»Kannst du nicht wenigstens bis zum Montag bleiben?«, bettelte Uwe mit unglücklicher Miene.
»Nein, ich darf unseren guten Jan nicht mit der gesamten Arbeit im Stich lassen. Er verlässt sich darauf, dass ich am Montagfrüh das Federvieh versorge und mich um die Milch kümmere. Wir haben zu wenig Angestellte. Das weißt du ja.«
»Weil Angestellte Lohn bekommen und wir nicht genügend Geld haben?«
»Ja, deshalb, Uwe. Ich will dir nichts vorschwindeln. Wir müssen sehr sparen.«
Uwe schickte sich in das, was von ihm gefordert wurde. »Na, dann musst du eben morgen Mittag abfahren, Mutti.« Er reckte sich auf. »Wenn ich groß bin, helfe ich dir. Warum hat Vati dir eigentlich nie geholfen?«
»Er hat einen anderen Beruf. Er ist Kaufmann. Die Landwirtschaft liegt ihm nicht.«
»Das ist alles ziemlich schwer zu verstehen. Bei Tante Isi, Onkel Alexander, Nick, Henrik, Andrea und Sascha stimmt alles. Jeder hat den richtigen Beruf, und es gibt keinen Ärger. Warum ist das nur bei uns nicht so?«
»Dafür gibt es keine Erklärung, mein Liebling. Man muss sein Schicksal so hinnehmen, wie es kommt. Ich hoffe zuversichtlich, dass du eines Tages mit fröhlichem Herzen zu mir auf den Heidehof zurückkommen und es später nicht so schwer haben wirst wie ich.«
Uwe presste die Lippen fest zusammen. Er konnte nicht sprechen, weil er sonst geweint hätte. Aber er wollte nicht weinen, denn eine Stimme in seiner kleinen Brust flüsterte ihm zu, dass er seiner Mutter mit Tapferkeit am besten helfen konnte.
Eine gute Stunde später saß Beate Breuer auf Gut Schoeneich mit der Familie von Schoenecker beisammen und hatte Gelegenheit, auch Alexander kennenzulernen, den Gutsherrn von Schoeneich, der für ihren Jungen zum väterlichen Vorbild geworden war. Auch Frau Rennert saß mit im Kreis. Die tüchtige Heimleiterin hatte in Sophienlust eine neue, wichtige Lebensaufgabe gefunden und fühlte sich Denise und deren Familie durch Dankbarkeit und warme Freundschaft verbunden.
Nur Schwester Regine, die Kinderpflegerin, war in Sophienlust geblieben, um den Schlaf der kleinen Heiminsassen zu überwachen, während die großen Kinder noch lasen oder spielten, bis sie gegen halb zehn Uhr ebenfalls zu Bett gingen.
Beate Breuer verbrachte die Nacht in einem Fremdenzimmer in Schoeneich. Von ihrem geöffneten Fenster aus konnte sie das Herrenhaus von Sophienlust liegen sehen, als sie schlafen ging. Mit wehmütigem Lächeln dachte sie an ihren tapferen kleinen Jungen. In dieser bitter schweren Zeit war er zum echten Kameraden für uns geworden. Deshalb würde ihr der Abschied von ihm zugleich schwer und leicht werden. Sie würde ihn vermissen, aber sie konnte darauf zählen, dass er zu ihr hielt und sie verstand.
Hatte es zuvor manchmal ein Schwanken in ihrem Herzen gegeben, jetzt war Beate endgültig entschlossen, sich scheiden zu lassen. »Wenn wir geschieden sind«, wiederholte sie Uwes Worte, und jetzt lächelte sie sogar darüber.
*
Dr. Gert Rhode ließ seinen Wagen ausrollen. Das weiße Schild, auf dem zu lesen stand, dass sich hier die Praxis des Tierarztes Dr. Hans-Joachim von Lehn befand, war nicht zu übersehen.
»Wir sind da, Gunni. Dort wohnen sie.«
»Freuen sie sich, dass wir sie besuchen kommen, Vati?«, fragte das vierjährige kleine Ding mit hellem Stimmchen.
»Hoffentlich, Gunni. Jedenfalls haben sie uns sehr lieb für diese ganze Woche eingeladen. Ich habe doch Urlaub.«
»Und Doktor Hasenkamp wird dich vertreten, damit alles versorgt ist, solange wir nicht da sind«, erklärte Gunni ernsthaft. »Es geht natürlich nicht, dass Leute mit kranken Tieren bei uns anrufen oder in die Praxis kommen, ohne dass sie jemand antreffen.«
»Nein, das geht nicht, Fräulein Schlaumeier. Auch ein Tierdoktor muss dafür sorgen, dass jederzeit Hilfe für kranke Tiere vorhanden ist.«
»Natürlich«, bestätigte Gunni mit wichtiger Miene. »Tieren tut es nämlich auch weh, wenn sie krank sind. Sie können nicht eine ganze Woche warten, bis du wiederkommst.«
Im Hause war nun bemerkt worden, dass die erwarteten Gäste eingetroffen waren. Seite an Seite kamen Hans-Joachim von Lehn und seine Frau herausgelaufen. Ihnen folgte die Dackelfamilie und in würdevoller Entfernung auch die schwarze Dogge.
»Willkommen, Gert. Fein, dass ihr pünktlich seid. Das ist also die Gunni.«
Andrea schüttelte dem Studienfreund ihres Mannes herzlich die Hand. Gert Rhode und Hans-Joachim von Lehn hatten gemeinsam an einer Tierklinik volontiert. Damals war eine herzliche Freundschaft zwischen den beiden entstanden, die sich auch auf Andrea und Gerts reizende Frau ausgedehnt hatte. Sie hatten sich immer blendend verstanden, und so war der unerwartete Tod von Gladys Rhode vor einem guten Jahr für das Ehepaar von Lehn fast genauso erschütternd gewesen wie für die kleine Familie.
Es war ein Unfall gewesen, und Gert Rhode hatte nie mehr darüber gesprochen. Er hatte sich wie ein Besessener in seine tierärztliche Arbeit gestürzt und die Praxis vergrößert, ohne recht zu bemerken, dass er darüber seine geliebte kleine Gunni ein wenig vernachlässigte. Gewiss, rein äußerlich fehlte es dem Kind an nichts. Der Haushalt wurde von einer tüchtigen Wirtschafterin geführt. Außerdem kam täglich ein nettes junges Mädchen, das mit Gunni spazieren ging und mit ihr spielte. Noch hatte sich der verwitwete Tierarzt nicht entschließen können, das kleine Ding in einen Kindergarten zu schicken, obwohl Gunni auf diese Weise etwas isoliert aufwuchs.
»Kennst du mich denn?«, fragte Gunni und reichte Andrea zutraulich das Händchen.
»Aber ja, ich habe dich schon einmal gesehen. Damals warst du noch viel kleiner. Wahrscheinlich erinnerst du dich nicht daran. Willst du Tante Andrea zu mir sagen?«
»Hm, stimmt es, dass du einen kleinen Jungen hast?«
Andrea lächelte. »Ja, Gunni, das stimmt. Er ist ein Jahr alt und kann schon ein bisschen laufen. Aber so ganz sicher ist er noch nicht auf seinen zwei Beinchen. Du kannst mit ihm spielen, wenn du Lust hast.«
»Natürlich habe ich Lust. Ich mag kleine Kinder.«
Natürlich war Gunnis Lieblingswort. Es klang sehr lustig, wenn sie es so ernsthaft aussprach wie eben.
»Magst du auch Kuchen und Kakao?«
»Ja, mag ich auch. Gibt es heute Kuchen, weil wir zu Besuch gekommen sind?«
»Ja, ich denke schon. Der Tisch ist gedeckt, und wir beide wollen einmal nachschauen, ob in der Küche Kuchen zu finden ist.«
»Natürlich ist welcher da. Sonst würdest du es doch nicht erst gesagt haben.«
Andrea ergriff fröhlich die kleine Hand. Welch ein Jammer, dass Gunni keine Mutter mehr hatte. War es nicht erst gestern gewesen, dass Gladys Rhode hier mit ihnen auf der Veranda gesessen und gelacht hatte? Aber nein, es war etwa zwei Jahre her. Schon seit mehr als einem Jahr schlummerte die arme Gladys nun schon unter dem Rasen. Nicht zu begreifen war das, und doch war es die bittere Wahrheit.
Die beiden Männer schüttelten sich kräftig und herzlich die Hände. »Ich freue mich, dass du es endlich einmal einrichten konntest, dich für eine ganze Woche freizumachen, Gert. Hier werde ich auch ein bisschen kürzertreten, während du da bist. Ich habe bereits einen Kollegen gebeten, einige Fälle für mich zu übernehmen.«
»Das ist nett von dir. So werden wir Zeit finden, spazieren zu gehen und von den guten alten Zeiten zu sprechen. Allerdings helfe ich dir auch gern einmal in der Sprechstunde. Man will ja nicht einrosten oder aus der Übung kommen.«
»Du sollst dich ausruhen und erholen. Im Urlaub darf man nicht arbeiten. Wie geht es dir so im Allgemeinen?«
Gert Rhode hob die Schultern. »Gesundheitlich gut, aber im Übrigen macht mir das Leben keinen Spaß mehr. Ich kann mich nicht daran gewöhnen, allein zu sein. Alles habe ich mit Gladys gemeinsam getan. Und plötzlich ist