence mit Dr. Amberg und dessen Kindern einen Spaziergang machte, erklärte er sich sofort bereit, ihnen nachzugehen. Er kam aber bald zurück und verabschiedete sich.«
»Dr. Solten hätte vielleicht nie darüber gesprochen, aber jetzt hielt er es für wichtig. Er ging der kleinen Gruppe tatsächlich nach, doch er merkte sehr bald, dass sich Dr. Amberg und Frau Theger ausgezeichnet unterhielten. Die beiden wirkten fast wie ein Liebespaar. Florence sei, so meinte Dr. Solten, völlig anders gewesen als sonst. Viel freier und ungezwungener. Mehrmals habe sie sogar gelacht. Deshalb habe er nicht stören wollen, und sei wieder zurückgekommen.«
»Das muss eine harte Enttäuschung für ihn gewesen sein«, sagte Denise überrascht.
»Er hat doch immer geglaubt, dass Florence seine Zuneigung eines Tages erwidern würde.«
»Er musste erfahren, dass ein anderer nicht nur mehr Chancen, sondern auch eine wesentlich bessere Ausgangsposition hat. Dr. Solten war sich darüber klar, dass Dany und Sanny Frau Thegers Entscheidung sehr beeinflussen würden. Dem kann er nichts entgegensetzen. Er hat mir das alles erzählt, weil er der Ansicht ist, dass Florence gewusst haben muss, dass sie nur ›ja‹ zu sagen braucht, um Dany und Sannys Mutti zu werden. Also brauchte sie die Kinder doch gar nicht zu entführen. Sie hätte sie ohnehin bekommen.«
»Aber wenn man bedenkt, dass Frau Theger nervenkrank war, wird doch verständlich, dass sie etwas tut, was unlogisch ist.« Denise unterdrückte einen Seufzer.
»Dr. Solten ist bereit, ein schriftliches Gutachten abzugeben. Darin wird er bestätigen, dass Florence völlig gesund war.«
*
Der kleine Dany war in Florences Arm eingeschlafen. Sanny kuschelte sich eng an die junge Frau und lehnte ihr Köpfchen gegen ihre Brust.
Groß und furchtsam sahen die blauen Kinderaugen auf den Mann, der eben das Strandhaus betrat. Er polterte auf schweren Schuhen herein und schlug laut die Tür hinter sich zu.
Florence verhielt sich ganz still. Sie hatte Angst, wahnsinnige Angst. Doch sie bemühte sich, diese zu verbergen. Leise sprach sie den Kindern immer wieder Mut zu.
Einen Tag und eine Nacht lang ging das schon so. Florence hatte regungslos all die Stunden auf ein und demselben Fleck verharrt, hatte es nicht einmal gewagt, sich zu bewegen, aus Angst, die Kleinen könnten erwachen. Mit hellwachen Sinnen hatte sie auf jeden Laut gelauscht, der aus der Dunkelheit zu ihr gedrungen war. Denn der Mann hatte sich im Nebenraum zum Schlafen hingelegt. Die Verbindungstür hatte er weit offen gelassen, die Ausgangstür hingegen verschlossen. Und die Fenster hatte er sorgfältig verriegelt.
Auch jetzt drangen nur wenige Strahlen fahlen Lichts durch die Ritzen. Wie lange würden sie hier noch ausharren müssen?, fragte sich Florence. Ausharren ohne Lebensmittel, ohne Getränke, ohne Hoffnung?
Dany und Sanny waren erstaunlich brav. Sehr rasch schienen sie begriffen zu haben, dass sie sich in einer ausweglosen Situation befanden. Sie weinten nicht, sie jammerten nicht. Still und ohne zu klagen fügten sie sich ins Unvermeidliche.
Florence sah sofort, dass der Fremde denkbar schlechter Laune war, als er den Raum betrat. Sein Gesicht war noch finsterer, noch dichter waren seine dunklen Brauen zusammengezogen.
Mehrmals musste sich Florence räuspern, ehe sie krächzend sprechen konnte. Ihr Hals war von der trockenen Luft ganz ausgedörrt.