»Oder sie werden zu gut ernährt und am Ende so fett und groß wie Stachelschweine«, prustete Hans-Joachim. »Deine romantische Fantasie geht sehr weit, Andrea.«
Selbst durch diesen Heiterkeitsausbruch ließen sich die Igel nicht vertreiben. Andrea eilte ins Gebäude, um dem Tierpfleger Bescheid zu sagen. Die beiden Igelchen schmatzten, bis kein Futter mehr auf dem Teller war, dann marschierten sie durch das Loch im Zaun wieder davon.
»Hier erlebt man immer etwas«, stellte Uwe mit glücklichem Gesicht fest. »Das Tierheim bei Tante Andrea ist das Allerschönste von ganz Sophienlust.«
Andrea strich über Uwes Haar. Ein größeres Kompliment hätte er ihr gar nicht machen können. »Dabei gehören wir, streng genommen, gar nicht zu Sophienlust. Aber die Kinder gehen gern und häufig bei uns aus und ein«, erklärte sie, an Beate Breuer gewandt. »Meine Mutter hält es für ebenso wichtig wie ich, dass bei den Kindern schon früh ein gutes Verhältnis zu Tieren gebildet wird. Versteht ein Kind sich mit Tieren, wird es auch mit anderen Kindern und später im Leben mit Erwachsenen auszukommen wissen. Tiere sind gute Freunde, aber auch strenge Lehrmeister. Sie lassen nicht alles durchgehen und verlangen Einfühlungsvermögen, Liebe und Ehrlichkeit.«
Beate ergriff unwillkürlich Andreas Hand. »Sie sprechen mir aus dem Herzen, Frau von Lehn. Es gefiel mir von Anfang an, dass es in Sophienlust ländlich zugeht und dass die Kinder Kontakt mit Tieren und mit der freien Natur haben. Aber das Tierheim ist etwas Besonderes. Sie erfüllen damit eine wichtige Aufgabe. Hoffentlich wird sie Ihnen niemals zur Last.«
Andrea schüttelte den Kopf. »Gewiss nicht, Frau Breuer. Unsere Mutter hat uns gelehrt, in Sophienlust mehr zu sehen, als nur ein einfaches Kinderheim, in dem kleine Menschen untergebracht werden, die der Mitwelt im Weg sind oder sich in Not befinden. Ich wäre nicht glücklich, wenn ich der Sendung, die Sophienlust für uns alle bedeutet, nicht stets verbunden bleiben könnte.«
Dr. von Lehn nickte seiner Frau zu. In seinen Augen stand ein warmes Licht. Von Spott war jetzt darin nichts mehr zu erblicken. Auch ihm, dem Schwiegersohn Denise von Schoeneckers, lag Sophienlust am Herzen. Er hatte schon oft dazu beigetragen, ein Kinderschicksal zu klären oder zu einem guten Ende zu führen. In ihm bewahrheitete sich, was Andrea soeben gesagt hatte: Er liebte die Tiere, und er liebte auch die Menschen.
Uwe nahm einen Grashalm und pfiff darauf. Heute hatte er Glück. Bambi, das Reh, ließ sich blicken, wenn es auch in einiger Entfernung sichernd verharrte und nicht zu den Menschen herankam.
So wurde der Nachmittag für Beate Breuer zu einem besonderen Erlebnis. Erst vor dem Abendessen nahm sie Abschied, bedankte sich und kehrte mit ihrem Jungen nach Sophienlust zurück. Ihr erster Weg führte sie in die riesige Küche, wo Magda mit zwei Mädchen schaltete und waltete. Sie bedankte sich für die Torte und berichtete, dass sie glücklicherweise bei Andrea von Lehn davon zu kosten bekommen habe.
Magda strahlte über das ganze, gutmütige Gesicht. Sie war nicht eitel, aber sie freute sich, wenn man ihre Küche lobte.
»Ich mache jetzt öfters einmal etwas für Andrea«, gestand sie im Bühnenflüsterton. »Weil sie doch so wenig Hilfe hat. Da bleibt zum Kuchenbacken meist keine Zeit.«
Beate ließ sich die Küche zeigen und erkundigte sich, wie Magda die täglich neue Aufgabe bewältigte, so viele hungrige Kindermäulchen zu stopfen.
Zum Essen gab es dann überbackenen Toast mit Schinken, Ananas und Käse, dazu zarten Salat, und als Nachtisch Magdas rote Grütze aus Himbeeren, Johannisbeeren und sauren Kirschen, die kaum weniger berühmt war als ihre Schokoladentorte.
Erst um die stille Stunde des Schlafengehens kam Uwe dazu, seine Mutter nach dem Vater zu fragen.
»Tante Isi hat gesagt, dass ich es mit dir besprechen soll, Mutti. Stimmt es, dass Vati gar nicht wiederkommt? Ama hat so etwas einmal behauptet – oder vielmehr, dass es besser wäre, wenn er fortbliebe.«
Sie waren nun in dem freundlichen Zimmer, das Uwe bewohnte. Das ehemalige Gutshaus mit seinen zahlreichen Gästezimmern und Schlafräumen war für die Umgestaltung in ein Kinderheim geradezu ideal geeignet gewesen. Ohne allzu viel Aufwand waren moderne Zimmer entstanden. Duschen und Badegelegenheiten eingebaut worden. Es gab tiefe Wandschränke, in denen die Kleidungsstücke Platz fanden, und noch manches andere mehr.
An den Wänden hingen lustige Bildchen. Über Uwes Bett war auch ein Bild seiner Mutter angebracht, eine Fotografie, die sie selbst ihm auf seine Bitte hin geschickt hatte. Aus jeder Kleinigkeit hier sprachen die Liebe und das Verständnis, das man in Sophienlust den Kindern entgegenbrachte.
Eben beförderte Uwe sein T-Shirt mit gekonntem Schwung auf den Stuhl am Fenster was zwar nicht gerade von besonderer Ordnungsliebe zeugte, dafür aber von Uwes guter Stimmung. Und das war angesichts seiner Frage nach dem Vater wichtiger als Pedanterie.
»Er wird vielleicht nicht mehr heimkommen, Uwe«, antwortete Beate leise. »Ich glaube, Ama hat ganz recht. Jan meint es ebenfalls. Und ich?– ich möchte auch, dass er fortbleibt.«
»Dann …, dann hast du ihn nicht mehr lieb?«
Beate legte die Hände auf die bloßen Schultern des Jungen. »Nein, ich fürchte, ich habe ihn nicht mehr lieb.«
»Aber wenn man heiratet, muss man sich lieb haben, Mutti.«
»Ja, man müsste wohl. Ich habe mich geirrt. So etwas kommt leider vor. Es ist noch gar nicht lange her, dass ich es eingesehen habe. Zuerst dachte ich immer noch, dass ich ihn lieb habe.«
Uwe holte tief Luft. »Ich habe mich manchmal ein bisschen gefürchtet vor Vati«, gestand er scheu. »Mal hat er gelacht, dann wieder gab es Zank und Streit zwischen dir und ihm. Er war immer so laut. Und seine Geschenke passten nicht zu mir. Sie waren für ganz kleine Buben und nicht für einen Siebenjährigen. Ob er das nicht gewusst hat?«
»Du bist also nicht traurig, wenn er weggeht?«
»Nein, nicht sehr. Ich weiß von den anderen Kindern, dass man das Scheidung nennt. Ist es das, was du meinst, Mutti?«
»Ja, ich möchte, dass Vati und ich uns scheiden lassen. Dann ist er nicht mehr mein Mann. Das wäre leichter für mich.«
»Aber er bleibt mein Vati, nicht wahr? Das weiß ich auch von den anderen Kindern hier im Heim. Er wird mich vielleicht besuchen wollen oder mich einladen. Und wenn er dann eine andere Frau heiratet …« Uwe brach ab und schluckte. Er hatte so allerlei erfahren in Sophienlust.
»Wir werden das in aller Ruhe überlegen und besprechen, Uwe. Natürlich darfst du Vati sehen und besuchen, wenn du es wünschst. Aber wenn du es nicht willst, werden wir einen anderen Weg finden.«
Ratlos schlug der Junge die Augen zu seiner Mutter auf. Wieder einmal sah er ernst und traurig aus, und die lustigen Sommersprossen wirkten richtig fehl am Platz in seinem intelligenten kleinen Bubengesicht.
»Aber ich weiß selbst nicht, was ich will! Ich finde, es ist schön, wenn man einen Vati hat. So wie Onkel Alexander von Schoenecker müsste mein Vati sein. Hoffentlich wird er auch einmal so wie er. Deshalb möchte ich ihn vielleicht doch wiedersehen, wenn das mit der Scheidung unbedingt nötig ist. Aber am schönsten fände ich es ohne Scheidung«, fügte er leise hinzu.
Beate schwieg und zog ihren Sohn fest an sich. Es widerstrebte ihr, Werner vor ihm anzuschwärzen. Was verstand Uwe mit seinen sieben Jahren denn von ehelicher Treue und Geld? Wie sollte sie ihm erklären, dass es seinem Vater nur um ihr Vermögen gegangen war?
»Muss ich für immer in Sophienlust bleiben, wenn wir geschieden sind?«, fragte Uwe schließlich.
»Nein, Uwe. Ich hoffe, dass ich dich zurück auf den Heidehof holen kann. Spätestens dann, wenn du in die höhere Schule kommst. Bis dahin bist du groß genug, um mit dem Fahrrad in die Kreisstadt fahren zu können. Das sind noch gut zwei Jahre. Wir müssen tapfer sein und durchhalten. Ich werde dich möglichst oft besuchen.«
Uwe seufzte auf, obwohl er sich dagegen zu wehren