Der Junge atmete auf, als sei ihm ein Fels von der Seele gerollt. »Was für ein Glück, Tante Andrea. Magda wäre bestimmt traurig gewesen, wenn Mutti die beste Torte der Welt nicht probiert hätte. Sie hat sie doch extra für Mutti gemacht.«
Andrea lachte. Es war erstaunlich, wie verändert der sonst so stille, scheue Junge an diesem Tag war.
Andrea eilte in die Küche, während Dr. Hans-Joachim von Lehn sich mit Beate unterhielt. Er erzählte ihr ein wenig von seiner Arbeit als Tierarzt.
»Wir sind eine Familie von Tiernarren«, gestand er freimütig. »Deshalb hat meine Frau auch das Tierheim gegründet. Uwe ist hier ein häufig und gern gesehener Gast. Gleich nach dem Tee müssen Sie sich Waldi & Co., das Heim der glücklichen Tiere, ansehen.«
»Besonders Billy«, fiel Uwe ein. »Billy ist das kleinste Pferdchen der Welt und kommt aus Texas. Tante Andrea hat es mir selbst erzählt.«
»Wie groß ist das Tier denn?«, erkundigte sich Beate interessiert.
»Siebzig Zentimeter hoch. Wirklich besonders niedlich, Frau Breuer. Meine Frau hat schon seit längerer Zeit den Plan, eine Zucht zu beginnen, aber sie ist nicht dazu gekommen. Ich war auch dagegen, denn es gibt bei uns schon genügend andere Tiere, um die Andrea sich kümmern muss. Dass unsere gute Betti geheiratet hat, bedeutet auch einen harten Schlag für unseren Haushalt. Wir hatten uns an den Gedanken, dass sie für immer bei uns bleiben würde, schon gewöhnt. Nun muss Andrea im Haus mehr tun als früher, denn die Frau, die ihr jetzt zur Hand geht, kommt nur stundenweise. An eine Zucht von Liliputpferdchen ist im Augenblick also nicht zu denken.«
Andrea kam mit dem Tee und der glänzend überzogenen Schokoladentorte aus Magdas Wunderküche in Sophienlust.
»Ja, ich hätte die Pferdchen gern zu züchten versucht«, bestätigte sie. »Aber wie das so ist, alles lässt sich nicht verwirklichen, was einem so in den Sinn kommt. Unser Mini-Zoo hier wird sowieso immer größer, und mein Mann zieht manchmal die Nase kraus, weil natürlich trotz des Tierpflegers hin und wieder allerlei Arbeit für mich anfällt. Er möchte, dass ich immer saubere Pfötchen habe und nicht zu viel herumwurstele. Nicht wahr, Hans-Joachim?« Sie lachte ihren Mann an.
»Du darfst es nicht übertreiben«, erwiderte der sympathische Tierarzt ruhig und freundlich. »Damals, als der Peterle unterwegs war, hatte ich meine liebe Not, dich davon abzuhalten, schwere Eimer zu schleppen und wie ein Knecht im Tierheim zu schuften.«
»Trotzdem ist Peterle gesund zur Welt gekommen. Das bisschen Arbeit im Garten und im Tierheim hat mir nichts geschadet. Werdende Väter führen sich manchmal wichtiger auf als die Mütter«, sagte die bildhübsche junge Frau lachend.
»Nichts für ungut. Wer weiß, was du noch auf die Beine gestellt hättest, wenn Vati und ich dir nicht ständig die Flügel geschnitten hätten, Andrea«, antwortete Hans-Joachim von Lehn heiter. »Jedenfalls bin ich nicht unbedingt für die Zucht der kleinsten Pferde der Welt, so interessant sich das auch anhören mag.«
»Wenigstens nicht, solange wir kein neues Mädchen haben«, schaltete sich Andrea ein.
Hans-Joachim lachte. »Da sehen Sie, was für einen schweren Stand ich bei meiner Frau habe, Frau Breuer. Ein Glück, dass sie sich bis jetzt nicht recht entschließen konnte, ein anderes junges Mädchen ins Haus zu nehmen. Betti gehörte richtig mit zur Familie. Da tut man sich schwer.«
»Ja, ich gönne unserer Betti zwar das große Glück von Herzen, aber ich vermisse sie«, sagte Andrea. Sie füllte die Tassen, schnitt die Torte auf und reichte sie herum.
Uwe schaute seine Mutter erwartungsvoll an. »Na, wie schmeckt dir Magdas Torte?«, fragte er gespannt.
Beate schloss die Augen und kostete mit Verstand. »Sie zergeht auf der Zunge. Eine so gute Torte habe ich noch nie gegessen.«
»Magdas Torten sind weltberühmt«, fiel Andrea ein. »Ich nehme darin gar nicht erst einen Wettstreit auf, sondern bitte Magda lieber, gelegentlich eine Torte für mich mitzubacken. Bei mir reicht es bloß zu einem einfachen Obstkuchen.«
»Dein Apfelkuchen ist große Klasse«, lobte Uwe sie höflich. »Aber mit Magdas Schokoladentorte kommt eben kein Kuchen mit. Dafür kannst du nichts.«
Nachdem Uwe zwei mächtige Tortenstücke verzehrt hatte, brachte er beim besten Willen keinen Bissen mehr herunter. Deshalb drang er nun darauf, dass seine Mutter sich das Tierheim ansah.
Die Erwachsenen taten dem Jungen nur zu gern den Gefallen. Der Tierarzt und Andrea deshalb, weil sie auf Waldi & Co. stolz waren, Beate Breuer, weil sie spürte, dass dieses Tierheim ihrem Jungen sehr viel bedeutete. Außerdem war sie selbst ein Landkind und liebte alles, was kreuchte und fleuchte.
»Das ist ja eine beachtliche Einrichtung«, staunte sie, als sie den langgestreckten Bau betrachtete, über dessen Eingangstür ein prächtiges Schild angebracht war, auf dem der Name des Heims zu lesen war: Waldi & Co. – das Heim der glücklichen Tiere.
»Nun ja, es ist im Laufe der Zeit immer größer geworden«, räumte Andrea ein. »Ohne unseren guten Helmut Koster wäre die Arbeit kaum noch zu schaffen. Da ist er ja schon.«
Beate Breuer lernte den Tierpfleger kennen und fand den schlichten Mann mit den klaren Augen sofort sympathisch.
»Das freie Gelände haben wir erst später für unsere Tiere abgezäunt«, erklärte Dr. von Lehn. »Es erwies sich als nötig, unseren Schützlingen einen Auslauf zu gewähren. Wir haben ein Reh, Füchse, einen Hasen und noch andere Tiere, die wir nicht ständig im Stall oder im Käfig halten wollten.«
»Und das Liliputpferdchen?«, warf Beate gespannt ein, weil sie die wachsende Unruhe ihres Jungen deutlich spürte.
»Warten Sie, wir gehen ins Freigehege, Frau Breuer.«
Kaum waren sie ins Freie getreten, trabte ihnen das winzige Pferd auch schon fröhlich schnaubend entgegen. Uwe ließ die Hand seiner Mutter los und umarmte seinen kleinen Freund.
»Das ist Billy, Mutti. Ist er nicht wunderhübsch? Glaubst du, wir könnten ihn später mitnehmen auf den Heidehof?«
Beate war verwirrt. »Frau von Lehn wird ihn behalten wollen, Uwe. Er fühlt sich hier zwischen den anderen Tieren sicherlich sehr glücklich und würde nur Heimweh bekommen.«
»Tante Andrea schafft es ja doch nicht mit der Zucht. Aber wir zwei könnten es machen, Mutti. Man kann mit diesen kleinen Pferden viel Geld verdienen. Billy ist nämlich sehr wertvoll – nicht wahr, Onkel Hans-Joachim?«
»Du hast recht, die Liliputpferdchen steigen im Wert, je kleiner sie sind, Junge. Eine Zucht könnte unter Umständen auf die Dauer recht lohnend werden. Aber es gehören Geduld und Fleiß dazu. Und in gewisser Weise bleibt eine Tierzucht zunächst immer ein Experiment.«
»Auf Experimente können wir uns in unserer jetzigen Lage wirklich nicht einlassen, Uwe«, seufzte Beate und fuhr mit der Hand über die Kruppe des kleinen Hengstes, der zutraulich den Kopf hin und her bewegte, als erkenne er in ihr die Mutter seines Freundes Uwe.
»Schade! Es wäre ja auch die große Frage, ob Tante Andrea Billy überhaupt hergeben würde. Du – schau mal, Mutti – das ist Mumps, der Igel.«
Eben kam Mumps, der Stammgast des Tierheims durch eine Zaunlücke getrippelt. Er wirkte sehr beschäftigt und strebte zielsicher dem für ihn aufgestellten Teller zu.
»Da kommt ein zweiter Igel«, rief Andrea leise aus. »Das ist sicher eine Igeldame. Unser Mumps will es meiner Betti gleichtun und wandelt auf Freiersfüßen.«
»Woran willst du eigentlich erkennen, dass es eine Igelin ist, Andrea?«, spöttelte der Tierarzt. »Ich bin zwar vom Fach, aber ich kann das im Augenblick wirklich nicht unterscheiden. Ich sehe nur Stacheln.«
»Das habe ich im Gefühl«, antwortete Andrea mit großer Bestimmtheit.
»Du denkst eben immer nur an die Liebe.« Hans-Joachim lachte so laut, dass die beiden Igel die Köpfe hoben und ihn vorwurfsvoll anblickten, ehe sie sich wieder ihrem Futter zuwandten.