Florence war unendlich glücklich. Neben ihr war der Mann, den sie von Herzen liebte, der künftig zu ihr gehören würde, und hinter ihr waren die beiden Kinder, die sie so lieb hatte wie eine leibliche Mutter. Einsam und traurig war sie nach Sophienlust gekommen, doch inzwischen hatte sich ihr Leben grundlegend geändert. Es hatte wieder einen Sinn, wieder einen Inhalt – und dafür war Florence von Herzen dankbar.
Dr. Amberg empfand ähnlich. Auch ihm war, als sei ihm das Leben neu geschenkt worden. In aller Stille hatte er das Gelöbnis ablegen wollen, das ihn für immer mit Florence verband. Trotzdem schienen einige Patienten davon erfahren zu haben. Die kleine Dorfkirche war bis auf den letzten Platz besetzt.
In der ersten Reihe hatte Martha Thaler Platz genommen. Der Mann neben ihr hielt zärtlich ihre Hand. Sie hatte also einen anderen gefunden.
Ganz still war es in der Dorfkirche, als der alte Pfarrer die Trauungszeremonie vornahm und Helmut seiner Florence den Ring an den Finger steckte.
In der Empore reckten die Kinder die Hälse, um ja kein Wort und keine Bewegung zu verpassen. Die meisten unter ihnen waren ein bisschen traurig, weil Tante Florence nun nicht mehr in Sophienlust lebte und weil auch Dany und Sanny für immer Abschied genommen hatten. Doch zu Besuch würden alle natürlich oft kommen.
Pünktchen musste ein bisschen weinen, als Florence auf die Frage des Geistlichen nicht mit ›Ja‹ antwortete, sondern, vor lauter Aufregung, in ihrer Muttersprache mit einem deutlichen ›Qui!‹ Doch man ließ es gelten.
Jetzt gab Herr Rennert das Zeichen, mit dem Ave-Maria zu beginnen. Die Orgel spielte, helle kräftige Kinderstimmchen fielen ein.
Fabian stand in der ersten Reihe des kleinen Chors und sang so rein und voll, als sei er nicht erst zwei Tage zuvor aus dem Krankenzimmer entlassen worden.
Dieses Lied, gesungen von frischen, wunderschönen Stimmchen, bildete einen eindrucksvollen Abschluss der feierlichen Hochzeitsmesse. Florence hatte Tränen der Rührung in den Augen. »Singen sie nicht schön, die Kinder von Sophienlust?«, flüsterte sie ihrem Mann zu.
Der Arzt legte zärtlich seine Rechte über die zitternden Finger seiner jungen Frau und nickte lächelnd.
Unter dem Geläute der Glocken verließ das Paar das Gotteshaus und wurde draußen sofort von Gratulanten umringt. Andrea und Hans-Joachim von Lehn waren die ersten, die den Jungvermählten herzlich die Hände schüttelten.
Dann bahnte sich der alte Justus einen Weg durch die Neugierigen. Er trug einen großen wunderschönen Blumenkorb. »Alles mit Wurzeln«, verriet er Florence glückstrahlend. »Und wenn ich darf, werde ich die Pflanzen in Ihrem Garten einsetzten. Dann haben Sie ein kleines Andenken an Sopheinlust und …, und an mich.« Ein wenig verlegen setzte er sein Geschenk ab.
»Das wäre natürlich wunderschön«, freute sich Florence. »Trotzdem würden wir, auch ohne diese Erinnerung, Sophienlust niemals vergessen. Und Sie, Justus, auch nicht.«
Spontan beugte sich Florence ein wenig vor und küsste den Alten auf beide Wangen.
»Wir fahren nach München, gehen einmal in die Oper und werden sehen, ob wir der Dame behilflich sein können, Isi«, meinte Alexander von Schoenecker spontan, nachdem seine Frau ihm den Brief einer Bekannten vorgelesen hatte.
Denise von Schoenecker war überrascht. »Du willst mich begleiten? Außerdem hast du erraten, dass ich die Absicht habe, mit der Künstlerin zu sprechen. Meinst du nicht auch, ich sollte mich persönlich um eine so wichtige Angelegenheit kümmern? Frau Linden kann nicht zu uns kommen, und vielleicht würde sie sich niemals entschließen, uns die kleine Kitty anzuvertrauen, wenn sie uns nicht kennen lernen würde. Wenn du mitfährst, dann ist die Reise für mich eher eine Erholung und Freude als die Erfüllung einer Pflicht, die mir unser Kinderheim Sophienlust auferlegt.«
Das Ehepaar von Schoenecker saß in Schoeneich beim Tee vor dem flackernden Kaminfeuer. Es war eine der seltenen ungestörten Stunden, die den beiden gegönnt waren. Die mannigfachen Pflichten, die mit der Führung der Güter Schoeneich und Sophienlust für Denise mit der Leitung für das in Sophienlust eingerichtete Heim verbunden waren, ließen den beiden wenig freie Zeit. Doch sie beklagten sich deshalb nicht. Sie liebten einander und betrachteten ihre Lebensaufgabe als Glück, nicht als Last.
Denise war eine noch sehr jugendlich wirkende Frau von mädchenhafter Schlankheit, mit herrlichem dunklem Haar und lebhaften dunklen Augen. Dass sie früher einmal als Tänzerin auf der Bühne Triumphe gefeiert hatte, konnte man sich bei ihrem Anblick sehr gut vorstellen. Noch jetzt war sie äußerlich sportlich und ritt für ihr Leben gern. Außerdem brachten ihr ihre eigenen Kinder, sowie die ihr in Sophienlust anvertrauten Kleinen volles Vertrauen entgegen und liebten sie innig.
Jetzt füllte die Gutsherrin die Tassen nach und reichte ihrem Mann den Zucker sowie das zarte Gebäck in der Silberschale. »Ich könnte telefonieren und mich bei Frau Linden anmelden, Alexander. Wenn es ihr recht ist, fahren wir übermorgen. Was meinst du?«
»Ich bin mit allem einverstanden. Es handelt sich um einen echten Notfall. Das scheint mir klar auf der Hand zu liegen, denn auf das, was Frau Osterloh schreibt, kann man sich gewiss verlassen.«
Denise nickte. »Ja, sie hat ihre Kinder schon vier Mal in den Ferien bei uns einquartiert. Wir kennen die Familie wirklich gut. Eine Empfehlung von Frau Osterloh ist so ziemlich das Beste, was Frau Linden für uns mitbringen kann. Trotzdem möchte ich mit ihr sprechen. Immerhin handelt es sich ja auch in irgendeiner Weise um einen Problemfall.«
»Weil es ein Kind ohne Vater ist? Das hat doch heute nichts mehr zu sagen. Die Mutter ist Musikerin. Bei Künstlern ist man in solchen Dingen sowieso weniger kleinlich als unter bürgerlichen Zeitgenossen. Ich nehme nicht an, dass Rosita Linden in ihrem Töchterchen ein Problem erblickt – eher schon in der Tatsache, dass sie jetzt nicht recht weiß, wo sie die Kleine unterbringen soll.«
Sie beleuchteten den Fall von allen Seiten, und gegen Abend fuhren sie gemeinsam nach Sophienlust, um die Sache mit Frau Rennert, der Heimleiterin, zu erörtern.
Frau Rennert, von ihren kleinen Schützlingen zärtlich Tante Ma gerufen, grauhaarig, erfahren, solide und zuverlässig, war sofort einverstanden. »Wir haben Platz, Frau von Schoenecker. Die kleine Kitty Linden soll uns herzlich willkommen sein. Heidi Holsten wird sich wieder einmal sehr wichtig vorkommen, weil das neue Kind jünger ist als unser Nesthäkchen. Wenn ich einen Vorschlag machen darf, so versuchen Sie doch, Kitty gleich mitzunehmen. Unter den gegebenen Umständen wird Frau Linden gewiss nicht wissen, wie sie ihr Töchterchen zu uns bringen soll. Dass sie die Kleine selber begleitet, kommt ja nicht infrage.«
»Nein, so weit ich Frau Osterloh in ihrem Brief verstanden habe, ist die Künstlerin zwar nun so weit, dass sie aus dem Krankenhaus entlassen werden konnte, aber sie ist noch pflegebedürftig und ganz gewiss nicht in der Lage, die weite Reise nach Sophienlust anzutreten.«
Da die Unterhaltung sich einige Zeit hingezogen hatte, entschlossen sich Denise und Alexander, das Abendessen mit den Kindern in Sophienlust einzunehmen. Ihre Söhne Nick und Henrik waren sowieso in Sophienlust. Sie waren am Nachmittag mit den Kindern in den Wald geritten, um in der Försterei zu jausen, und kehrten eben zurück. Nick trabte der fröhlichen Reiterschar voran, gefolgt von der blonden Irmela und Pünktchen. Irmela ritt genau wie Nick auf einem großen Pferd. Pünktchen dagegen auf einem Pony. Auch Fabian Schöller, Heidi Holsten und die Geschwister Angelika und Vicky Langenbach waren mit von der Partie. Henrik von Schoenecker bildete das Schlusslicht.
Es war herrlich gewesen, und die Kinder brachten einen gesunden Hunger mit, obwohl sie beim Förster frischen Hefekuchen mit viel Kakao bekommen hatten. Magda, die exzellente Köchin von Sophienlust, konnte sich freuen.