Schwarzes Glas - Die Reise in die Zwischenwelt. Hendrik Lambertus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hendrik Lambertus
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783764192693
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halb damit, dass auf dem Bahnsteig schon ein gehörntes Ungeheuer auf ihn wartete. Auf dem Weg von der U-Bahn-Station nach Hause schaute er sich mehrmals nervös um, ob irgendwo ein grauer Flügelschatten über die Dächer glitt. Nichts. Die Welt schien plötzlich wieder normal zu sein. Und doch hatte Elias noch immer weiche Knie, als er schließlich die Wohnungstür hinter sich schloss.

      Der Flur lag im Halbdunkeln, zugestellt von den Umzugskartons, in denen sein Vater die Sachen für seinen Auszug sammelte. Im Wohnzimmer brannte Licht. Plötzlich stieg wieder Panik in Elias auf. War das vielleicht eine von diesen Gruselgeschichten, in denen das Grauen zu Hause auf einen wartete? Würde gleich das gehörnte Monster aus der U-Bahn am Esstisch sitzen und ihn breit angrinsen?

      Elias schluckte und öffnete die Tür. Im Wohnzimmer saß kein Monster, sondern seine Mutter. Doch das war fast noch schlimmer, denn er kannte diesen speziellen Blick, mit dem sie ihn sofort bedachte. Es war nicht der übliche »Ich bin sauer«-Blick. Sondern die weitaus bedrückendere Variante »Ich bin sehr enttäuscht von dir«.

      Das sagten jedenfalls Mamas Augen, als sie von ihrem Tablet aufschaute und ihn ansah. Ihr Mund hingegen sagte: »Elias! Gott sei Dank kommst du endlich nach Hause. Wo warst du bloß so lange?«

      Unwillkürlich schaute Elias zu der alten Uhr von Oma Sabine, die über dem Sofa hing. Es war schon nach neun?! Er war doch gar nicht so lange unterwegs gewesen …

      »Ich … ich muss irgendwie die Zeit vergessen haben«, stammelte er verwirrt.

      »Warum hast du nicht wenigstens angerufen?«, fragte Mama. Sie sah noch ein wenig grauer aus als sonst. Eine zierliche, zerbrechliche Gestalt mit blondierten Strähnen im Haar, inzwischen eine Handbreite kleiner als Elias. »Ich habe versucht, dich zu erreichen«, fuhr sie fort, »aber bei deinem Handy ging nicht einmal die Mailbox ran.«

      »Echt?« Überrascht zog er sein Gerät aus der Tasche. Es war angestellt und empfangsbereit, der Akku noch halb voll. Hatte sein Handy im U-Bahn-Labyrinth nicht funktioniert, weil dieser Ort tief unter der Erde lag – oder auf unnatürliche Weise noch viel weiter weg? Und war er womöglich weitaus länger durch die Gänge geirrt, als ihm bewusst war?

      »Sorry, wird nicht wieder vorkommen«, murmelte er hilflos, weil er keine Ahnung hatte, wie er das Ganze erklären sollte.

      Seine Mutter legte das Tablet beiseite und stand auf. Sie umrundete den Couchtisch, bis sie direkt vor ihm stand. »Elias«, sagte sie leise. »Ich weiß, das ist gerade alles ein bisschen viel für dich … Aber wir müssen uns aufeinander verlassen können! Ich mache mir Sorgen, wenn du abends so lange wegbleibst …« Sanft wuschelte sie ihm durchs Haar, wie sie es schon früher immer gemacht hatte – nur, dass sie jetzt den Arm dafür ausstrecken musste. »Wir sind doch ein Team, oder nicht?«

      Elias zog den Kopf weg. Die Geste war etwas harscher, als er beabsichtigt hatte. Doch jetzt gab es kein Zurück. Er spürte, wie Ärger in ihm aufstieg. Das mit dem Team hatte sie früher schon gesagt – aber da hatte sein Vater noch dazugehört.

      »Ich kann auf mich aufpassen, Mama«, erwiderte er trotzig. »Ich bin kein kleiner Junge mehr!« Auch das kam ruppiger rüber, als er gewollt hatte – und leider auch kindischer.

      Seine Mutter zog ihren Arm zurück. »Wenn du kein kleiner Junge mehr bist, dann benimm dich auch so«, seufzte sie. »Und ruf an, wenn es bei dir später wird!«

      Irgendwie hatte sie recht, was die Angelegenheit noch ärgerlicher machte. Aber wie hätte er bitte schön anrufen sollen, wenn er gerade von einem gehörnten Monstrum durch ein Labyrinth gejagt wurde?

      »Das verstehst du nicht«, erwiderte er deshalb entnervt.

      »Dann erklär es mir doch.« Seine Mutter konnte so furchtbar vernünftig sein. Seine Erlebnisse erklären. Ja, klar. Als wenn er das gekonnt hätte!

      Elias winkte ab. Seine Mutter setzte dazu an, noch etwas zu sagen – da hörte er den Schlüssel im Schloss der Wohnungstür. Papa kam nach Hause. Falls man das denn so nennen konnte, wenn man nur noch für wenige Wochen irgendwo wohnte. In letzter Zeit arbeitete er immer lange – oder war bei »ihr«, wie Mama es bezeichnete. Sofort verspannte sie sich.

      »Ich bin dann mal weg«, brummte Elias, der keinerlei Lust hatte, den nächsten Akt der Streitereien seiner Eltern mitzubekommen. Er lief in die Richtung seines Zimmers. Auf dem Flur entschied er sich um, murmelte Papa einen Gruß zu, den er selber nicht verstand, und schlüpfte durch die Küche raus auf den Balkon. Er brauchte jetzt frische Luft. Seufzend ließ er sich auf einen Gartenstuhl aus Plastik fallen.

      An der Wand hinter ihm hing das Wagenrad, das sein Vater mal aufgehängt hatte, damit der Balkon wie die Terrasse eines alten Gutshofs aussah. Es hatte nicht viel genutzt, und hier erinnerte gar nichts an einen alten Gutshof. Elias starrte in den Abend hinaus. Ringsum schimmerten die Lichter von Gebäuden, die genauso aussahen wie das Haus, in dem er aufgewachsen war: Mehrfamilienhäuser mit vier Stockwerken und flachen Satteldächern. Früher waren sie spinatgrün gestrichen gewesen. Dann hatte man das alles renoviert, und seitdem erstrahlten sie bonbonfarben in Zartrosa und Zitronenfaltergelb. Elias schaute lieber auf die schwarzen Baumwipfel der Grünanlangen ringsum. Der Ärger in seinem Bauch verschwand langsam und machte einem seltsamen Nicht-Gefühl Platz. Kalt und leer war es in ihm, während die gedämpften Stimmen seiner Eltern durch die Balkontür nach draußen drangen.

      Als er schließlich einen grauen, geflügelten Schatten durch die Bäume huschen sah, zuckte er nur leicht zusammen. Die Welt war ein absurder Ort, an dem man sich auf nichts verlassen konnte. Was machten da schon Flügelschatten und gehörnte U-Bahn-Monster aus?

      »Elias!« Shaka lief hinter ihm her, als er am nächsten Tag nach dem Unterricht aus der Schule schlurfte. »Ey, nun wart doch mal!«

      Seufzend wurde Elias langsamer.

      Seine miese Laune hatte sich seit gestern Abend gehalten. Elias hatte furchtbar schlecht geschlafen und von endlosen Labyrinthen voller Ungeheuer geträumt. Vom Unterricht hatte er kaum etwas mitbekommen, in den Pausen Shaka gemieden und ihre Kurznachrichten einsilbig beantwortet. Denn er hatte keine Ahnung, wie er ihr von dem Gehörnten erzählen sollte. Ein Haus zu sehen, das es gar nicht gab, war eine Sache – ein leibhaftiges Monster etwas völlig anderes.

      »So«, sagte Shaka, nachdem sie zu ihm aufgeschlossen hatte. »Und jetzt verrätst du mir, was los ist!«

      »Was soll schon sein?«, knurrte Elias. »Die ganzen komischen Sachen in letzter Zeit stressen mich halt.«

      »Du meinst die In-Between-App und das Haus? Nachvollziehbar.«

      »Mrrm«, erwiderte er unbestimmt.

      »Aber da ist noch mehr, oder?«, bohrte Shaka nach. »Gestern hast du mich auf dieses Dach gezerrt – und heute willst du nicht mal mehr darüber sprechen? Du hast doch was.«

      Elias seufzte. Shakas Scharfsinn wurde nur von ihrer Dickköpfigkeit übertroffen. »Es ist ziemlich schwer zu erklären«, rückte er unwillig heraus. Shaka warf unternehmungslustig ihren schwarzen Zopf zurück.

      »Okay, wir machen Folgendes«, sagte sie. »Wir fahren rüber ins Ulmen-Center und holen uns einen Milchshake. Das ist gut für deine Seele. Und dann erklärst du mir das, was so schwer zu erklären ist. Das ist gut für dein Schienbein.«

      Sie hob angriffslustig eine Fußspitze. Elias musste gegen seinen Willen grinsen. »Na schön. Aber sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt!«

      Shaka erwiderte sein Grinsen. »Vor dir kann man gar nicht genug gewarnt werden …«

      Die beiden nahmen die Straßenbahn, die in dieser Gegend glücklicherweise oberirdisch fuhr. Elias hatte keinerlei Lust auf weitere Begegnungen in U-Bahn-Stationen. Das Ulmen-Center lag einige Stationen entfernt, nahe dem Wohngebiet, in dem die Familie Thapar ihr Reihenhäuschen hatte. Wenn Elias Shaka besuchte, dann hingen sie oft irgendwo in diesem Einkaufszentrum ab.

      Hier war alles hell gekachelt und grell ausgeleuchtet. Zahllose Menschen eilten auf drei Ebenen an Boutiquen und Schuhgeschäften vorbei, drängten sich auf den Rolltreppen und quetschten sich an winzige Café-Tischchen, während im Hintergrund