Codename Brooklyn.. Peter Pirker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Peter Pirker
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783702237578
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Lilian Herstein, deren Schüler Arthur Goldberg die Gewerkschaftsabteilung des OSS leitete. Goldberg selbst lernte er ebenfalls bei einer Gewerkschaftsveranstaltung kennen. Er befreundet sich mit dem deutschen Gewerkschaftsjuristen und Politikwissenschaftler Franz Neumann, der in der Forschungsabteilung des OSS die große Analyse des nationalsozialistischen Unstaats, Behemoth, verfasste. David Seiferheld, der die Geldmittel für das ERC organisierte und einer der engsten Berater von OSS-Chef Donovan wurde, sollte Loewenstein dann zum OSS holen. Das ist der soziale Hintergrund, der es Loewenstein ermöglichte, seine Ernsthaftigkeit gegen den Nationalsozialismus zu richten.

      Das Handwerk der geheimen Nachrichtensammlung und -analyse lernte Loewenstein nach seinem Eintritt in die Armee im November 1942. Eine Rekrutierung zum OSS lehnte er zunächst ab, weil er zuvor eine militärische Grundausbildung hätte absolvieren müssen. Stattdessen wurde er in das Camp Ritchie aufgenommen, ein geheimes Ausbildungszentrum in den Bergen Marylands, das der Historiker Florian Traussnig treffend als einen »Tummelplatz der exileuropäischen Intelligenz« bezeichnete, die hier zu nachrichtendienstlichen Schlüsselkräften für den Kampf gegen die Wehrmacht ausgebildet wurden.149 Diese Schulung umfasste nicht nur ein akribisches Studium des vorhandenen Wissens über die Struktur, Gliederung, Ausrüstung und die Monturen der deutschen Streitkräfte und eine Lehre der Methoden, dieses Wissen zu überprüfen, zu erweitern und zu vertiefen, sondern auch eine Ausbildung mit dem Ziel, Kriegsgefangene der Wehrmacht effizient zu befragen. Gleich nach entschlüsselten Feindnachrichten waren diese Verhöre die wertvollste Quelle der Informationsgewinnung. Aufgrund der Sprachkenntnisse waren Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich für diesen Job äußerst gefragt, sie machten etwa 13 Prozent der insgesamt 20.000 ›Ritchie Boys‹ aus.150 Sie erlernten ein großes Arsenal an psychologischen Strategien, um Kriegsgefangenen gezielt Informationen zu entlocken, sei es taktisches Wissen von unmittelbarem militärischem Nutzen an der Front, seien es wichtige Hinweise, die bei der Vorbereitung von Spezialeinsätzen hinter den feindlichen Linien hilfreich sein konnten, sei es, um NS-Gegner unter den Gefangenen zu identifizieren, die bereit wären, die Seiten zu wechseln. Letzteres wurde in Bari zu einer wichtigen Aufgabe Loewensteins. In seinem Personalakt ist eine Beschreibung persönlicher Eigenschaften enthalten, die ihn zu einem idealen Kandidaten für die operativen Aufgaben der Gewerkschaftsabteilung beim OSS machten: analytisches Denken, scharfer Verstand, absolute Verlässlichkeit und Verschwiegenheit, kombiniert mit einem ausgesprochen aktivistischen Naturell. Seiferheld eiste Loewenstein aus Camp Ritchie heraus. Auf Mitarbeiter wie ihn konnte das OSS nicht verzichten. 750 Männer hatte die Gewerkschaftsabteilung bis Jänner 1944 für Aufnahmeinterviews ausgewählt, aber nur 55 genommen – 130 Agenten für Einsätze in Europa waren das Ziel.151

      Als Loewenstein in Bari ankam, erfuhr er, dass die acht oder neun Agenten, die er auf Einsätze vorbereiten sollte, noch in Algier warteten und ihr Kommandant Schwierigkeiten mit ihnen hatte. Er flog hin, sammelte sie ein und transferierte sie nach Bari, wo er für sie am Stadtrand die Villa Suppa mietete, ein größeres Landhaus in einem umzäunten Park. Die Gruppe bestand aus einigen Jugoslawen, Deutschen und Österreichern. Zu seiner Überraschung war ein Mann dabei, den er aus Frankreich kannte: Walter Haass, Sohn des deutschen Gewerkschafters und Antifaschisten Nikolas Haass. Walter und Nikolas Haass hatten ebenfalls mithilfe des ERC New York erreicht. Walter Haass war 23 Jahre alt und hatte bei seiner Einberufung zur Armee angegeben, bevorzugt gegen Deutsche kämpfen zu wollen.152 Er war nicht als Jude verfolgt worden, hatte aber mehr als eine Rechnung mit den Nazis offen. Seine Mutter war außerdem auf der Flucht in Belgien zurückgeblieben. Walter Haass wurde Loewensteins rechte Hand. Er trainierte die Agenten an den Morsefunkgeräten und wurde ›Dispatcher‹ – er begleitete sie im Flugzeug zu ihrem Zielort und beförderte sie durch das Absprungloch in die Tiefe: Go! Da die Flugzeuge massiv von der deutschen Flak beschossen wurden, ging er ebenfalls ein hohes Risiko ein – im April 1945 wurde sein Flugzeug über Österreich getroffen, doch er überlebte seine Fallschirmlandung und die Kriegsgefangenschaft, fiel also keinem der Lynchmorde an notgelandeten alliierten Flugzeugbesatzungen zum Opfer, die auch in den Donau- und Alpengauen häufig vorkamen.153

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      035 Der deutsche Flüchtling Walter Haass bereitete die OSS-Agenten auf ihre Fallschirm-Absprünge vor.

      Dyno Loewenstein ging ganz unmilitärisch an die Planung der Einsätze heran. Seine Beziehung zu den meist jüngeren Agenten erinnert an die sozialistische Reformpädagogik seines Vaters. Joseph Persico erklärte er seinen Ansatz so: »Ich dachte, wenn es mein Job war, diese Männer zu trainieren, hatte ich als Erstes herauszufinden, wie sie ticken. Waren sie geeignet oder nicht geeignet für den Job? Was hatten sie selbst für Vorstellungen? […] Die vorherrschende Tendenz war ja die militärische Denkweise. Der Kommandant sagt dem Mann, was zu tun ist, und er führt es aus. Mein Gefühl war, mit einer Gruppe von hauptsächlich politisch motivierten Menschen kannst du das nicht machen.«154 Loewenstein drehte die Sache um, er animierte seine Leute dazu, sich selbst Gedanken zu machen, die Situationen, in die sie sich begeben würden, auf dem Papier zu entwerfen.

      Von einem frühen Gespräch mit Fred Mayer behielt er, dass dieser ein starkes Bedürfnis nach Rache hatte für alles, was den Juden in Deutschland angetan worden war. Egal was, er wolle etwas tun. Loewenstein erwiderte ihm, dass er sich bei ihm daran gewöhnen müsse, nicht gesagt zu bekommen, was er zu tun habe. Aber wenn er sein Leben einsetzen wolle und so intensiv davon erfüllt sei, solle er sich darüber klar werden, was genau er tun wolle. Mayer kam mit einem Plan, den er mit seinen Freunden besprochen hatte. Sie wollten mit Waffen über dem Konzentrationslager Dachau abgeworfen werden, Gewehre und Pistolen an die Häftlinge verteilen und mit ihnen einen Aufstand im Lager beginnen.

      Loewenstein hielt nichts von diesem Plan. Das Vorhaben erschien ihm als eine sinnlose Aufopferung, die außer zum Tod zu nichts führen würde. Er könne eine solche Aktion nicht unterstützen, erklärte er den jüdischen Agenten. Fred Mayer habe ihn entgeistertert angesehen und sich wohl gedacht, alles Idioten beim OSS, erinnerte sich Loewenstein.

      Joseph Persico hat Fred Mayer zehn Monate später, im Juli 1977, leider nicht gefragt, wie sein Vorschlag, im KZ Dachau einen Aufstand auszulösen, entstanden war. Möglicherweise hatte Mayer die wenigen Berichte wahrgenommen, die über den ohne Hilfe von außen sehr schnell hoffnungslos gebliebenen Aufstand der Juden im Ghetto von Warschau im April 1943 in die Welt gedrungen waren. Seit der polnische Widerstandskämpfer Jan Karski 1942 Informationen aus Polen über die systematische Verfolgung und Ermordung von Juden in den Westen gebracht hatte, wusste man davon: Nicht das ganze Ausmaß der Todesfabriken, aber dass in den Ghettos Menschen massenhaft verhungerten und an Krankheiten starben, dass in Konzentrationslagern systematisch gemordet wurde, war bekannt.

      Die Alliierten verurteilten im Dezember 1942 in einer öffentlichen Erklärung die »bestialische Politik der kaltblütigen Ermordung der Juden« und erklärten, dass diese Ereignisse die Entschlossenheit aller freiheitsliebenden Völker noch verstärken würden, die barbarische Hitler-Tyrannei zu überwinden.155 Darüber hatten alle westlichen Medien berichtet. Doch dann war wieder wenig von den deutschen Verbrechen an den Juden zu hören und zu lesen. Im Juni 1944 berichtete die BBC über die Ermordung von Juden durch Gas im Konzentrationslager Auschwitz, im Juli 1944 verwarfen die britische und die amerikanische Regierung das Ersuchen jüdischer Organisationen, die Eisenbahnlinie von Ungarn nach Auschwitz zu bombardieren. Der Leiter der Rettungsabteilung des Jüdischen Weltkongresses, Leon Kubowitzki, schlug dem Leiter des amerikanischen War Refugee Board und stellvertretenden Finanzminister der Roosevelt-Regierung, John Pehle, vor, die Todesanlagen durch sowjetische Fallschirmjäger oder polnische Untergrundeinheiten zerstören zu lassen – was vom Kriegsministerium abgelehnt wurde.156 Allein war Fred Mayer mit seinen Gedanken also nicht, und vielleicht beunruhigte ihn gerade das Fehlen jeglicher Berichte über ein militärisches Vorgehen der Alliierten gegen die Konzentrationslager so sehr, dass er sich selbst dafür zur Verfügung stellen wollte.

      Doch Dyno Loewensteins Antwort spiegelte die damals auch unter Funktionären jüdischer Organisationen in den USA und Großbritannien vorherrschende Ansicht wider, die bereits in der Erklärung der Alliierten enthalten war: An erster Stelle standen nicht Überlegungen, wie der Massenmord sofort behindert oder gestoppt werden könnte. Oberste