Henrik liebte seine Eltern und war stolz auf sie. Leider konnte er jedoch darüber mit einem Buben wie Uwe nicht reden. Er wusste von Nick, seinem älteren Bruder, dass irgendetwas in der Ehe der Eltern Breuer nicht stimmte. Genaueres hatte er nicht erfahren, aber er kannte sich in diesen Dingen ganz gut aus. Die meisten Kinder in Sophienlust waren entweder Waisen, oder es herrschten Schwierigkeiten zu Hause bei ihnen. Natürlich gab es auch Ausnahmen, wie zum Beispiel bei Irmela, die in Deutschland das Abitur machen wollte, während ihre Eltern in Indien lebten, wo ihr Vater Arzt war.
Andrea begleitete die beiden Jungen bis zum Einfahrtstor des Lehnschen Grundstücks. Ihr Mann, Dr. Hans-Joachim von Lehn, hatte die ausgedehnte tierärztliche Praxis von seinem Vater übernommen. Wohnhaus und Praxis befanden sich im gleichen Gebäude. Auf dem Grundstück gab es außerdem das Tierheim Waldi & Co. mit dem dazugehörigen Freigehege sowie einen herrlichen Garten. Dem Tierheim war eine kleine Wohnung für den ehemaligen Zirkusangehörigen Helmut Koster angefügt, der die Tiere sachkundig und liebevoll betreute.
»Wiedersehen, Andrea«, rief Henrik fröhlich. »Bleib zurück, Waldi, wir können dich nicht mitnehmen«, schalt er den Dackel Waldi, Chef und Namenspatron des Tierheims, der kläffend hinter den Fahrrädern herraste, während sich seine Familie ausnahmsweise zurückhielt. Für gewöhnlich befand sich die Dackeline Hexe samt den jungen Dackeln Pucki und Purzel ständig im Gefolge des Familienoberhauptes. Auch die riesige schwarze Dogge Severin, Andreas treuer Begleiter, war zu würdevoll, um hinter den Rädern dreinzubellen. Severin hielt sich dicht an Andreas Seite und leckte sich mit der mächtigen Zunge die Nase.
Langsam kehrte Andrea ins Haus zurück, um nach ihrem Söhnchen Peterle zu sehen, das unter der Obhut einer netten Frau aus Bachenau eifrig mit einigen Stofftieren spielte.
Indessen radelten Henrik und Uwe heimwärts. Wie gewöhnlich sprach Uwe kein Wort. Henrik fand das ausgesprochen langweilig. »Kennst du eigentlich inzwischen die Geschichte von Sophienlust?«, fragte er aufs Geratewohl.
»Nein, nicht richtig, Henrik.«
»Soll ich sie dir erzählen?«, erbot sich Henrik.
»Hm, wenn du Lust hast.« Sonderlich groß war Uwes Interesse nicht. Aber daran hatte sich Henrik im Laufe der Zeit schon gewöhnt. Uwe war nun einmal so.
»Früher hat Sophienlust Nicks Urgroßmutter gehört. Sie ist nur seine Urgroßmutter, aber nicht meine oder die von Andrea und Sascha, weil wir eine verwickelte Familie sind.«
»Eine verwickelte Familie? Was ist das?« Uwe warf dem Freund einen kurzen Blick zu.
»Na ja – es ist schon alles in Ordnung und sehr prima bei uns. Nicht das, was du jetzt vielleicht denkst! Vati war früher schon einmal verheiratet, aber seine erste Frau ist gestorben. Sascha und Andrea kommen aus dieser Ehe. Mutti war auch schon einmal verheiratet. Nicks Vati hieß Dietmar von Wellentin, und Nicks Urgroßmutter war Sophie von Wellentin.«
»Hm, das ist wirklich etwas verwickelt. Wohin gehörst du denn?«
Henrik war entzückt, dass Uwe ihm so viel Aufmerksamkeit schenkte. Es war sonst gar nicht so leicht, ihn für eine Sache zu erwärmen.
»Ganz einfach, Uwe. Meine Mutti kam mit Nick, der damals erst fünf Jahre alt war, nach Sophienlust. Sophie von Wellentin hatte nämlich ein Testament gemacht und ihren gesamten Besitz Nick vermacht. Vorher waren Mutti und Nick ziemlich arm gewesen, glaube ich. Dann aber waren sie plötzlich ganz reiche Leute. Sophienlust war früher ein Gutshaus. Aber Nicks Urgroßmutter hat bestimmt, dass daraus ein Kinderheim werden solle. Das hat meine Mutti auch gleich in Angriff genommen. Dann hatte sie Vati getroffen, der genauso allein war wie sie. Die beiden wussten gleich, dass sie einander lieb haben. Deshalb haben sie auch geheiratet. Und dann bin ich angekommen. Du verstehst jetzt, wieso wir eine etwas verwickelte Familie sind? Sascha und Andrea sind richtig Bruder und Schwester, aber ihre Mutti ist tot. Nicks Vater ist auch tot. Nur mein Vati und meine Mutti leben noch. Aber wir machen da keinen Unterschied. Mutti ist für alle großen und kleinen Kinder die Mutter, und Vati ist zugleich Nicks Vater. Wenn man einander lieb hat, ist das ganz einfach.«
Uwe seufzte. »Hm, wenn man einander lieb hat. Nick ist ein Glückspilz. Ich wünschte, ich hätte auch so eine Urgroßmutter wie er.«
Henrik erschrak. Er bekam nun Gewissensbisse, denn er hatte Uwe aufheitern wollen. Das schien ihm nicht gelungen zu sein.
Nachdenklich fuhr Uwe fort:
»Es gefällt mir, dass das Haus der glücklichen Kinder einem Jungen gehört.«
»Wenn Nick erwachsen ist, wird er Sophienlust natürlich übernehmen. Aber es dauert noch lange. Er geht jetzt ins Gymnasium und braucht noch ein Weilchen bis zum Abitur. Dann muss er studieren. Deshalb macht unsere Mutti zunächst alles.«
»Meine Mutti ist auch sehr lieb. Sie muss viel arbeiten.«
»Auf eurem Gut?«
»Hm, es ist nämlich kein Geld mehr da. Warum, das weiß ich nicht genau.«
»Blöd, dass die Erwachsenen immer Sorgen mit dem Geld haben. Wenn es nach mir ginge, dürfte es überhaupt kein Geld auf der Welt geben. Man kann doch alles selber machen, was man braucht.«
»Alles?«, zweifelte Uwe, der einen scharfen Verstand besaß. »Könntest du zum Beispiel so ein Fahrrad bauen?«
»Na ja, eben fast alles. Außerdem könnte man auch noch tauschen.«
Uwe versank in Nachdenken. Er sagte nichts mehr. Auch Henrik schwieg, denn bei näherer Überlegung leuchtete ihm ein, dass man ganz ohne Geld nicht auskommen konnte auf dieser schönen Welt.
Nun tauchte das ehemalige Herrenhaus von Sophienlust zwischen den alten Bäumen auf. Die beiden hatten ihr Ziel erreicht.
Nick, der eigentlich auf den wohllautenden Namen Dominik getauft worden war, kam eben mit einer Gruppe von Kindern auf Ponys von einem Ausritt zurück. An seiner Seite trabte die blonde Irmela, die ausgezeichnet zu reiten verstand und ebenso wie Nick schon manchen Jugendpreis nach Sophienlust geholt hatte.
»Na, wo habt ihr gesteckt?«, fragte Nick fröhlich.
»Bei Andrea. Es gab Apfelkuchen, ätsch«, verkündete Henrik laut, während Uwe schwieg.
»Wir haben in der Försterei Saft und Plätzchen bekommen. Plustere dich bloß nicht auf«, sagte Pünktchen lachend. Sie hatte genauso lustige Sommersprossen im Gesicht wie Uwe. Aber im Gegensatz zu dem Jungen war sie wirklich so fröhlich, wie die braunen Punkte auf ihrer Nase es geradezu verlangten. Sie hieß eigentlich Angelina Dommin und war vor vielen Jahren als verwahrlostes kleines Ding von Nick nach Sophienlust gebracht worden.
»Apfelkuchen und Kakao ist aber besser als bloß Saft und Plätzchen«, behauptete Henrik hochnäsig.
»Streiten wir uns nicht. Wir haben einen schönen Ritt hinter uns«, bemühte sich Irmela die Wogen zu glätten. »Wir sind beim Märchenwald gewesen und haben die Namensbäumchen bewundert, Uwe.«
Uwe gab auch jetzt keine Antwort. Es war wirklich nicht leicht, sich mit diesem stillen Jungen zu unterhalten. Dabei war die Sache mit dem Namensbäumchen im Märchenwald durchaus etwas Besonderes. Es handelte sich dabei um eine Schonung, die an der Stelle angelegt worden war, an der vor längerer Zeit ein Waldbrand gewütet hatte. Im Anschluss daran war eine schöne Sitte entstanden, für jedes Kind, das einmal Aufnahme in Sophienlust gefunden hatte, ein Bäumchen zu pflanzen. Ein Schild mit dem Namen des Kindes musste an dem jeweiligen Stämmchen befestigt werden, sodass im kleinen Märchenwald kein