Schwarzes Glas - Die Reise in die Zwischenwelt. Hendrik Lambertus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hendrik Lambertus
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783764192693
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Er hing einfach nur da, als wollte er Elias durch seine bloße Anwesenheit verhöhnen.

      »Okay … Ganz ruhig bleiben«, murmelte er zu sich selbst. Es gab eine Erklärung für das alles. Irgendwo musste die Treppe sein, auf der er eben noch hier heruntergekommen war. Wenn er reingekommen war, gab es auch einen Ausweg. Er konnte sich wohl kaum in einer U-Bahn-Station verlaufen! War er vielleicht in irgendwelche Wartungsgänge für Bahn-Arbeiter geraten?

      Vorsichtig schaute er in den linken Gang. Er schien lange geradeaus zu führen und in der Ferne in eine weitere Abzweigung zu münden. Rotgrüne Streifen zierten seine Wände. Kopfschüttelnd wandte er sich dem Mittelgang zu. Schon nach einigen Metern stieß dieser auf eine Treppe nach unten. Hier war die Streifenfarbe blau. Als er sich gerade den rechten Gang anschauen wollte, hörte er ein Geräusch. Schwere Schritte näherten sich ihm, mächtig und zielstrebig. Ein behäbiges KA-LONK, KA-LONK, KA-LONK, das weit durch die Gänge hallte. Es kam von vorne, wo der Gang nach einigen Metern eine Biegung beschrieb.

      Elias hatte den Drang, einfach abzuhauen. Er zwang sich, trotzdem stehen zu bleiben. Vielleicht näherte sich da gerade ein Bahn-Mitarbeiter, der ihm hier heraushelfen konnte. Es ergab keinen Sinn, einfach blindlings durch die Gegend zu stürmen. Also wartete er. Die Schritte kamen näher und näher. KA-LONK, KA-LONK, KA-LONK. Ein Schatten fiel ins grelle Licht. Die Person musste jetzt unmittelbar hinter der Gangbiegung sein. Elias konnte einen massigen, breitschultrigen Umriss ausmachen. Einen Umriss mit einem Paar mächtiger Hörner am Kopf!

      Das war zu viel. Elias rannte los. Egal wohin, nur weg von diesem gehörnten Ungetüm! Er stürzte in den nächstbesten Gang und hetzte ihn entlang, bis er an eine Abzweigung kam. Hektisch warf er einen Blick über die Schulter. Eine große Gestalt schob sich hinter ihm um die Ecke. KA-LONK, KA-LONK, KA-LONK.

      Elias rannte weiter, bog willkürlich nach rechts ab, nahm am Rande einen pinkfarbenen Streifen wahr, stieß schließlich auf eine Rolltreppe nach unten, die leise vor sich hin brummte. Er zögerte kurz, dann hetzte er die Stufen hinab. Er konnte es sich nicht leisten, wählerisch mit seinem Weg zu sein. Elias rannte weiter, vorbei an Abzweigungen und Kreuzungen. Blaue Streifen, pinke Streifen, gelb-braune Streifen. Hin und wieder mal ein Plakat mit einem neonblauen Bogen. Und Gänge, noch mehr Gänge, zuweilen auch Rolltreppen. Das absurde Gangsystem schien unvorstellbar groß zu sein.

      Schließlich blieb er erschöpft stehen, direkt an einer Dreier-Abzweigung. Nach einigen gehechelten Atemzügen lauschte er ängstlich auf seine Umgebung. Es waren keine Schritte zu hören. Offenbar hatte er den Gehörnten abgehängt.

      »Und was jetzt?«, fragte er sich leise, während seine Knie immer noch zitterten. Natürlich hatte er nicht darauf geachtet, wohin er gerannt war. Der Ort, an dem er hereingekommen war, lag viele Gänge und Treppen hinter ihm. Überall sah es gleich aus, wenn man einmal von dem Durcheinander der Streifenmuster absah. Er war gefangen.

      »Geh systematisch vor, du Trottel!«, schoss es ihm durch den Kopf. Das hätte Shaka jetzt zu ihm gesagt. Und sie hätte recht damit. Elias griff in seinen Rucksack und kramte einen Filzstift heraus. Rasch malte er ein Kreuz auf eine Kachel an der rechten Gangmündung. Er würde einfach nacheinander alle Wege abarbeiten und dort Zeichen setzen, wo er schon gewesen war. Dann würde früher oder später schließlich der Ausweg übrig bleiben. Er hatte das Kreuz noch nicht zu Ende gemalt, als schwere Schritte durch den Gang hallten. Sehr laut. Sehr nah. KA-LONK, KA-LONK, KA-LONK.

      Und der hünenhafte Körper des Gehörnten schob sich aus einer Gangöffnung direkt neben ihm. Er überragte Elias um drei Köpfe, war größer als jeder erwachsene Mann, den er kannte – und dabei so breit, dass er den Gang fast ganz ausfüllte. Bekleidet war er mit einem abgewetzten Blaumann, auf den ein Namensschild genäht war: M. Taurus. Verschiedene Werkzeuge und ein dicker Schlüsselbund blitzten an seinem Gürtel. Seine nackten, muskelbepackten Arme wurden von schwarzem Fell bedeckt, sein Kopf sah aus wie das Haupt eines Stiers mit stolz geschwungenen Hörnern und großen, trüben Augen. Ein dicker Goldring zierte seine Nase.

      Der Stiermann stieß ein wütendes Schnauben aus und hob drohend seine Faust. Elias ließ den Filzstift mitten in der Bewegung fallen und rannte. Er stürmte in den Gang hinein, den er gerade markiert hatte, bog an der nächsten Kreuzung scharf ab, folgte einem weiteren Gang. Die Schritte des Gehörnten hinter ihm wurden leiser. Schließlich erreichte er wieder eine Rolltreppe nach unten. Auf den Stufen erlaubte Elias sich, durchzuatmen.

      Entlang der Treppe waren viele kleine Rahmen mit Plakaten an der Wand befestigt. In der Stadt fand sich dort meist Werbung für irgendwelche Musicals oder Restaurants, manchmal auch Fahrpläne oder Karten des U-Bahn-Netzes. Hier jedoch hing überall das gleiche Motiv: ein neonblauer Bogen auf schwarzem Grund. Das musste doch irgendeinen Sinn haben!

      Er zog spontan sein Handy aus der Tasche. Mit einigen raschen Klicks öffnete er die »In-Between«-App und schaute angespannt auf das Display. Die Umgebung hatte sich nicht verändert. Aber die Plakate sahen plötzlich anders aus. Er richtete sein Handy auf eines von ihnen. Vor dem Hintergrund des neonblauen Torbogens zogen sich nun mehrere Zeilen mit Schrift über seine Fläche:

      »Verbotener Park – Grüne Linie

      Gesichtslose Gassen – Gelb-rote Linie

      Vier-Winde-Haus – Blaue Linie

      Schwarzer Spiegelturm – Schwarze Linie

      U-Bahn, Festwelt – Grün-blaue Linie«

      Es folgten noch einige Zeilen, aber Elias las nicht weiter. Zur U-Bahn, mehr wollte er ja gar nicht. Er rannte wieder los. Nach einigen Metern stieß er auf eine Abzweigung. Der Gang links wurde von einem grünen Streifen verziert, rechts war der Streifen rot-gelb. Keine Spur von Grün-blau. Mist! Egal. Elias folgte aus dem Bauch heraus dem rechten Gang und lief weiter. Schon bald traf er auf eine Kreuzung. Rechts ein gelber Streifen, mittig Rot-gelb, links Grün-blau. Na also! Hier bog er ein.

      Dann kam eine weitere Dreier-Abzweigung. Die grün-blaue Markierung führte geradeaus. Er folgte ihr. Rechts und links, wieder geradeaus, zweimal rechts … Stets gaben die grün-blauen Streifen einen der Wege vor. Elias hielt sich jedes Mal daran. Was hätte er anderes tun sollen?

      KA-LONK, KA-LONK, KA-LONK. Aus der Ferne stampften plötzlich wieder die Schritte des Gehörnten heran. Elias beeilte sich. Von vorne hörte er nun auch ein Geräusch. Es war ein Rumpeln und Rauschen, als würde irgendetwas Großes, Schweres ächzend durch die Gänge klappern. Rasch kam es näher. Panik stieg in Elias auf. War er nun zwischen zwei Ungeheuern eingekesselt? Dann wurde ihm bewusst, dass er dieses Rumpeln gut kannte. Er rannte umso schneller.

      Elias stolperte auf den Bahnsteig hinaus, als gerade quietschend die Linie 5 einfuhr. Seine Bahn. Eine Handvoll Leute standen herum und warteten. Die Türen öffneten sich klappernd. Fahrgäste stiegen aus, andere drängten hinein. Elias stürmte vor und warf sich in die Bahn.

      »He!«, beschwerte sich eine ältere Dame. »Immer mit der Ruhe, junger Mann!«

      Er murmelte atemlos eine Entschuldigung und quetschte sich tiefer in den Wagen. Um ihn herum standen die Fahrgäste dicht an dicht. Es roch nach Parfüm und nassen Mänteln. Ein Kind quengelte irgendwo. Für gewöhnlich fand Elias solche Fahrten stressig. Gerade war er einfach nur dankbar, nicht mehr in diesem Labyrinth festzustecken.

      Die Bahn fuhr los. Durch das Fenster warf Elias einen Blick zurück auf den sich leerenden Bahnsteig. Dort stand eine große, gehörnte Gestalt und schwenkte einen Gegenstand in ihrer behaarten Faust. Es war ein Filzstift. Dann fuhr die Bahn auch schon in den Tunnel ein und hinter dem Fenster war nur noch Schwärze zu sehen.

      Elias schaute sich verstohlen um. Alle anderen Fahrgäste starrten glasig vor sich hin oder tippten auf ihren Handys herum. Niemand sah so aus, als hätte er gerade ein Ungetüm auf dem Bahnsteig gesehen.

      Er schloss die Augen und atmete durch. Morgen würde er Shaka viel zu erzählen haben. Und mit sehr viel Glück würde sie ihm sogar das eine oder andere Wort davon glauben.

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