Codename Brooklyn.. Peter Pirker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Peter Pirker
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783702237578
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Das OSS unternahm keine einzige Studie zur deutschen Vernichtungspolitik gegenüber den Juden.157 Fred Mayer hingegen dürfte nichts so absurd erschienen sein wie die Vorstellung, nicht augenblicklich etwas gegen die Konzentrationslager zu unternehmen.

      Als Joseph Persico 1976 mit Dyno Loewenstein über Mayers Dachau-Plan sprach, erschien ihm der Vorschlag absurd, das legt ein ungläubiges Lachen nahe, das im Gespräch zu hören ist. Damals stand die Erinnerung an den Holocaust noch nicht im Zentrum der amerikanischen Öffentlichkeit, wenn es um den Zweiten Weltkrieg ging. Die Wahrnehmung des Judenmords als des zentralen negativen Ereignisses der Kriegsjahre entstand erst, als die Vernichtung der europäischen Juden mit der Fernsehserie Holocaust 1978 zum Medienereignis wurde.158 Fragen nach dem Wissen der Alliierten über die Vernichtungspolitik des NS-Regimes und dem Verhalten der Alliierten wurden erst jetzt von Historikern bearbeitet und breiter diskutiert – Fragen nach dem Ausbleiben von Bombardierungen oder anderen Maßnahmen gegen das KZ-System der Nationalsozialisten erschienen nun keineswegs mehr absurd, sondern berechtigt und hochmoralisch. Die Antworten, die Historiker in den Archiven fanden, lösten Scham aus: Die Alliierten hatten trotz immer klarer werdender Informationen über den Massenmord an den Juden in den Jahren 1943 und 1944 keine gezielten Anstrengungen unternommen, die Gleise nach Auschwitz zu zerstören oder andere Maßnahmen gegen das KZ-System zu ergreifen.

      In der Perspektive der militärischen Geheimdienste spielten Rettungs- und Hilfsaktionen für Verfolgte so gut wie keine Rolle. Ihre Aufgabe war es, durch das Sammeln von militärisch nützlichen Nachrichten und die Unterstützung von Widerstand einen Beitrag zum militärischen Sieg zu leisten. Was Widerstand ausmachte, war relativ klar definiert und in der Bedeutung hierarchisch geordnet. An der Spitze stand der bewaffnete militärische Kampf organisierter Partisanen und die gezielte Sabotage militärisch relevanter Infrastruktur, dann kam die konkrete Unterstützung dafür etwa durch die Weitergabe lohnender Bombardierungsziele, die Kooperation mit den Alliierten. Auf der untersten Stufe stand oppositionelles Verhalten im Sinn von passivem Widerstand, unauffälliger und alltagsbezogener Sabotage, dem Verbreiten regimekritischer Nachrichten und Gerüchten oder dem Abhören alliierter Radiosender. Zivile und humanitäre Formen des Widerstands, etwa das Verstecken von Juden und Jüdinnen und Hilfe für KZ-Häftlinge oder Zwangsarbeiter, spielten in dieser Perspektive eine geringe Rolle. Rettungs- und Hilfsaktionen westlicher Geheimdienste blieben eine seltene Ausnahme. Die SOE führte mit der Jewish Agency, der Interessenvertretung der Juden in Palästina, einige Einsätze in Osteuropa durch. Das OSS lehnte entsprechende Anfragen jedoch ab.159 Der einzige Maßstab des Handelns blieben der Nutzen für die alliierte Kriegsführung und die Loyalität dazu. Je eher die Alliierten siegten, desto eher war das Grauen in den Konzentrationslagern zu Ende. Diese Prioritäten machte Dyno Loewenstein Fred Mayer irgendwann im September 1944 mit wenigen Sätzen klar. Mayer blieb nicht viel anderes übrig, als es zu akzeptieren.

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      036 Karte mit den Eisenbahnlinien, die das ns-Regime für die Deportationen nach Auschwitz nutzte (nach: Martin Gilbert : Atlas of the Holocaust, Jerusalem 1982).

      Zu überlegen war nun, auf welche Weise kleine Einsatzgruppen einen möglichst effektiven Beitrag zu einem raschen Sieg über Deutschland leisten konnten. Der Aktionsradius wurde auf Österreich und Süddeutschland eingeschränkt – Einsätze weiter nördlich wurden von der OSS-Zentrale in London und in Bern geplant. Dann wurden Teams gebildet: Hans Wijnberg und Fred Mayer, bereits eng befreundet, verständigten sich darauf, gemeinsam in Aktion zu gehen. Wijnberg war ein exzellenter Funker, damit waren die Aufgaben festgelegt. Mayer würde das Team führen, Wijnberg die Kommunikation übernehmen.

      In Loewensteins Augen ergänzten sich die beiden gut. Wijnberg erschien ihm als ein mitfühlender Charakter, der auf den ersten Blick sogar kindlich wirkte. Er war sicher bereit, notfalls zu töten, würde es aber vorziehen, möglichst wenig Gewalt anzuwenden – ein Ausgleich zu Mayers stürmischem, furchtlosem und grenzüberschreitendem Wesen, das er auch in Bari an den Tag legte. Er schnappte sich von der Militärpolizei einen Jeep, organisierte irgendwo einen Generator, um die Villa Suppa mit Strom auszustatten, und brachte einen Filmprojektor zuwege, um sich nach den Besprechungen mit Dyno Loewenstein und den Trainingseinheiten ein wenig Unterhaltung zu verschaffen.

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      037 Fred Mayer und Hans Wijnberg, Bari, Herbst 1944.

      Die Villen, die OSS und SOE in Bari und Umgebung zur Vorbereitung von Spezialeinsätzen in Italien, Österreich und Jugoslawien nutzten, waren gut geschützt – die Villa Suppa bewachten zunächst italienische Wachmänner, Anfang Dezember wurden sie durch fünf Chinesen ersetzt. Auch wenn es in manchen Darstellungen den Anschein hat – um eine süditalienische Idylle handelte es sich in Bari gewiss nicht: Der in Verona stationierte Befehlshaber des deutschen Sicherheitsdiensts, SS-Gruppenführer Wilhelm Harster, setzte Agenten auf die alliierten Schulen an. Die Operationen unter dem Codenamen ›Zypresse‹ leitete SS-Sturmbannführer Otto Begus, der uns bereits in Frankreich begegnet und nach Einsätzen in Griechenland nach Verona beordert worden war. Begus war ein Spezialist für die Infiltration von Agenten in feindliche Widerstandsorganisationen. Doch seine italienischen und deutschen Agenten, gekleidet in britische und amerikanische Uniformen, gingen der britischen Spionageabwehr in die Fänge. Einer ihrer Aufträge war, die alliierten Sabotageschulen in Bari und Brindisi auszuspionieren, die Namen der deutschen und italienischen Rekruten herauszufinden und Widerstandsführer zu ermorden.160

      Von alldem bekamen Fred Mayer und Hans Wijnberg nichts mit. Was ihnen für einen Einsatz fehlte, war ein konkretes Ziel und jemand, der aus Österreich kam oder in den letzten Jahren dort gewesen war, unter dem NS-Regime gelebt hatte, den Alltag und die Leute kannte. Viel Auswahl gab es da nicht – die ehemaligen Flüchtlinge in den Reihen des OSS hatten Deutschland oder Österreich bereits in den 1930er-Jahren verlassen, kaum einer hatte mehr als einige Monate unter dem Regime gelebt, niemand während des Krieges. Nach Jahren der Abwesenheit Bekannte zu suchen und zu finden war kaum möglich, im Fall von Juden noch weniger. Infrage kam im Grunde nur ein österreichischer oder deutscher Kriegsgefangener – jemand, der bis vor kurzem für die Nazis gekämpft hatte. Um sich damit anzufreunden, musste sich Mayer Zeit nehmen und nachdenken. Schließlich verständigte er sich mit Loewenstein auf diese Vorgangsweise: Der richtige Mann würde das Ziel mitbringen.

      Im Oktober 1944 gestalteten Ulmer und Loewenstein die unmittelbare technische, nachrichtendienstliche und körperliche Vorbereitung der Agenten auf ihre Einsätze von Grund auf neu. Sie bestellten Lieutenant Jules Konig zum Stationskommandanten für die Villa Suppa und die Villa Pasqua, wo die Agenten untergebracht waren.161 Konig war aus Belgien geflohen, von Beruf ursprünglich Diamantenschleifer und seit mehr als einem Jahr Ausbildner an OSS-Schulen in den USA. Er war erst kürzlich in Bari eingetroffen. Konig kannte die Gefahr des Übertrainierens der Agenten. So klopfte er als Erstes ab, was die Agenten bis zum Überdruss geübt hatten und wo es Mängel gab. Seinem Eindruck nach waren sie durchwegs hartgesottene, in vielen Kriegstechniken ausgebildete Soldaten. Mängel sah er in der Praxis der geheimen Nachrichtensammlung und -übermittlung. Den Schwerpunkt legte er daher auf die Identifikation militärisch und politisch relevanter Daten und die Verwendung eines kompakten und unmissverständlichen Wortlauts für die Übermittlung der Informationen an die Funkstelle in Bari. Um das praktisch zu üben, zog Konig einen Offizier der OSS-Funkstelle in Bari hinzu, der den Agenten genaues Feedback zu ihren Übungsmeldungen gab. Auch Konig vermied Frontalunterricht, ließ die Agenten vormittags in den gebildeten Teams üben. Zudem wurden für jedes Team die fallspezifischen Modalitäten der Funksendungen erarbeitet und festgelegt. Aufgefrischt wurde das Erkennen von militärischen Geräten, von Flugzeugen und Fahrzeugen, dafür war Dyno Loewenstein ein Experte. Nachmittags übten sie Orientierung mit Karten und Luftaufnahmen, Messerkampf, Schießen.

      Die Atmosphäre beschrieben die Agenten später als wenig militärisch, als locker und ungezwungen – ein wenig klingen die Erinnerungen so, als wäre die Villa Suppa eine Art Gegenwelt zum Militär gewesen. Abends hatten sie frei, sahen sich Filme an und manchmal fuhren sie nach Bari in die Oper. Hans Wijnberg hatte seine Chemiebücher dabei, er hatte viel Zeit, darin zu schmökern. Anfang Dezember wurden