Jan blickte die junge Frau immer noch an. »Es beruhigt mich, dass Sie den Tatsachen jetzt ins Auge sehen und sich nichts mehr vormachen, Frau Beate. Ich habe lange genug darauf gewartet und so getan, als wisse ich von nichts. Nun werden Sie sich von Ihrem Mann trennen. Das ist gut so. Besser ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende. Nicht wahr?« Er nickte ihr ermutigend zu.
»Glaubst du, dass ich übers nächste Wochenende zu Uwe fahren könnte? Wirst du einmal allein hier fertig?«
»Bestimmt werde ich fertig, Frau Beate. Sonntags ist doch nur das Vieh zu versorgen. Ich habe zwei Leute, und was die nicht machen, das übernehme ich allein.«
»Du würdest niemals nein sagen, wenn ich dich um etwas bitte, nicht wahr?«
»Nein, warum sollte ich, Frau Beate? Sie bitten mich doch nur, weil es wirklich nötig ist.«
»Guter, alter Jan. Die Frage bleibt offen, ob ich so viel Liebe und Hingabe überhaupt verdiene. Vergelten kann ich dir deine Treue nie.«
»Wer redet denn von Vergeltung, Frau Beate? Der Heidehof ist genauso meine Heimat wie die ihre. Wenn wir hierbleiben können, dann ist das hundertmal Dank genug. Oder nicht?«
»Doch, Jan, für mich gewiss. Aber ich dachte nicht, dass du es ebenso betrachtest. Ich danke dir.«
»Nicht danken, Frau Beate. Das ist zwischen uns nicht nötig. Wenn wir es schaffen, ist alles gut. Leider weiß ich heute noch nicht, ob wir Erfolg haben werden. Trotzdem geben wir nicht auf.«
Beate Breuer streckte die Hände aus, und der alte Mann legte die seinen darüber. »Nein, wir geben nicht auf«, wiederholte sie beinahe feierlich.
Eine halbe Stunde später stand sie im verlassenen Kinderzimmer und betrachtete wehmütig das leere Bett ihres Sohnes und die Fotos an den Wänden, die die Ponys Max und Moritz zeigten. Die Bilder stammten aus glücklichen Tagen, in denen sie noch an Werners Liebe geglaubt und sich eingeredet hatte, dass mit dem Gut alles in Ordnung sei. Lange genug hatte ihr Mann ihr Sand in die Augen gestreut. Sie hatte ihm Vollmacht über ihre Konten gegeben und nicht danach gefragt, was er mit dem vielen Geld, das er laufend flüssig gemacht hatte, tue. Heute war nichts mehr flüssig zu machen, und die Streichung der Vollmacht kam in jeder Hinsicht zu spät.
Immerhin hatte sie sich dazu durchgerungen, durch ihren Anwalt Gütertrennung zu vereinbaren und sämtliche Vollmachten auf diese einfache Art rückgängig zu machen. Spät genug war sie zu der Erkenntnis gekommen, dass sie Werner nicht vertrauen könne. Vielleicht sogar allzu spät.
Beate blieb lange in Uwes Zimmer und strich mit der verarbeiteten Hand über das Bettzeug, die Spielsachen, den Stoff der Gardinen. Endlich wurde ihre Müdigkeit allzu groß. Sie löschte das Licht und ging in das Schlafzimmer. Auch hier gab es ein leeres Bett. Doch dieses Bett weckte jetzt keine zärtlichen Gefühle und Gedanken mehr in ihr. Grollend und empört dachte Beate an den Mann, der die Stirn gehabt hatte, von einer geschäftlichen notwendigen Reise zu reden, obwohl es sich um eine Vergnügungsfahrt an der Seite einer Frau handelte, von der er sich das versprach, was er auch bei ihr gesucht und gefunden hatte: Liebe und Geld.
Beates Wangen begannen zu glühen, als sie sich ausmalte, wie töricht sie gewesen war. Sie hatte Werners Versprechungen geglaubt, hatte selbst dann noch die Augen gewaltsam vor seiner Unaufrichtigkeit verschlossen, als die Spatzen schon von den Dächern gepfiffen hatten, dass er sie betrog und sich mit ihrem Geld ein bequemes Leben machte. Hätte sie doch auf ihren guten Vater gehört!
Aus Beates Zorn wurde nun Trauer. Hilflos begann die einsame Frau zu weinen. Gewiss, sie hatte den getreuen Jan an ihrer Seite. Aber würden ihre und seine Kräfte ausreichen, um den Schaden, der dem Gut zugefügt worden war, gutzumachen?
*
Am folgenden Wochenende fuhr Beate nach Sophienlust. Sie musste sich schließlich einmal um ihren kleinen Sohn kümmern.
Seit dem Morgen wartete Uwe vor dem Herrenhaus auf seine Mutter. Er saß auf seinem Kinderfahrrad und gondelte damit in atemberaubender Geschwindigkeit über den Vorplatz und um das Rasenrund.
Der sonst so stille, schweigsame Bub war gänzlich verändert. »Meine Mutti kommt heute«, erzählte er unaufgefordert jedem, der ihm über den Weg kam. »Meine Mutti kommt mich besuchen.«
Wer noch daran gezweifelt hatte, konnte nun sehen, wie stark Uwe unter dem Heimweh nach dem Heidehof und der Sehnsucht nach seiner Mutter gelitten hatte.
Denise von Schoenecker schnitt es ins Herz. Sie befürchtete, dass Uwe seine Mutter bitten würde, ihn wieder mitzunehmen. Deshalb ging sie zu dem Jungen. Denise ging hinaus. »Du freust dich wohl sehr auf deine Mutti, Uwe?«, begann sie das Gespräch.
»Hm, sehr, Tante Isi. Weißt du, sie hat sich nämlich auch nach mir gebangt. Das hat sie mir am Telefon gesagt.«
»Natürlich, Uwe. Sie hat dich lieb. Kein Wunder, dass du ihr fehlst. Aber im Augenblick musst du tapfer sein und die Trennung von deiner Mutti eine Weile ertragen.«
Uwe nickte etwas verkrampft. »Das weiß ich, Tante Isi. Mutti hat es mir genau erklärt. Sie muss viel arbeiten und hat keine Zeit für mich. Der Schulweg ist so weit. Dort gibt es keinen Bus wie hier. Mutti muss mich jeden Tag mit dem Auto zur Schule bringen und wieder holen. Und überhaupt – es ist einfach zu schwierig. Aber arg ist es schon.«
Denise strich dem Jungen übers Haar. »Ich finde es großartig, dass du das alles verstehst, Uwe. Es gibt bestimmt Kinder, die in deiner Lage weinen und schimpfen würden, aber du benimmst dich wie ein erwachsener Mann. Was sein muss, muss sein. Da hilft kein Zähneklappern.«
»Manchmal weine ich aber doch, Tante Isi«, gestand Uwe schüchtern. »Wenn es niemand sieht. Ist das schlimm?«
Denise zog den Jungen an sich. Das Kinderfahrrad kippte um, doch keiner achtete darauf. »Nein, Uwe, das ist nicht schlimm. Jeder muss einmal weinen, wenn er traurig ist. Sogar die großen Leute tun es.«
»Du auch, Tante Isi?«
»Ja, wenn ich sehr unglücklich und betrübt bin, muss ich auch weinen. Deswegen braucht man sich nicht zu schämen.«
Uwe atmete erleichtert auf und kuschelte sich enger an Denise. »Ich habe mich wirklich geschämt. Vor allem möchte ich meiner Mutti nicht sagen, dass ich traurig bin. Davon wird es ja nicht viel besser.«
»Nein, davon nicht, mein Junge. Ich bin sehr froh, dass du deine Mutti nicht traurig machen willst.«
»Glaubst du, dass sie auch manchmal weint, wenn sie allein ist und es niemand sehen kann, Tante Isi?«
Denise war immer für absolute Aufrichtigkeit. Sie hielt nichts davon, Kindern fromme Lügen aufzutischen. »Ja, ich glaube, dass sie auch manchmal ein bisschen weint, weil sie viel lieber mit dir zusammen wäre.«
»Und mein Vati? Was ist mit dem? Er ist einfach weggereist. Er kommt fast gar nicht mehr nach Hause. Glaubst du, dass das wirklich sein muss? Die Köchin hat einmal gesagt, dass er nicht mehr wiederkommen sollte. Aber das finde ich nicht richtig. Er gehört doch zu uns.«
Denise antwortete nur zögernd: »Ich … weiß nicht genau, wie es mit deinem Vati ist, Uwe. Du solltest deine Mutti danach fragen. Möglich, dass er geschäftlich viel reisen muss. Die Köchin sollte da nicht hineinreden.«
»Aber ich habe unsere Ama sehr lieb. Sie war schon Köchin auf dem Heidehof, als Mutti noch ein kleines Mädchen war. Die Ama redet nichts Falsches, Tante Isi.«
»Dann musst du deine Mutti fragen. Schau, ich kenne deinen Vati doch gar nicht.«
»Es ist schwer mit ihm.« Uwe seufzte abgrundtief. »Man sieht ihn fast gar nicht. Aber wenn er einmal zu Hause ist, dann lacht er und bringt Geschenke mit. Meistens Sachen, die ich gar nicht brauchen kann. Na ja, er weiß wohl nicht genau, worüber ich mich